UR und andere Zeiten

TOKARCZUK, Olga: Spiel auf vielen Trommeln. 2019.

Abstract

TOKARCZUK, Olga: „Spiel auf vielen Trommeln – Erzählungen“, Berlin 2006
Die frischgebackene Nobelpreisträgerin stellt sich in diesem 2006 erschienen Buch mit Geschichten vor und stellt damit unter Beweis, dass sie eine ausgezeichnete Erzählerin ist. Sechs werden in diesem Buch vorgestellt. Jede ist ein Lesevergnügen.
In der Geschichte „Das Subjekt“ wird ein Dichter vorgestellt, dem ein Spiegelbild gegenübersteht. Ein Double, das anders ist als er selbst und doch viele eigene Eigenschaften widerspiegelt.
In der „Eroberung von Jerusalem, Raten 1675“ lässt ein reicher Adeliger in seinem Schloss von Bauern als Schauspieler die Eroberung Jerusalems während der Kreuzzüge nachspielen. Dazu lädt er Gäste ein, die das Schauspiel verfolgen.
In „Brado. Die Weihnachtskrippe“ wird einerseits eine kleine Stadt im Sudentenland vorgestellt und andererseits eine riesige Weihnachtskrippe, die über mehrere Jahrhunderte hinweg ergänzt, geändert und modernisiert wurde, beschrieben, obwohl diese bei einem Unwetter durch Einsturz des Dachs umgekommen war. Sie war schon zu einem riesigen Ungetüm geworden, das zu pflegen und in Betrieb zu halten schwierig wurde. Eine Frau, die im Zuge des Zweiten Weltkriegs ihren Mann und dann auch ihr Kind verloren hatte, widmete den Rest ihres Lebens dieser Krippe. Sie baut selbst Krippenteile und scheut auch nicht davor zurück in die 2000 Jahre alte Szene der Geburt Jesu zeitgenössische Szenen hinzuzufügen. So kamen auch Kriegsszenen und moderne Begebenheiten in die Krippe. Sie existiert nicht mehr, aber die Dichterin lässt sie in dieser Geschichte wiederaufleben.
„Spiel auf vielen Trommeln“ gab diesem Buch den Titel. Eine Frau – sie stellt sich zu Beginn der Geschichte selbst vor und beschreibt ihre Person – zieht in eine Stadt und beschreibt diese. Sie beruft sich auf die Behauptung, dass zwischen Menschen und Orten ein Zusammenhang besteht; dass Städte Menschen beeinflussen. Als Beispiele nennt sie Paris, wo man raffinierter wird und New York, wo Menschen konkreter werden. Sie dürfte aus einem anderssprachigen Land in diese Stadt gezogen sein, denn sie besucht einen Sprachkurs und beschäftigt sich bei dieser Schilderung in einem Diskurs mit dem „Jetzt“. „Daß „jetzt“ nämlich „nie wieder“ heißt. „Jetzt“ heißt, daß das, was ist, in genau demselben Moment aufhört zu existieren, zerbröckelt wie eine morsche Treppenstufe. Es ist ein furchtbarer, erschreckender Begriff, der die ganze grausame Wahrheit enthüllt.“ (Seite 91) Das „Jetzt“ sei ein Privileg des Menschen. „Deshalb habe man die Sprache ersonnen – um die Übertragung von Ereignissen aus der Vergangenheit in die Zukunft zu kontrollieren und damit Macht über die Zeit zu haben, um die Zeit anzuhalten, und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick, in dem man in der vollen Bedeutung sagen kann „ich bin“.“ Die Proponentin dieser Geschichte dürfte vom Land in die Stadt gezogen sein, denn die Verschiedenheit der Menschen beeindruckt sie und verführt sie dazu sich selbst immer wieder unterschiedlich der Stadt zu präsentieren. Einmal als Junge mit einer Baseball Kappe. Ein anderes Mal bucht sie eine Nacht in einem Hotel und gibt sich als Businessman aus. Aber auch als Landstreicherin zieht sie durch die Stadt. Den Titel bekam die Geschichte von einer Romagruppe, die Sommer und Winter in Wägen in der Nähe ihrer Wohnung lebt und speziell am Abend und in den Nächten trommelt. Als Leser werden einem auch die verschiedensten Arten von Trommeln vorgestellt. Man kann sie nicht hören, aber die Erzählerin beschreibt die unterschiedlichen Töne, weil sie letztlich auch selbst zu einer Trommlerin mit dieser Gruppe wird.
Hinter dem Titel der Geschichte „Die Glyzinie“ verbirgt sich die Liebschaft der Mutter in den Schwiegersohn. „Ich begehre ihn, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe. Ist daran etwas Schlimmes? Töchter sind doch ein Teil ihrer Mütter und Mütter ein Teil ihrer Töchter – da ist es nicht verwunderlich, wenn das Begehren sie überschwemmt wie ein Fluss bei Hochwasser und jeden Winkel der unteren Regionen ausfüllt.“ (Seite 116)
Ein Ausflug in die Politik ist „Die Bohnenweissagung“, in der ein hoher Politiker einen Weissager aufsucht, um seine Zukunft (und deren Gefahren) kennen zu lernen.
Alle sechs Geschichten lesen sich sehr gut. Die Autorin zeigt jeweils ein Stück ihres Landes. Jene mit der Großstadt stammt aus der Zeit, in der sie ein Stipendium in Berlin hatte. Berlin ist ihre Vorlage für die beschriebene Stadt.

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    In „Brado. Die Weihnachtskrippe“ wird einerseits eine kleine Stadt im Sudentenland vorgestellt und andererseits eine riesige Weihnachtskrippe, die über mehrere Jahrhunderte hinweg ergänzt, geändert und modernisiert wurde, beschrieben, obwohl diese bei einem Unwetter durch Einsturz des Dachs umgekommen war. Sie war schon zu einem riesigen Ungetüm geworden, das zu pflegen und in Betrieb zu halten schwierig wurde. Eine Frau, die im Zuge des Zweiten Weltkriegs ihren Mann und dann auch ihr Kind verloren hatte, widmete den Rest ihres Lebens dieser Krippe. Sie baut selbst Krippenteile und scheut auch nicht davor zurück in die 2000 Jahre alte Szene der Geburt Jesu zeitgenössische Szenen hinzuzufügen. So kamen auch Kriegsszenen und moderne Begebenheiten in die Krippe. Sie existiert nicht mehr, aber die Dichterin lässt sie in dieser Geschichte wiederaufleben.
    „Spiel auf vielen Trommeln“ gab diesem Buch den Titel. Eine Frau – sie stellt sich zu Beginn der Geschichte selbst vor und beschreibt ihre Person – zieht in eine Stadt und beschreibt diese. Sie beruft sich auf die Behauptung, dass zwischen Menschen und Orten ein Zusammenhang besteht; dass Städte Menschen beeinflussen. Als Beispiele nennt sie Paris, wo man raffinierter wird und New York, wo Menschen konkreter werden. Sie dürfte aus einem anderssprachigen Land in diese Stadt gezogen sein, denn sie besucht einen Sprachkurs und beschäftigt sich bei dieser Schilderung in einem Diskurs mit dem „Jetzt“. „Daß „jetzt“ nämlich „nie wieder“ heißt. „Jetzt“ heißt, daß das, was ist, in genau demselben Moment aufhört zu existieren, zerbröckelt wie eine morsche Treppenstufe. Es ist ein furchtbarer, erschreckender Begriff, der die ganze grausame Wahrheit enthüllt.“ (Seite 91) Das „Jetzt“ sei ein Privileg des Menschen. „Deshalb habe man die Sprache ersonnen – um die Übertragung von Ereignissen aus der Vergangenheit in die Zukunft zu kontrollieren und damit Macht über die Zeit zu haben, um die Zeit anzuhalten, und sei es auch nur für einen kurzen Augenblick, in dem man in der vollen Bedeutung sagen kann „ich bin“.“ Die Proponentin dieser Geschichte dürfte vom Land in die Stadt gezogen sein, denn die Verschiedenheit der Menschen beeindruckt sie und verführt sie dazu sich selbst immer wieder unterschiedlich der Stadt zu präsentieren. Einmal als Junge mit einer Baseball Kappe. Ein anderes Mal bucht sie eine Nacht in einem Hotel und gibt sich als Businessman aus. Aber auch als Landstreicherin zieht sie durch die Stadt. Den Titel bekam die Geschichte von einer Romagruppe, die Sommer und Winter in Wägen in der Nähe ihrer Wohnung lebt und speziell am Abend und in den Nächten trommelt. Als Leser werden einem auch die verschiedensten Arten von Trommeln vorgestellt. Man kann sie nicht hören, aber die Erzählerin beschreibt die unterschiedlichen Töne, weil sie letztlich auch selbst zu einer Trommlerin mit dieser Gruppe wird.
    Hinter dem Titel der Geschichte „Die Glyzinie“ verbirgt sich die Liebschaft der Mutter in den Schwiegersohn. „Ich begehre ihn, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe. Ist daran etwas Schlimmes? Töchter sind doch ein Teil ihrer Mütter und Mütter ein Teil ihrer Töchter – da ist es nicht verwunderlich, wenn das Begehren sie überschwemmt wie ein Fluss bei Hochwasser und jeden Winkel der unteren Regionen ausfüllt.“ (Seite 116)
    Ein Ausflug in die Politik ist „Die Bohnenweissagung“, in der ein hoher Politiker einen Weissager aufsucht, um seine Zukunft (und deren Gefahren) kennen zu lernen. 
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