Abstract
TOKARCZUK, Olga: „UR und andere Zeiten“, Zürich 2019
Es ist ein Generationsroman. Die Generationen bewegen sich aber nicht nur innerhalb einer Familie, sondern die Autorin zieht in ihre geschichtliche Betrachtung ein kleines Dorf und dessen Einwohner ein. UR heißt der Ort und ist ein fiktives Dorf im Osten Polens. Das Wort „Zeiten“ im Titel bezieht sich in verschiedenen Kapiteln auf einzelne Personen. Es sind teilweise merkwürdige Menschen, die hier beschrieben werden. Kauze, wie ein Graf, der sein Leben dem Spiel widmet und dessen Mitarbeiter nur am Dach des Schlosses seine Zeit verbringt. Es kommen aber auch märchenhafte Figuren wie ein Wassermann oder ein Mann, der wie ein Tier im Wald lebt vor. Generell ist der Roman eine Verwebung von Märchen und historischen Geschichten. Die Erzählung beginnt im Jahr 1914, zeigt die Geschichte Polens an Hand dieses Dorfes und zieht sich durch das 20. Jahrhundert.
Die Kapitel an sich sind sehr kurz gehalten, was dem Leser einen eigenen Stil abverlangt. Man muss genauer mitdenken um den Faden verfolgen zu können.
Olga Tokarczuk bezeichnet diesen, ihren Roman als ein «metaphysisches Märchen», das von Geburt und Tod, Liebe und Hass, Glück und Leid erzählt. Er ist voll von Mythen und Provokationen, aber auch Grausamkeiten, wie etwa jenen aus dem Zweiten Weltkrieg.
So wie einzelnen Personen Kapiteln im Buch gewidmet sind, findet die Autorin auch Platz für Dinge und philosophische Gedanken. So ein Ding ist etwa die Kaffeemühle, wo sie meint: „Die Menschen meinen, sie lebten intensiver als die Tiere und Pflanzen und erst recht als die Dinge. Die Tiere haben das Gefühl, dass sie intensiver leben als die Pflanzen und Dinge. Die Pflanzen träumen, dass sie intensiver leben als die Dinge. Doch die Dinge überdauern, und in diesem Überdauern ist mehr Leben als in allem anderen.“ (Seite 51)
Über das Spiel des Grafen werden verschiedene Varianten erzählt, wie Gott die Welt erschaffen könnte. Grundsätzlich wird da gesagt „Wenn man nicht weiß, „wo“ Gott ist – und solche Fragen stellen die Menschen zuweilen -, muss man all das betrachten, was sich wandelt, was sich in keine Gestalt fügt, was sich auf und ab bewegt und verschwindet: Die Oberfläche des Meeres, den Tanz der Sonnenkorona, die Erdbeben …“ (Seite 141) Gott könnte es, so ist geschrieben, in vier Varianten geben: „Entweder Gott war und ist, oder … es gibt ihn nicht und hat ihn nie gegeben. Oder … es hat Gott gegeben und gibt ihn jetzt nicht mehr. Und … es gibt Gott noch nicht und er wird noch kommen.“ (Seite 166/167)
Gewagt äußert sich die Autorin zur Veränderung der Kirche indem sie einen der Proponenten fragen lässt „Wie kann man denn Gott reformieren?“ Ein anderer antwortet: „Das kann man. Die Menschen ändern sich. Die Zeiten ändern sich. Autos, Raumschiffe … Gott kann manchmal, wie soll ich das sagen, etwas anachronistisch erscheinen, und selbst ist er zu groß, zu mächtig und damit gleichzeitig aber auch ein bisschen zu schwach, um sich den menschlichen Vorstellungen anzupassen.“ (Seite 256/257)
Die menschliche Seite der Romanfiguren erlebt man bei den älteren Proponenten bis zu deren Tod, was Olga Tokarczuk sehr emotional und hinreißend beschreibt. Als Leser trauert man mit den Nachfahren mit.
Dieser Roman erschien in polnischer Sprache 1996 und brachte der Autorin den internationalen Durchbruch, der mit dem Literatur-Nobelpreis für 2018 gekrönt wurde.
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