Abstract
RUDIS, Jaroslav: „Winterbergs letzte Reise“, München 2019
Ein Pfleger fährt mit einem 99-jährigen Greis mit dem Zug durch Europa. Der alte Mann will nochmals alte Erinnerungen auffrischen. Einerseits liebt er – so scheint es zu Beginn – ehemalige Schlachtfelder wie Königgrätz und Austerlitz, die er besuchen will. Aber letztlich stellt sich heraus, dass er dem Fluchtweg seiner Geliebten folgen will. Sie war eine Jüdin und musste im Dritten Reich fliehen. Seine Familie goutierte den Umgang mit diesem Mädchen nicht. Er versprach seiner Geliebten ihr zu folgen, was er letztlich nicht tat. Im hohen Alter kommen das Schuldgefühl und die verflossene Liebe zurück. Er sucht die Strecke ab. Als Fortbewegungsmittel verwenden sie ausschließlich die Eisenbahn. Dabei geht es nicht um Reisegeschwindigkeit, wie so oft in der heutigen Zeit: „Alle wollen schnell am Ziel sein, doch wozu? Ich hasse schnelle Züge, ja, ja, am liebsten würde ich nur mit Lokalbahnen reisen.“ (Seite 447) Die befahrenen Strecken sind auch sehr detailliert beschrieben. Jeder Tunnel und jede Brücke werden angeführt. Deshalb kann ich das Buch speziell Eisenbahnfans empfehlen. Aber auch für „normale Reisende“ ist es nicht uninteressant. Allen großen europäischen Eisenbahnpionieren wie Ritter von Ghega wird gedacht. Neben den Eisenbahnen sind es die Krematorien, denen viel Platz gewidmet wird. Selbst Parallelen zwischen den Feuerhallen und der Eisenbahn und den Dampflokomotiven werden hergestellt. Krematorien werden als Fortschritt und modern gegenüber der traditionellen Erdbestattung dargestellt.
Erstaunlich ist das ausgezeichnete Geschichts- und Geographiewissen des Autors. Nicht allgemein bekannte Dinge werden aufgezeigt. Ein Geschichtsbuch. Bedingt ist dies auch darin, dass der alte Mann einen Baedeker Reiseführer aus dem angehenden 20. Jahrhundert verwendet. Viele angegebene Hotels existieren nicht mehr. Bahnhöfe sehen anders aus. Und so wird es ein Geschichtsbuch, ein Zurückdrehen der Zeit zum Beginn des 20. Jahrhunderts, aber erlebt im 21. Jahrhundert.
Interessant auch der Stil des Autors. Viele Stehsätze wiederholen sich im Buch. Zu Beginn erschien mir das beim Lesen lästig. Zunehmend empfand ich sie aber als nett. Stehsätze wie „Unterbrechen sie mich nicht“, obwohl der Pfleger Nichts gesagt hatte. Oder „Wo bin ich hängengeblieben?“ Typische Redewendungen eines alten Mannes. Trotz seines hohen Alters zeigt er weiterhin Interesse an Frauen und findet sich nicht als „durchsichtig“, wobei er mit diesem Wort meint, dass er von Frauen nicht registriert würde.
Der Pfleger, dessen Beruf es ist Menschen so lange zu versorgen bis sie sterben, muss all diese Sterbefälle – er nennt sie „Überfahrten“ seelisch verkraften und sucht Zuflucht im Alkohol. Die Auswirkungen sind: „Mir war schlecht, in meinem Kopf dröhnten Hunderte von Bohrmaschinen und ich musste an meinen Vater denken, der immer sagte, der Kater ist die einzige Sicherheit, die man in Böhmen hat. Die einzige Sicherheit, die uns niemand wegnehmen kann. Das ganze Land kann besetzt sein. Das ganze Land kann wieder frei sein. Wir sollten kämpfen. Wir sollten feiern. Doch wir sind immer verkatert und so machen wir gar nichts. Denn wir sind verkatert, und das Einzige, was wir machen können, ist, das nächste Bier trinken.“ (Seite 191/192)
Der ganze Roman wird aus der Sicht des Pflegers dargestellt. Dialoge finden primär zwischen dem alten Mann und seinem Pfleger statt. Ausgenommen sind spontane Treffen auf der Reise und der Kontakt mit der Tochter des zu Pflegenden.
Die über 500 Seiten sind eine lange Wegstrecke zum Lesen, aber zunehmend wird man in den Bann gezogen. Immer wieder aufgelockert durch gute Formulierungen. So meint er, dass die Bezeichnung „Donaumonarchie“ für die „Österreichisch-Ungarische Monarchie“ nicht richtig sei, weil es auch andere wichtige Flüsse gegeben hat. Er schlägt daher den Begriff „Elbemoldaudonausavebosnamonarchie“ vor.
Das Ziel der Reise sollte Sarajevo sein. Nachdem man nach Sarajevo nicht oder nur schwer mit dem Zug kommt endet die Reise in Zagreb. Die Beiden fahren nach Berlin zurück und von dort an die Ostsee, wo der alte Mann im Krieg Lokomotivführer war und sich der Raketen-Teststation des Dritten Reichs erinnert. Dort endet auch die Reise und wahrscheinlich – direkt wird es nicht angesprochen – das Leben des fast Hundertjährigen.
Links
BibTeX (Download)
@book{RUDIS2020, title = {Winterbergs letzte Reise}, author = {Jaroslav RUDIS}, year = {2020}, date = {2020-01-19}, abstract = {RUDIS, Jaroslav: „Winterbergs letzte Reise“, München 2019 Ein Pfleger fährt mit einem 99-jährigen Greis mit dem Zug durch Europa. Der alte Mann will nochmals alte Erinnerungen auffrischen. Einerseits liebt er – so scheint es zu Beginn – ehemalige Schlachtfelder wie Königgrätz und Austerlitz, die er besuchen will. Aber letztlich stellt sich heraus, dass er dem Fluchtweg seiner Geliebten folgen will. Sie war eine Jüdin und musste im Dritten Reich fliehen. Seine Familie goutierte den Umgang mit diesem Mädchen nicht. Er versprach seiner Geliebten ihr zu folgen, was er letztlich nicht tat. Im hohen Alter kommen das Schuldgefühl und die verflossene Liebe zurück. Er sucht die Strecke ab. Als Fortbewegungsmittel verwenden sie ausschließlich die Eisenbahn. Dabei geht es nicht um Reisegeschwindigkeit, wie so oft in der heutigen Zeit: „Alle wollen schnell am Ziel sein, doch wozu? Ich hasse schnelle Züge, ja, ja, am liebsten würde ich nur mit Lokalbahnen reisen.“ (Seite 447) Die befahrenen Strecken sind auch sehr detailliert beschrieben. Jeder Tunnel und jede Brücke werden angeführt. Deshalb kann ich das Buch speziell Eisenbahnfans empfehlen. Aber auch für „normale Reisende“ ist es nicht uninteressant. Allen großen europäischen Eisenbahnpionieren wie Ritter von Ghega wird gedacht. Neben den Eisenbahnen sind es die Krematorien, denen viel Platz gewidmet wird. Selbst Parallelen zwischen den Feuerhallen und der Eisenbahn und den Dampflokomotiven werden hergestellt. Krematorien werden als Fortschritt und modern gegenüber der traditionellen Erdbestattung dargestellt. Erstaunlich ist das ausgezeichnete Geschichts- und Geographiewissen des Autors. Nicht allgemein bekannte Dinge werden aufgezeigt. Ein Geschichtsbuch. Bedingt ist dies auch darin, dass der alte Mann einen Baedeker Reiseführer aus dem angehenden 20. Jahrhundert verwendet. Viele angegebene Hotels existieren nicht mehr. Bahnhöfe sehen anders aus. Und so wird es ein Geschichtsbuch, ein Zurückdrehen der Zeit zum Beginn des 20. Jahrhunderts, aber erlebt im 21. Jahrhundert. Interessant auch der Stil des Autors. Viele Stehsätze wiederholen sich im Buch. Zu Beginn erschien mir das beim Lesen lästig. Zunehmend empfand ich sie aber als nett. Stehsätze wie „Unterbrechen sie mich nicht“, obwohl der Pfleger Nichts gesagt hatte. Oder „Wo bin ich hängengeblieben?“ Typische Redewendungen eines alten Mannes. Trotz seines hohen Alters zeigt er weiterhin Interesse an Frauen und findet sich nicht als „durchsichtig“, wobei er mit diesem Wort meint, dass er von Frauen nicht registriert würde. Der Pfleger, dessen Beruf es ist Menschen so lange zu versorgen bis sie sterben, muss all diese Sterbefälle – er nennt sie „Überfahrten“ seelisch verkraften und sucht Zuflucht im Alkohol. Die Auswirkungen sind: „Mir war schlecht, in meinem Kopf dröhnten Hunderte von Bohrmaschinen und ich musste an meinen Vater denken, der immer sagte, der Kater ist die einzige Sicherheit, die man in Böhmen hat. Die einzige Sicherheit, die uns niemand wegnehmen kann. Das ganze Land kann besetzt sein. Das ganze Land kann wieder frei sein. Wir sollten kämpfen. Wir sollten feiern. Doch wir sind immer verkatert und so machen wir gar nichts. Denn wir sind verkatert, und das Einzige, was wir machen können, ist, das nächste Bier trinken.“ (Seite 191/192) Der ganze Roman wird aus der Sicht des Pflegers dargestellt. Dialoge finden primär zwischen dem alten Mann und seinem Pfleger statt. Ausgenommen sind spontane Treffen auf der Reise und der Kontakt mit der Tochter des zu Pflegenden. Die über 500 Seiten sind eine lange Wegstrecke zum Lesen, aber zunehmend wird man in den Bann gezogen. Immer wieder aufgelockert durch gute Formulierungen. So meint er, dass die Bezeichnung „Donaumonarchie“ für die „Österreichisch-Ungarische Monarchie“ nicht richtig sei, weil es auch andere wichtige Flüsse gegeben hat. Er schlägt daher den Begriff „Elbemoldaudonausavebosnamonarchie“ vor. Das Ziel der Reise sollte Sarajevo sein. Nachdem man nach Sarajevo nicht oder nur schwer mit dem Zug kommt endet die Reise in Zagreb. Die Beiden fahren nach Berlin zurück und von dort an die Ostsee, wo der alte Mann im Krieg Lokomotivführer war und sich der Raketen-Teststation des Dritten Reichs erinnert. Dort endet auch die Reise und wahrscheinlich – direkt wird es nicht angesprochen – das Leben des fast Hundertjährigen. }, keywords = {Altenpflege, Böhmen, Österreichisch-Ungarische Monarchie, Zugreise}, pubstate = {published}, tppubtype = {book} }