Abstract
SCHOLL, Susanne: „Wachtraum“, Salzburg Wien 2017
Vergangenheitsbewältigung wird von der nachfolgenden Generation betrieben. Die Judenverfolgung wird hier von einer Autorin mit einer sehr persönlichen Familiengeschichte dargestellt. Eine nach dem Krieg Geborene erzählt von ihren jüdischen Großeltern und Eltern, aber auch von ihren Kindern und Enkelkindern.
Aus der Position, der nach dem Krieg geborenen Lea wird der Bogen von der Judenverfolgung des Hitlerregimes mit der Flüchtlingswelle des beginnenden 21. Jahrhunderts gezogen. Lea sieht in ihren Kindern, wie sie sich für die ankommenden Asylanten engagieren und sieht dabei ihre Eltern und Großeltern, wie sie flüchten mussten.
Lea studierte Geschichte um die Vergangenheit ihrer Großeltern zu erforschen. Durch eine Freundin der Großmutter kommt sie zu einem Dissertationsthema. Eine Frau, die als Kind aus dem Warschauer Ghetto flüchtete, Jahrelang im Wald überlebte, von den sowjetischen Soldaten aufgegriffen wurde, mit einem Gefangenentransport in den Westen kam und sich so bis Israel durchschlug, wo sie den Rest ihres Lebens in einem Kibbuz verbrachte.
Das ist eine der vielen Geschichten in diesem Roman. Genauso wird auch das Leben der Eltern auf der Flucht aus Wien, der Emigration in England und ihre Rückkehr nach Österreich erzählt.
Mit den eigenen Kindern und ihrer Verschiedenheit setzt sie sich aus der Sicht einer Mutter auseinander, die glaubt alle ihre Kinder gleich behandelt zu haben, gleich erzogen zu haben und trotzdem wurden sie sehr unterschiedlich. Der konservative und emotionell kalte älteste Sohn, der Bankmanager wurde; die Tochter, die schon als kleines Kind wusste, dass sie Ärztin werden will und das auch durchgezogen hat. Im Fach der Unfallchirurgie erzeugt sie einen sehr positiven Zugang zu ihren Patienten. Sie liebt ihren Beruf. Sie engagiert sich in der Flüchtlingsfrage und verzweifelt arbeitet sie letztlich in Afrika.
Obwohl Lea dann doch feststellen muss, dass die Kinder schon als Kinder unterschiedlich waren. Der Älteste war sehr von ihr abhängig. Das Mädchen dagegen unkompliziert. „Mimi war ein so einfaches Kind gewesen. Sie ließ Lea schlafen, sie weinte nur ganz selten, wenn ihr der Bauch wehtat oder ein Zahn sich gerade seinen Weg bahnte. Die meiste Zeit lachte sie in die Welt und war guter Dinge.“ (Seite 149)
Scholl zieht einen Vergleich zwischen den im Dritten Reich geflüchteten Juden und den heutigen Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und Afrika. Sachlich zeigt sie aber auch die Unterschiede auf. Juden haben im Zug ihr Land verlassen. England hat sie aufgenommen, weil sie billige und gebrauchte Arbeitskräfte waren. Heutige Flüchtlinge reisen abenteuerlich und lebensgefährlich. In Europa gibt es zu wenig Arbeitsplätze und für Neuangekommenen noch weniger. Es ist schwer für die Europäer zwischen Kriegsflüchtlingen und Terroristen zu unterscheiden. Voreingenommenheit habe da einen Nährboden. Selbst die aufgeschlossene Lea muss da wohl zweifeln, als ihr geliebter jüngster Sohn bei einem Anschlag auf einen Pariser Konzertsaal ums Leben kommt und gleichzeitig ihre Tochter in einen afghanischen Flüchtling verliebt ist.
Das Finale (ein großartiges) ist das letzte Kapitel über Lea. Hier gibt sie ihre Überlegungen und Zweifel frei. Was wäre, wenn ihre Großeltern in England nicht aufgenommen worden wären? Sie würde gar nicht existieren. Sie gesteht sich ihre Hilflosigkeit ein. Sie konnte ihren Sohn nicht schützen – oder hat sie ihn durch ihre Gedanken beeinflusst, dass es so kommen musste? Sie zweifelt. „Ich habe keine Worte mehr. Ich habe Angst und bin hilflos.“ (Seite 214) Ein dramatisches Ende. Der Mann zog aus und auch sie verlässt die Wohnung ohne zu wissen wohin.
Ich habe alle Bücher von Susanne Scholl gelesen, aber – ohne die vorangegangenen schmälern zu wollen – ist es ihr bester Roman. Er ist sehr tiefgreifend, emotional und doch historisch. Er bringt Verständnis für die nachkommenden Generationen und ruft für die älteren vieles in Erinnerung.
Auch ihr Schreibstil ist anders geworden. Sie verwendet kürzere Sätze und drückt dadurch alles sehr prägnant aus.
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