Zeiten des Lebens. Von der Lust sich zu wandeln

SINGER Christiane: Zeiten des Lebens. Von der Lust sich zu wandeln. 2007.

Abstract

SINGER, Christiane: „Zeiten des Lebens. Von der Lust sich zu wandeln“, München; französische Erstausgabe Paris 1983 (bisher 14. Auflagen)
Frau Singer – sie heißt im echten Namen Gräfin Thurn-Valsassina – beschreibt den Weg von der Geburt (und davor) bis zum Tod. Eine sehr kluge, vornehme und intellektuelle Frau. Im Jahr 2006 haben wir sie in Pernegg im Waldviertel kennen gelernt. Sie empfahl mir damals ihre Bücher in Französisch zu lesen; da seien sie besser. Obwohl Französin wohnte sie einen Teil ihres Lebens in einer Burg im nördlichen Österreich. Ihr Auftritt bei der GlobArt Academie im Sommer 2006 war einer ihrer letzten öffentlichen Auftritte. Einige Monate später starb sie. Mit solch großartigen Texten lebt sie weiter.
Hier einige Auszüge:
Einleitung
„Beim reinen Lauschen auf die Stille trifft man in unseren Breiten kaum jemanden an – außer vielleicht ein paar Künstler oder Kunsthandwerker, jene unverbesserlichen Primitiven, und hie und da eine Hausfrau und Familienmutter, die sich verlaufen haben muss, einen Verliebten, einen Postangestellten, einen Handelsvertreter oder vielleicht ein paar andere, die auf Grund eines unbegreiflichen Zufalls vergessen haben, eine Vollkasko-Versicherung gegen das Leben abzuschließen.“
Das Leben im Mutterleib, die Geburt, das Neugeborene:
„Die Hälfte unseres Lebens ist geschnitten aus ein und demselben dunklen und kostbaren Obsidian: das Weilen im Mutterleib, die täglichen Nächte und der Tod.
… Wer immer behauptet, er erinnere sich nicht bis in die Zeit vor seiner Geburt zurück, hat mir stets den Anschein erweckt, als würde er lügen.
Habe ich nicht jeden Morgen, wenn ich meine Bettdecke von mir stoße, wenn ich mich wohl oder übel zu einem Neubeginn entschließe, die Möglichkeit, wieder meinen ersten Vorstoß zum Licht zu erleben?
… Es gibt heute Frauen, denen die Schwangerschaft, das Tragen eines Kindes, eine Last bedeutet. Warum wir und nicht die Männer, fragen sie sich …. weil die Götter sich die Frauen zu ihren Verbündeten erwählt haben.
… Es sei mir gestattet, Dich, dem Leser, noch einen Augenblick im Bauch Deiner Mutter zurückzuhalten!
In ihrem Innern schlägt ununterbrochen ein nahes Herz – und ganz dicht bei Dir vollzieht sich das wilde Wunder der zermahlenden und zersetzenden Verdauung – und die Verwandlung der Nahrung in lebendige Kraft, deren substanzenreiches Elexier in Dich eintropft. Hin und wieder kommt sogar wie eine heiße, harte Schnauze das Geschlecht Deines Vaters gegen die schützende Wand Deiner Höhle gestoßen.“
Die frühe Kindheit:
„Das Kind erfindet sich seine eigene Kosmogonie.
… Diejenigen, die um den Geschichtenerzähler herum hocken, sind nicht mehr dieselben, wenn die Geschichte zu Ende ist und sie aufstehen und sich entfernen. Die Geschichte entlässt ihre Zuhörer nie an dem Ort, an dem sie sie aufgegriffen hat – sondern an einer hlher gelegenen und weiter entfernten Stelle.
Ein Plädoyer für das Heranwachsenlassen:
„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stund`. Das Geborenwerden und das Sterben, das Steine werfen und das Auflesen der Steine, das Zusammennähen und das Zerreißen, das Umarmen und das Lösen der Umarmung. Und auch die Jungfräulichkeit hat seine Zeit.
Die Jugend:
„… wirkt sich die übertriebene Sorge gewisser Erwachsenen aus, die in dem Wahn leben, sie müssten den jungen Menschen die Brandwunden des Scheiterns, der Irrtümer und Irrwege ersparen. Gibt es einen schlimmeren Fehler als den, einem Menschen, den wir zu lieben glauben, das Leben zu ersparen?“
Das Erwachsenenalter:
Es „dauert zweiundvierzig Jahre lang, vom einundzwanzigsten bis zum dreiundsechzigsten Lebensjahr…
… Das Erwachsenenalter hält die Zügel der Welt.“
Das Alter:
„… Man muss sich entscheiden können … Entweder Du stirbst ganz, wozu Du auf bestem Wege bist, mit all Deinen Zähnen und all Deinen Haaren und bist in den Armen des Todes noch so schön wie in den Armen der Liebe … Oder aber Du scheidest Stück um Stück dahin, ein Zahn nach dem andern, ein Haar nach dem andern, Du tauschst das Zarte gegen das Grobe, das Glatte gegen das Runzlige…
… Denn in dieser letzten Episode unseres Erdenlebens spielen zwei Geigen zum Tanz auf: der Geist und die Vorstellungskraft.
… Warum sollte ich kein Vertrauen haben zu meiner letzten Inkarnation, zu jener, die mich in den Augen der anderen und in meinen eigenen als alte Frau erscheinen lassen wird?
… Dabei sind wir zu einer Gewissheit gelangt – nämlich zu der, dass es wichtig ist, die Verstorbenen nicht zu früh zu verlassen, ihnen einige Tage Beistand zu gewähren, wie es die zahlreichen Bräuche aller Kulturen der Menschheit verlangen. Wem wäre noch nicht aufgefallen, wie barbarisch die Krankenhaustode sind, die Art, wie man über die noch warmen Körper einfach Laken deckt und die Eisenbetten quietschend zu den Türen von Tiefkühldepots rollt, die krachend zugeschlagen werden?
Gräfin Thurn-Valsassina hat dieses Buch im Alter von 40 Jahren geschrieben, ohne zu wissen, dass sie selbst mit 63 sterben wird.
(Kavalla, 03.08.2007)

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    „Beim reinen Lauschen auf die Stille trifft man in unseren Breiten kaum jemanden an – außer vielleicht ein paar Künstler oder Kunsthandwerker, jene unverbesserlichen Primitiven, und hie und da eine Hausfrau und Familienmutter, die sich verlaufen haben muss, einen Verliebten, einen Postangestellten, einen Handelsvertreter oder vielleicht ein paar andere, die auf Grund eines unbegreiflichen Zufalls vergessen haben, eine Vollkasko-Versicherung gegen das Leben abzuschließen.“
    Das Leben im Mutterleib, die Geburt, das Neugeborene:
    „Die Hälfte unseres Lebens ist geschnitten aus ein und demselben dunklen und kostbaren Obsidian: das Weilen im Mutterleib, die täglichen Nächte und der Tod.
    … Wer immer behauptet, er erinnere sich nicht bis in die Zeit vor seiner Geburt zurück, hat mir stets den Anschein erweckt, als würde er lügen.
    Habe ich nicht jeden Morgen, wenn ich meine Bettdecke von mir stoße, wenn ich mich wohl oder übel zu einem Neubeginn entschließe, die Möglichkeit, wieder meinen ersten Vorstoß zum Licht zu erleben?
    … Es gibt heute Frauen, denen die Schwangerschaft, das Tragen eines Kindes, eine Last bedeutet. Warum wir und nicht die Männer, fragen sie sich …. weil die Götter sich die Frauen zu ihren Verbündeten erwählt haben.
    … Es sei mir gestattet, Dich, dem Leser, noch einen Augenblick im Bauch Deiner Mutter zurückzuhalten!
    In ihrem Innern schlägt ununterbrochen ein nahes Herz – und ganz dicht bei Dir vollzieht sich das wilde Wunder der zermahlenden und zersetzenden Verdauung – und die Verwandlung der Nahrung in lebendige Kraft, deren substanzenreiches Elexier in Dich eintropft. Hin und wieder kommt sogar wie eine heiße, harte Schnauze das Geschlecht Deines Vaters gegen die schützende Wand Deiner Höhle gestoßen.“
    Die frühe Kindheit:
    „Das Kind erfindet sich seine eigene Kosmogonie.
    … Diejenigen, die um den Geschichtenerzähler herum hocken, sind nicht mehr dieselben, wenn die Geschichte zu Ende ist und sie aufstehen und sich entfernen. Die Geschichte entlässt ihre Zuhörer nie an dem Ort, an dem sie sie aufgegriffen hat – sondern an einer hlher gelegenen und weiter entfernten Stelle.
    Ein Plädoyer für das Heranwachsenlassen:
    „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stund`. Das Geborenwerden und das Sterben, das Steine werfen und das Auflesen der Steine, das Zusammennähen und das Zerreißen, das Umarmen und das Lösen der Umarmung. Und auch die Jungfräulichkeit hat seine Zeit.
    Die Jugend:
    „… wirkt sich die übertriebene Sorge gewisser Erwachsenen aus, die in dem Wahn leben, sie müssten den jungen Menschen die Brandwunden des Scheiterns, der Irrtümer und Irrwege ersparen. Gibt es einen schlimmeren Fehler als den, einem Menschen, den wir zu lieben glauben, das Leben zu ersparen?“
    Das Erwachsenenalter:
    Es „dauert zweiundvierzig Jahre lang, vom einundzwanzigsten bis zum dreiundsechzigsten Lebensjahr…
    … Das Erwachsenenalter hält die Zügel der Welt.“
    Das Alter:
    „… Man muss sich entscheiden können … Entweder Du stirbst ganz, wozu Du auf bestem Wege bist, mit all Deinen Zähnen und all Deinen Haaren und bist in den Armen des Todes noch so schön wie in den Armen der Liebe … Oder aber Du scheidest Stück um Stück dahin, ein Zahn nach dem andern, ein Haar nach dem andern, Du tauschst das Zarte gegen das Grobe, das Glatte gegen das Runzlige…
    … Denn in dieser letzten Episode unseres Erdenlebens spielen zwei Geigen zum Tanz auf: der Geist und die Vorstellungskraft. 
    … Warum sollte ich kein Vertrauen haben zu meiner letzten Inkarnation, zu jener, die mich in den Augen der anderen und in meinen eigenen als alte Frau erscheinen lassen wird?
    … Dabei sind wir zu einer Gewissheit gelangt – nämlich zu der, dass es wichtig ist, die Verstorbenen nicht zu früh zu verlassen, ihnen einige Tage Beistand zu gewähren, wie es die zahlreichen Bräuche aller Kulturen der Menschheit verlangen. Wem wäre noch nicht aufgefallen, wie barbarisch die Krankenhaustode sind, die Art, wie man über die noch warmen Körper einfach Laken deckt und die Eisenbetten quietschend zu den Türen von Tiefkühldepots rollt, die krachend zugeschlagen werden?
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