Ich lese viel und schreibe bei vielen Büchern eine Rezension, die hier veröffentlicht ist. Ich schreibe solche Kritiken auch für mehrere Verlage und deren Bücher. |
Suche in der Lesestoffsammlung 21. ERNAUX, Annie Die Jahre Buch 2023. @book{ERNAUX2023, ERNAUX, Annie: „Die Jahre“, Berlin 2022 Die Autorin beschreibt rückblickend ihr Leben und dessen Veränderungen. Es ist aber ein Spiegelbild der Generation, die noch während des Zweiten Weltkriegs zur Welt kamen. Menschen, die all die Veränderungen in den Nachkriegsjahren, der folgenden Konsumgeneration und Wohlstands miterlebten. Es ist ein Spiegelbild der französischen Gesellschaft und ist doch nicht das Leben der Autorin, sondern gilt für diese Generation. Auch in anderen europäischen Ländern verlief die Veränderung ähnlich und man fühlt sich bei vielen Punkten persönlich angesprochen. So wird noch von den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs, dem Wiederaufbau und der neuen Generation erzählt. Wie durch die Babypille das sexuelle Verhältnis sich änderte und Revolutionen, wie jene von 1968, die Gesellschaft anders machte. Auch die beschriebene Person wird anders als ihre Eltern und doch wieder in vielen Dingen konservativ: verheiratet, Kindererzieherin, Konsumorientiert. Die eigenen Kinder wurden Erwachsene. Sie waren im Wohlstand aufgewachsen und taten sich schwer von zu Hause auszuziehen. Als sie geschieden war, überlegte sie erstmals ein Buch über die Jahre von 1940 (Geburt) bis 1985 (Scheidung und wieder Alleinsein) zu schreiben. Als die Autorin sich der Gegenwart, den „Nullerjahren“ des 21. Jahrhunderts näherte, lief sie zu einem wahrlich literarischen Höhepunkt auf. Jetzt beschrieb sie die Zeit, in der sie gerade unmittelbar lebte und charakterisierte ihre Umgebung „nobelpreisträchtig“ genau und schön. Die Überflutung mit Information durch das Internet gibt aber kein Wissen wieder, das beim Leben hilft. Sie beklagt auch, dass zwar die Religion durch die Muslime zurück im Leben sei, aber der Rosenkranz, der Fisch am Freitag und Kirchenlieder der eigenen Religion verloren gingen. Als geschiedene Frau hat sie einen jungen Liebhaber, der ihr die Jugend nicht geben kann und ihr gleichzeitig ihr Alter nimmt. Es ist keine Biografie der Autorin geworden, sondern ein Stück Zeitgeschichte, das sie anhand einer Person beschrieb. „In dem, was sie als unpersönliche Autobiografie begreift, gibt es kein „ich“, sondern ein „man“ oder „wir“. (Seite 253) Sie empfand es selbst als Lust jetzt im Alter über das Leben zu schreiben. Ein großartiges Buch in nobelpreiswürdigem Niveau. Die Erzählung über einer Generation. 22. MENASSE, Robert Die Erweiterung Buch 2022. @book{MENASSE2022b, MENASSE, Robert: „Die Erweiterung“, Berlin 2022 Mit großer Sachkenntnis beschreibt Menasse die Situation der Verwaltung der Europäischen Union und des Beitrittskandidaten Albanien, der stellvertretend für die Balkanländer steht. Es ist ein Roman und dementsprechend sind es handelnde Personen, anhand derer man die Situation erfährt. Diese handelnden Personen aus Brüssel, Polen, Österreich und Albaniens werden nicht nur in ihrer agierenden Funktion vorgestellt, sondern auch deren Hintergrund bis zur Kindheit zurück und erfährt damit auch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte. So etwa der Pressesprecher des albanischen Premierministers, dessen Eltern einflussreiche Menschen in der Zeit der Diktatur Enver Hoxhas waren. Als diese Diktatur zu Ende ging begingen sie Selbstmord und der Bub wurde zum Waisen. In einem Kinderheim ist er dann aufgewachsen. Er war nur mit Buben zusammen, worauf er seine fehlende Erfahrung mit Frauen zurückführt. Homosexuell wurde er aber nicht. Nachdem das neue Regime zu Ende ging tauchte seine Tante auf und holte ihn aus dem Kinderheim. Sie erzog ihn, dass er auch zu einem Hochschulabschluss kam, aber Liebe oder Mütterlichkeit konnte sie ihm nicht bieten. So erfährt man auch von der Kindheit eines EU-Beamten, der in der Frühzeit der Solidarnosc im Untergrund aktiv war. Sein bester Freund aus dieser Zeit wurde Premierminister und verwarf alle Jugendtugenden. Enttäuscht musste der engagierte EU-Beamte das zur Kenntnis nehmen. Eigentlich wollte er sich revanchieren und den ehemaligen Freund bloßstellen. Diese detaillierten Beschreibungen waren dem Autor wichtig, wie er selbst sagte: „Der Erzähler aber zeigte nicht die Oberfläche, sondern setzte das Wesen ins Bild, hält nicht nur den Moment fest, sondern lasse ihn fließen, vom Grund zur Wirkung. Erst der Anspruch des Beschreibens habe das Unbeschreibliche zur Welt gebracht, während wir alles erzählen können, letztlich auch das Unbeschreibliche.“ (Seite 388) Der Helm des albanischen Führers Skanderbeg ist ein Faktor, der sich durch den ganzen Roman zieht. Er wird aus dem Wiener Museum gestohlen. Der albanische Premierminister ließ sich unabhängig vom Kunstraub eine Kopie erstellen, die er sich aufsetzen wollte und sich so zum Oberhaupt aller Albaner zu machen. Auch jenen, die im Kosovo, in Nordmazedonien und Montenegro leben. Da Albaniens Aufnahme in die EU von Frankreich beeinsprucht wurde, will er sein kleines (unbedeutendes) Land größer machen, indem er „Großalbanien“ ins Spiel bringt. Der Premierminister meinte „Mit diesem Helm betteln wir nicht mehr um den Beitritt in die Europäische Union, sondern überlegen kühl und sachlich, ob wir die EU in ein geeintes Albanien eintreten lassen.“ (Seite 317) Der Höhepunkt des Romans findet dann auf einem neuen Kreuzfahrtschiff, das Albanien in Betrieb nahm, statt. Es hatte den Namen SS Skanderbeg, nach dem Nationalheiligen Albaniens. Menasse klärt aber auch auf, dass es im Zweiten Weltkrieg in Albanien eine eigene SS-Einheit mit dem Namen Skanderbeg gab. „Im Kampf gegen die Jugoslawische Volksbefreiungsarmee, die Tito-Partisanen, war die Skanderbeg-Division nicht sehr erfolgreich.“ (Seite 171) Der Stapellauf des Schiffs fand zum Nationalfeiertag Albaniens statt. Eingeladen wurden auch Vertreter aus den Nachbarländern und aus der EU. Man hielt am Schiff eine Konferenz über die Integration der Balkanländer in die EU ab, obwohl einige Wochen später eine solche in Polen geplant war. Da Polen gegen eine EU-Erweiterung ist, hat man diese Konferenz vorgezogen, um positive Stimmung zu erzeugen. Die Jungfernfahrt fand also mit allen Spitzenpolitikern der Europäischen Union statt. Bis dahin fand ich es als sehr gutes Buch und wollte es schon Freunden zum Lesen empfehlen. Aber ab Seite 600 ändert es sich. Dann wird es chaotisch, abgehoben und irreal. Auch der Schreibstil ändert sich und wirkt wie ein Stakkato von kurzen Sätzen. Bei einem Kriminalroman nimmt man in der Beschreibung den Schluss nicht vorweg und so will ich es auch hier halten. Die Situation am Schiff eskaliert zu einer unvorstellbaren Form. Meiner Meinung leidet das Buch darunter. 50 Seiten machen die vorangegangenen 600 schlecht. Aber Menasse wollte mit diesem Stilwechsel und überhöhter Beschreibung die Situation der Europäischen Union kritisch beleuchten. Ein großartiges Buch, in dem man die letzten 50 Seiten akzeptieren muss. 23. BUCHINGER, Günther Gozzoburg Krems - Fragen und Antworten Booklet 2022. @booklet{BUCHINGER2022, Kulturamt der Stadt Krems (Hg): „Gozzoburg Krems“, Krems 2021 Die mittelalterliche Stadt Krems hatte am Hohen Markt einen Palast, den der damalige Stadtrichter Gozzo errichten ließ. In der Vergangenheit nahm man an, dass es sich um eine Burg handelt. Als solche wurde auch ein erstes Gebäude von den Kuenringern erbaut. Gozzo ließ aber alles umbauen und erweitern und schuf einen ansehnlichen Palast. Das vom heutigen Besitzer – der Stadtgemeinde Krems – herausgegebene Buch ist mit Fragen und deren Antworten aufgebaut. Die Titel der einzelnen Kapitel sind Fragen, die dann in der Folge von Experten beantwortet werden. Ein interessanter und unüblicher Aufbau eines Kunstführers. Der angesehene Bürger Gozzo war zum Großteil seines Lebens als Stadtrichter aktiv. Nach seinem Tod übernahm den Palast sein Sohn. Später ging er in den Besitz der Habsburger über. Im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Kaiser Friedrich III und dem ungarischen König Matthias Corvinus wurde auch Krems belagert. Die Stadt verteidigte sich tapfer und bekam als Dank viele Rechte, wie die Einhebung von Steuern. Unter Kaiser Maximilian I. kam es zu einer Teilung der Anlage. Im östlichen Teil war eine lutherische Schule untergebracht, die bald verboten wurde. Den anderen Teil erwarb der Stadtrichter. Im 17. Jahrhundert wurde die Stadt Besitzer. In einem Teil war bis ins 19. Jahrhundert – mit vielen Umbauten – eine Bierbrauerei eingerichtet. In einem anderen Teil eine Fleischerei. Vieles wurde im 19. Jahrhundert zerstört, als das Gebäude in privaten Besitz kam und zu einem Wohnhaus umgebaut wurde. So wurde etwa in der Kapelle eine Zwischendecke eingezogen, um zwei Wohngeschosse zu gewinnen. Die Wandmalereien der Kapelle wurden dabei zerstört. Erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhundert begann man mit der Renovierung, die bis in die 60er Jahre dauerte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden die beiden Gebäudekomplexe wieder zusammengeführt und einer Generalsanierung unterzogen. Heute beherbergt die Gozzoburg neben einem Gasthaus das Bundesdenkmalamt für Niederösterreich und einen Teil der Fachhochschule IMC Krems. 24. ERNAUX, Annie Der Platz Buch 2022. @book{ERNAUX2022b, ERNAUX, Annie: „Der Platz“, Berlin 2022 Die Nobelpreisträgerin erzählt in diesem Buch vom Leben ihrer Großeltern und Eltern. Ein Leben, wie es auch in Österreich oder einem anderen Land sein hätte können. So gesehen war die Welt schon früher global. Es beginnt mit dem Tod des Vaters. Wie er stirbt, welchen Eindruck der Gestorbene auf die Autorin machte und wie er dann für das Begräbnis gewaschen und gekleidet wird. Verwandte reisen an und bald geht das Alltagsleben weiter und die Mutter steht allein im eigenen Geschäft. Annie Ernaux ist als Arbeiterkind aufgewachsen und durfte – weil die Eltern wollten, dass es dem Kind einmal besser gehe – studieren. Der Vater verstand das nicht mehr. Mit autobiografischen Romanen und Erzählungen wurde sie berühmt und bekam letztlich 2022 den Nobelpreis. Der vorliegende Roman „Der Platz“ war der erste, der ausschließlich aus ihrem eigenen Leben handelte. Sie wollte einen Roman über ihren Vater schreiben und nahm sich des Themas sehr vorsichtig an. „Ich schreibe langsam. Bei dem Versuch, die bedeutsamen Etappen eines Lebens freizulegen, das Zusammenspiel aus Gegebenheiten und Entscheidungen, habe ich den Eindruck, dass mir die Einzigartigkeit meines Vaters mehr und mehr abhandenkommt.“ (Seite 37/38) Die Beschreibung des Vaters beginnt aus der Sicht des Kindes und wie sie sich selbst dann aus dem Milieu der Eltern wegentwickelte und so den Vater aus einem anderen Blickwinkel sah. Mit dem Tod des Vaters beginnt das Buch und mit dem Begräbnis endet es. Dazwischen ist sein Leben direkt und indirekt beschrieben. Der Titel „Der Platz“ bezieht sich nicht auf eine physische Stelle, sondern auf die Position, die der Vater in seinem Leben einnahm. Respekt vor den Intellektuellen und Reichen. „Oberste Regel: Dem kritischen Blick der anderen zuvorkommen, durch Höflichkeit, durch die Abwesenheit einer eigenen Meinung, für ein feines Gespür der Launen der anderen, die einen treffen könnten.“ (Seite 51) Er war gegenüber neumodischen Dingen skeptisch und verstand nicht, warum man ständig „sicher nicht“ sagte und „warum man zwei Wörter kombinierte, die einander widersprachen.“ (Seite 53) Auch wenn eine Geschichte wie diese autobiografisch, also aus dem Leben der Autorin geschrieben ist, kann man als Leser viel Allgemeines und vielleicht sogar selbst Erlebtes herauslesen. 25. Kohlenberger, Judith Die Couragierten. Über die transformative Kraft der Zivilgesellschft Booklet 2022. @booklet{Kohlenberger2022, KOHLENBERGER, Judith: „Die Couragierten. Über die transformative Kraft der Zivilgesellschaft“, Wien 2022 Der Herausgeber dieser kleinen Broschüre ist GlobArt. Wikipedia definiert GlobArt als „eine Denkfabrik in Wien. Der Verein befasst sich mit Zukunftsthemen. Prominenten Künstlern und Philosophen wird eine Plattform geboten, um mit Referenten aus Wissenschaft und Wirtschaft in einen Diskurs zu treten und gesellschaftsrelevante Themen zu diskutieren.“ Selbst nennt sich GlobArt nicht „Denkfabrik“. Sie sind es einfach. Sie brauchen sich nicht den Namen „Denkfabrik“ zu geben. Viel verbindet mich mit GlobArt. Schon vor seiner Gründung kontaktierte mich der damalige Abt von Geras an der Donau-Universität und lud mich zu einem Austausch ein. Lange Jahre war ich dann im Vorstand. Die letzten Jahre habe ich den Kontakt verloren, die Generalsekretärin und Freundin Heide Dobner, informiert mich aber regelmäßig und so bekam ich diese Broschüre. Sie zeigt wieder das Vordenkertum des Vereins. Die Autorin Judith Kohlenberger ist Migrationsforscherin an der Wirtschafts-Universität Wien. Sie beleuchtet sehr anschaulich wie wichtig die Zivilgesellschaft und mutige Menschen sind. Untermauert mit guter Literatur wendet sie sich dem Thema mit einem persönlichen Geständnis zu: „Ich bin einer der ängstlichen Menschen, die ich kenne. Ich habe Angst vor Krankheiten (sehr gemütlich während einer Pandemie), vor langen Reisen, vor bösen Menschen, vor Schmerzen und Trägheit, vor schlaflosen Nächten, vor Einsamkeit, vorm Zahnarzt und seinen Gerätschaften, vor Übergewicht, Pickel und Haarausfall, vor Nachtfaltern, die sich in Innenräumen verirren und nicht mehr hinausfinden, vor dem Versagen und Scheitern, vor dem Tod geliebter Menschen.“ (Seite 9/10) Unsere Leistungsgesellschaft ist aber nicht dafür angelegt, dass man seine Ängste artikuliert und kommuniziert. In Zeiten mit Krieg, Teuerung, Seuchen und Flucht, trauen sich die Menschen aber doch mehr zu ihren Ängsten zu stehen. Trotz allem sehen Millionen von Menschen eine Zukunft und fordern Veränderung. Es sind die Couragierten, die sich öffentlich engagieren. Sie sind nicht Teil der Machtträger und trotzdem haben sie als Angehörige der Zivilgesellschaft Einfluss. Aus der Geschichte lernend kann man feststellen, dass nur friedliche Proteste Erfolg haben. Digitale Medien verändern die Gesellschaft sowohl zum Guten als auch zum Schlechten. Sie erzeugen aber auch eine größere Distanz zum Nächsten. Die letzten Jahre der Corona-Pandemie haben die Risse in der Gesellschaft verstärkt zum Vorschein gebracht. „Couragiertsein“ ist das Gegenteil von Furchtlosigkeit. Couragierte agieren, weil sie sich fürchten. GlobArt und die Autorin zeigen damit die heute in Gang gesetzte Zeitenwende für die Zivilgesellschaft mit Platz für Neuem auf. 26. HESSE, Hermann Narziss und Goldmund Buch 2022. @book{HESSE2022, HESSE, Hermann: „Narziss und Goldmund“, Baden Baden 1989 Manchmal gibt es einen Anlass, ein schon vor langer Zeit gelesenes Buch wieder aus dem Regal zu nehmen und erneut zu lesen. Mit anderem Zugang, anders als vor einigen Jahrzehnten. Der Anlass für das Wiederlesen des Buches „Narziss und Goldmund“ war eine ausgezeichnete Verfilmung dieses Romans. Obwohl ein Film nicht vergleichbar mit einem Buch ist. Ein Film ist eben anders als ein Buch. Aber die Idee dahinter ist dieselbe. Da ist der junge zielstrebige Kleriker und Mönch Narziss, der schon als Schüler zum Lehrer wird. Dann tritt ein junger Mann ins Kloster ein. Der Vater bringt ihn, weil ihm seine Ehefrau, die Mutter des Knaben abhandengekommen ist. Sie hat Schuld auf sich geladen und der Vater denkt, dass diese Schuld getilgt werden kann, wenn der Sohn Mönch wird. Das Leben dieser beiden jungen Männer - Narziss und Goldmund - kreuzt sich, Sie werden Freunde, obwohl sie grundverschieden waren. Narziss hat die Gabe Menschen sehr gut analysieren zu können. So erkennt er das Andersartige in Goldmund, akzeptiert und schätzt es. Mit seinen analytischen Kenntnissen bringt er ihn vom Weg, selbst Mönch zu werden ab. Die Freundschaft, die nur eine temporäre war, ging zu Ende und beide gingen ihre eigenen Wege. Narziss jenen des Intellektuellen, des Klostermenschen und Goldmund zog es in die Welt hinaus. Mit vielen Frauen schläft er. Er ist vogelfrei. Im Winter kommt er zu einem Ritter, der seine Schreibkunst schätzt und ihn zum Niederschreiben seines Lebens engagiert. Er hat zwei Töchter. In eine verliebt er sich. Die zweite erfährt von diesem Verhältnis und die Geliebte informiert den Vater, der Goldmund vertreibt. Er ist wieder allein unterwegs. Es ist Winter. Die Geliebte hatte ihm einen Reiter mit wärmender Jacke und einem Goldstück nachgeschickt. Er machte Bekanntschaft mit einem Wanderprediger, der sich mit fatalen Tricks durchs Leben schlug. In einer Nacht wollte dieser ihn bestehlen. In der Verteidigung töte er ihn. Schuld auf sich geladen lief er wirr durch die Gegend. In einem Dorf fand man ihn bewusstlos. Eine Frau, mit der er auch geschlafen hatte, brachte ihn in einem Stall in Sicherheit und päppelte ihn wieder auf. In seinen Wanderjahren traf er auf verschiedenste Menschen. Zwei Mal begleitete ihn ein Mann. Den ersten – er wollte ihn bestehlen – erdrosselte er und schlug so Schuld auf sich. Die Pest war ausgebrochen. Ganze Städte waren ausgestorben. Häuser standen leer. Menschen lagen, ohne begraben zu werden und verwesten. Einerseits gab es viel zum Stehlen. Kühe standen ungemolken auf der Wiese, weil alle Mitglieder des Bauern verstorben waren. Mit einem Mädchen und einem Pilger bezog er im Wald eine Hütte. Sie bauten sich ein Zuhause auf. Ein Mann vergewaltigte seine Liebschaft. Er hörte ihre Hilferufe und brachte den Mann um. Sein zweiter Mord. Letztlich erkrankte die Geliebte an der Pest. Als sie gestorben war, zündete er die Hütte mit ihrem Leichnam an und begab sich wieder auf Wanderschaft. Diesmal war das Ziel sein ehemaliger Meister. Am Weg wieder viele leere Ort. Die Pest hat viele Menschenleben gekostet. Enttäuscht musste er, am Ziel angekommen, feststellen, dass sein Meister verstorben war. Die Tochter hatte Pest. Er pflegte sie. Er starb und die Tochter überlebte. Unfreundlich wurde er abgewiesen. Die Werkstatt war geschlossen. In der Stadt erkannte ihn aber die Tochter seines ehemaligen Zimmervermieters. Enttäuscht suche er eine Kirche auf und wollte beichten, aber alle Priester waren verstorben oder abgezogen und geflüchtet. So kniete er vor einem leeren Beichtstuhl bekannte seine Schuld. In dieser Formulierung sieht man auch die Größe des Dichters Hermann Hesse. Ein alter Text, der noch heute seine Wirkung hat: „Ich komme aus der Welt zurück und bin ein schlechter und unnützer Mensch geworden, ich habe meine jungen Jahre vertan wie ein Verschwender, wenig ist übriggeblieben. Ich habe getötet, ich habe gestohlen, ich habe gehurt, ich bin müßig gegangen und habe anderen das Brot weggegessen. Lieber Gott, warum hast du uns so geschaffen, warum führst du uns solche Wege? Sind wir nicht deine Kinder? Ist nicht dein Sohn für uns gestorben? Gibt es nicht Heilige und Engel uns zu leiten? Oder sind das alles hübsche erfundene Geschichten, die man den Kindern erzählt und über die die Pfaffen selber lachen? Ich bin irr an dir geworden, Gottvater, du hast die Welt übel geschaffen, schlecht hältst du sie in Ordnung. Ich habe Häuser und Gassen voll von Toten liegen sehen, ich habe gesehen, wie die Reichen sich in ihren Häusern verschanzt haben oder geflohen sind und wie die Armen ihre Brüder unbegraben haben liegenlassen, wie sie einer dem anderen verdächtigt und die Juden wie Vieh totgeschlagen haben. Ich habe so viele Unschuldige leiden und untergehen sehen und so viel Böse im Wohlleben schwimmen. Hast du uns denn ganz vergessen und verlassen, ist dir deine Schöpfung ganz entleidet, willst du uns alle zugrunde gehen lassen?“ (Seite 303) 27. STREERUWITZ, Marlene Partygirl Buch 2022. @book{STREERUWITZ2022, STREERUWITZ, Marlene: „Partygirl“, Frankfurt 2011 Mehrmals habe ich dieses Buch zur Hand genommen, um mit dem Lesen zu beginnen. Immer wieder habe ich es wieder weggelegt. Es war schwierig der Erzählung zu folgen. Ein eigenartiger Schreibstil. Manche Sätze bestehen nur aus zwei Wörtern. Alles wirkt beim Lesen sehr abgehackt. Sehr detailgenau werden Eindrücke und Erlebnisse erzählt. Letztlich habe ich es aber doch geschafft. Die Hauptfigur des Romans ist Madeline. Ihr Leben wird auf einer umgekehrten Zeitachse erzählt. Das Buch beginnt in Chicago im Jahr 2000. Madeline arbeitet in einem Kleiderreinigungsgeschäft. Dann springt die Erzählung zurück ins Jahr 1997, wo sich Madeline mit Freunden in Havanna befindet, um dann 1994 aus Berlin zu berichten. 1989 ist Madeline in Santa Barbara in Kalifornien unterwegs. Durch intensives in die Sonne Schauen verliert sie kurzfristig ihr Sehvermögen. Die Freunde sind besorgt und versuchen sie wieder zu heilen. 1984 ist sie in Kreta. Sie wollte einige Wochen ausspannen und Urlaub machen, wurde aber mit der machoistischen Gepflogenheit der Männer konfrontiert. Es kam zu einer Vergewaltigung. Das Kapitel aus dem Jahr 1981 spielt in Arezzo im Ferienhaus eines Freundes. Sie ist die einzige Frau und muss sich mit dem fremden Verhalten der Männer zurechtfinden. Es ist eine Männergruppe aus Wien, die aus besseren Kreisen stammt und die sich im Urlaub in Italien ausgelassen geben. Es geht dann auf der Zeitachse weiter zurück ins Jahr 1976. Die Geschichte spielt in Wien. Das Nachtleben in verschiedenen Bars. Männer versuchen sie zu verführen. Sie flieht aus einem Auto und fährt mit dem Taxi heim. Und dann dreht die Autorin die Zeit nochmals zurück. Auf das Jahr 1973. Es spielt wieder in Wien. Madeline hat eine Wohnung mit ihrem Bruder in Wien im Zentrum. Sie ist von ihren Eltern weggezogen. Hat sich selbstständig gemacht. „Dass sie unbekannt war. Und sie hat sich das gewünscht. Weg von Baden. Weg aus diesem vertratschten Kaff.“ (Seite 229) Es ist die Zeit der Ölkrise. Energie war teuer. Die Wohnung schlecht geheizt. Sie hat eine Therapeutin. „Die verschrieb Emanzipation wir Schnupfentropfen. Wollte einen in die Emanzipation loswerden.“ (Seite 235) Warum sie eine Therapie bekam, konnte man als Leser nicht feststellen, weil die Geschichte ja gegen die Zeit läuft. 1968 geht auf eine Periode in Baden zurück. Es spielt im Elternhaus, einer alten Villa. Die Mutter von Madeline ist schwer krank. Ein Arzt, der Onkel, behandelt sie. Er will die Tochter, die ihre Mutter pflegt auf andere Gedanken bringen und fährt mit ihr in einen Nachtklub. Der Onkel meinte „Sie müsse aus dem Haus. Wahrscheinlich sei sie seit Wochen nicht aus dem Haus gewesen.“ (Seite 269) Madelines Bruder Rick sei bei Grabungen in Kleinasien, und so fiele die Betreuung der Mutter ihr zu. Der Onkel wollte im Restaurant mit ihr anbandeln. Sie bestand darauf heimgeführt zu werden. Der Mutter könnte etwas passieren. Als sie zum Haus kommen, sind alle Fenster beleuchtet, in jedem Raum das Licht aufgedreht. In der Küche findet sie einen Zettel: der Bruder war unangekündigt hier und habe alle Lichter aufgedreht. Im nächsten Kapitel – es ist das Jahr 1965 – ist Madeline als junge Frau auf einem Sprachkurs in der italienischen Stadt Perugia. Ihr Bruder war auch da. Sie vereinbarten ein Treffen, aber er kam nicht. Ein Freund des Bruders holte sie ab. Im angegebenen Treffpunkt ist der Bruder nicht. Sie fahren weiter. Auch dort nicht. Ein anderer Freund übernimmt sie. Sie kommt in eine andere Gesellschaft. Eine Frau aus der Runde bringt sie in ein Zimmer, wo ein Mann mit einer Hure Geschlechtsverkehr hat. Die junge Frau Madeline flüchtet. Die Erzählung geht weiter zurück ins Jahr 1960 und wieder nach Wien. Madeline besucht ihre Tante Lilly in Wien. Ihre Monatsregel auf der Fahrt im Bus wird ausführlich beschrieben. Die Tante erwartet, dass Madeline während ihres bevorstehenden Studiums bei ihr wohnt. Sie aber sagt ab. Und die Zeit dreht sich weiter auf das Jahr 1957 in Baden zurück. Sie geht in die Maturaklasse und ist eine schlechte Schülerin. Rick half ihr in Latein. Im Bad wartete sie auf ihn. Ihn, den sie liebte. Das Buch endet mit dem Jahr 1950. Madeline macht die Aufnahmeprüfung in die Mittelschule. Die anderen Bewerberinnen wurden von ihren Eltern begleitet. Madeline war allein und sie wurde auch als letzte im Klassenzimmer vergessen. Als man sie dann fand, war die Direktorin und die Lehrer sehr freundlich zu ihr. Sie wurde aufgenommen. Die einzelnen Kapitel sind Stationen im Leben von Madeline. Man muss sich als Leser aus diesen Momentaufnahmen die Gesamtheit des Lebens der Frau zusammendenken, praktisch von vorne nach hinten durcharbeiten. Das der rote Faden eine inzestuöse Beziehung zu Madelines Bruder sein soll ist nur schwer herauszulesen. 28. ERNAUX, Annie Das andere Mädchen Buch 2022. @book{ERNAUX2022, ERNAUX, Annie: „Das andere Mädchen“, Berlin 2022 Annie Ernaux hat heuer – 2022 – den Nobelpreis für Literatur bekommen. Das regte mich an ein Buch von ihr, das lieferbar war, zu lesen (nach einer Nobelpreisverleihung sind die Bücher der Preisträger schnell vergriffen). Beim „anderen Mädchen“ handelt es sich um eine Schwester der Erzählerin. Eine Schwester, die einige Jahre vor ihrer Geburt verstorben war. „Bei meiner Geburt warst du schon zweieinhalb Jahre tot. Du bist das Kind im Himmel, das unsichtbare kleine Mädchen, über das nie geredet wurde, die Abwesende aller Gespräche. Das Geheimnis.“ (Seite 14) Sie wusste nichts von ihrer Schwester. Erst bei einem Gespräch ihrer Mutter mit einer Kundin hörte sie davon. Sie war nur „der Ersatz“ für die verstorbene Schwester. „Ich wurde geboren, weil du gestorben warst, ich habe dich ersetzt.“ (Seite 57) Die Schwester hatte denselben Namen wie sie. Die Verstorbene wurde geliebt. Liebe – so hat sie das Gefühl – ist bei ihr, der Lebenden, nicht angebracht. Im Alter besucht sie das Grab und schreibt diesen „Brief“ in Buchform an die unbekannte, verstorbene Schwester. Am Ende des Buches wendet sie sich direkt an die Verstorbene: „Selbstverständlich ist dieses Buch nicht an dich gerichtet, und du wirst ihn nicht lesen. Andere Menschen, Leserinnen und Leser, die beim Schreiben für mich genauso unsichtbar sind wie du, werden ihn in den Händen halten. Trotzdem gibt es in mir einen Rest magischen Denkens, und so stelle ich mir vor, er könnte dich auf irgendeinem verschlungenen Weg erreichen…“ 29. KIM, Anna Die grosse Heimkehr Buch 2022. @book{KIM2022b, KIM, Anna: „Die grosse Heimkehr“, Berlin 2017 Anna Kim, die in Südkorea geboren wurde und mit 2 Jahren nach Deutschland beziehungsweise mit 5 Jahren nach Wien kam, ist eine Schriftstellerin, die viel Abwechslung bietet. In ihrem letzten Roman „Geschichte eines Kindes“ hadert sie noch mit sich selbst, zu welchem Kulturkreis sie gehöre. Dem Aussehen nach zur asiatischen, in der Art des Denkens aber zur europäischen Kultur. Im Roman der „großen Heimkehr“ zeigt sie sich aber koreanisch und bietet viel Wissen und Informationen der jüngeren Vergangenheit des Landes an. Das Wissen schöpft sie aus vielen Gesprächen mit dem Koreaner Yunho. Er blickt zurück auf seine Erlebnisse mit den Veränderungen Koreas. Die Autorin des vorliegenden Buchs schreibt mit Personen, Proponenten des Romans, die Geschichte Koreas. Es ist ein historischer Roman, der gespickt ist mit Spionagegeschichten und der Erzählung politischer Ereignisse. Es geht um die Teilung in Nord- und Südkorea, wie sich die Großmächte Sowjetunion und USA ihre Einflussbereiche teilten und die ehemaligen Besatzer, die Japaner vertrieben. Diktatur herrschte aber auf beiden Seiten der neu gezogenen Grenze. Zu Beginn mehr im Süden des Landes. Erst mit fortschreitender Regentschaft von Kim Il Sung und seiner Nachfolger verschärfte sich die Diktatur und im Süden wechselte sie zu Demokratie. Die drei Hauptakteure des Romans sind Johnny Kim, Eve Moon und der Erzähler Yunho Kang. Im April 1969 müssen sie vor der, unter dem Schutz der Regierung stehenden antikommunistischen, paramilitärischen Schlägertruppe nach Japan flüchten. Sie geben sich als Geschwister aus und tauchen in einem koreanischen Exilviertel Japans unter. Nordkorea, das sich als das „wahre“ Korea ansieht bietet koreanischen Asylanten in Japan die Rückkehr an. 90.000 folgen dem Aufruf. Im Vergleich dazu verließen 1945 500.000 Menschen den Norden, um in Südkorea einen neuen Anfang zu schaffen. Viele haben ihre Heimat und ihr Glück auch in Nordkorea gefunden, aber viele wurden ausgenutzt, verfolgt und vernichtet. Johnny nimmt von dieser Heimkehr Gebrauch und verschwindet mit der Tochter eines exilkoreanischen, in Japan etablierten Geschäftsmanns. Der Erzähler hat von ihm nie mehr etwas gehört. Auch die vereinbarten Geheimbotschaften, die Zensur überstehen sollten, kamen nicht. Eve, die er liebte und die ihn später verraten hatte und sich als Spionin entpuppte, traf er in Soul, wo er in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zurückgekehrt war, wieder. Sie war mit einem Amerikaner verheiratet und übersiedelte in die USA. Von seinen Freunden, die nach Nordkorea gingen und das Heimkehr-Angebot annahmen hofft er das beste: „Er zieht es vor, zu glauben, dass er, Tomoko, Eiko und Yunsu einander trafen und halfen, über Hungersnöte, Dürreperioden und Überschwemmungen hinweg, dass sie ein glückliches Leben führen und noch immer führen.“ (Seite 552) Aber auch der Erzähler, Yunho, hatte keine leichte Heimkehr nach Südkorea. Auch in seiner Heimat musste er untertauchen, um nicht verfolgt zu werden. Nach verschiedenen Aushilfsarbeiten, mit denen er sich über Wasser hielt, ging er in ein Leprakrankenzentrum, wo niemand hineinwollte, er aber sicher war. Mit den Geheilten wurden Farmen aufgebaut. Erst 1975 verließ er das Lepradorf. Für den Erzähler war es ein Loslassen der Vergangenheit und die Autorin Anna Kim machte daraus einen sehr lesenswerten Roman, der nicht nur spannend ist, sondern Leute aus dem Westen in die historischen Verhältnisse dieser asiatischen Region einführt. 30. KIM, Anna 2022. @book{KIM2022, KIM, Anna: „Geschichte eines Kindes“, Berlin 2022 „Als Autorin werden mir von Zeit zu Zeit Geschichten geschenkt. Geschichten, die mehr sind als Geschichten, Geschichten, die Welten in sich tragen.“ So beschreibt die Autorin das vorliegende Buch in ihrer Einleitung. Sie sieht es als ein „äußerst kostbares Geschenk“, solche Texte zu bekommen und sie fühlt sich auch verpflichtet damit verantwortungsvoll und respektvoll umzugehen. Im ersten Kapitel erzählt sie dann, dass sie 2013 ein Semester als „Writer in Residence“ im mittleren Westen der USA verbrachte. Mit der ihr angebotenen Gästewohnung der Universität war sie unzufrieden und übersiedelte in ein Zimmer einer alten Dame, von der sie die Protokolle aus der Kindheit ihres Mannes bekam. Der Ehemann dieser Frau war ein weggelegtes Kind. Seine junge Mutter gab das Kind zur Adoption frei. Da sich aber herausstellte, dass es eventuell einen „colored“ Vater hatte und die Mutter nicht bereit war den Namen des Mannes zu nennen, wurde die Adoption beziehungsweise das Sorgerecht für das Kind sehr kompliziert. Experten arbeiteten an einer rassistischen Zuordnung, die aus heutiger Sicht befremdend wirkt. „Daniel hat nun eine leichte Trichternase, sie ist etwas breiter und derber im Vergleich zu unserer Nase. Die Obernase ist jedoch dabei, sich zu erheben. An ihr ist gut erkennbar, dass es sich bei ihm um ein Rassengemisch handelt – sein Gesicht erinnert an unseres, obwohl noch Primitives darin zu spüren ist.“ (Seite53) Für Adoptiv- oder Pflegeeltern ist es ein Hindernis, ein andersfärbiges Kind anzunehmen. So wird etwa bei einem interessierten Pflegeelternpaar vermerkt: „Ein farbiges Kind sei ein Risiko: Walt, der in einer Stadtverwaltung arbeite, habe einen Ruf zu verlieren. Es würde viel Gerede um Daniel (dem Baby) geben.“ (Seite 58) Selbst die katholische Einrichtung fand es „unverantwortlich, ein herrenloses Kind in eine bestehende, gesunde Familie zu bringen.“ (Seite 62) Die Verschiedenheit im Aussehen ruft auch bei der Autorin, deren Mutter Asiatin und der Vater Europäer ist, viel Nachdenkliches hervor, dem sie im Text Platz einräumt. Eine aus Wien stammende Sozialarbeiterin war mit der Betreuung des Mischling-Babys verantwortlich. Bis zur Klärung der Vaterschaft blieb es in der Obhut eines kirchlichen Hauses. Die junge Sozialarbeiterin arbeitete sehr genau und dokumentierte alles. Als Kim die Protokolle bekommt, ist der 1953 geborene Mann allerdings ein Pflegefall geworden. Anna Kim arbeitete sich durch die übergebenen Unterlagen, führte viele Gespräche und fand in Wien die Tochter der ehemaligen Sozialarbeiterin. Aus all dem Material wurde dieses sehr spannende Buch zusammengestellt. Es zeigte auch, dass die Rasse eines Menschen in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht nur unter den Nationalsozialisten Deutschlands wichtig war, sondern auch im so freien Amerika. Im Buch sind die Texte der Protokolle unverändert abgedruckt. Sie geben dadurch einen Einblick in die Denkweise der damaligen Zeit. In Amerika wurden andere Rassen – wie in Deutschland die Juden – nicht ermordet, aber doch gemieden. Normalerweise ist die Zeit eines „Writers in Residence“ dazu da, um ungestört an einem Manuskript zu arbeiten. Anna Kim kam aber mit viel neuem Material aus ihrem USA Aufenthalt zurück und letztlich entstand dieses Buch. Ein Zeitzeugnis, das sich über zwei Kontinente erstreckt. Ob man sich dieses wertvollen Ergebnisses auch im Gastgeberland bewusst ist ? 31. BULGAKOW, Michail Der Meister und Margarita Buch 2022. @book{BULGAKOW2022, BULGAKOW, Michail: „Der Meister und Margarita“, München 2021 Nachdem ich das Buch gelesen hatte, war meine erste Reaktion „Ein verrückter Roman“. Dem folgte aber die zweite Reaktion mit „Grandios verrückt“. Es geht hier einerseits um verrückt gewordene Menschen, die aber andererseits im Rahmen einer Diktatur, wie sie eben unter Stalin war, eine gesellschaftliche Situation auszudrücken versuchten. Moskau wurde vom Teufel heimgesucht. Mit Gehilfen treibt er sein Unwesen. Menschen sterben, werden verführt. Mit Zaubertricks stürzt er die Gesellschaft ins Chaos. So wird das Leben in der Stadt Moskau der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts geschildert. Bulgakow setzt sich aber auch mit „Gut“ und „Böse“, „Gott“ und „Teufel“ und „Leben“ und „Tod“ auseinander. „Was würde das Gute anfangen, wenn es das Böse nicht gäbe? Wie würde die Erde aussehen, wenn die Schatten von ihr verschwänden? Es sind schließlich Dinge und Menschen, die Schatten werfen. … Willst du die ganze Erde verwüsten, alles Grün und alles Leben von ihr reißen, weil du die Grille hast, reines Licht zu genießen? Dumm bist du.“ (Seite 499/500) Einer der Proponenten ist ein junger Dichter, der einen Roman über die letzten Tage von Pontius Pilatus und seiner Auseinandersetzung mit Jesus, den er verurteilt hatte, schrieb. In verschiedenen Kapiteln des Buches scheint diese Erzählung auf. Und damit stellt er auch den Bezug zwischen den Moskauer Bürgern und Pontius Pilatus her: es ist die Feigheit sich aufzulehnen und nicht systemkonform zu handeln. Zum Schluss gehen sie alle in die „ewigen Jagdgründe“ ein. Sowohl Pilatus als auch die Hauptproponenten des Teufels gehen in das „ewige Haus“. Bulgakow ist wohl der berühmteste russische Dichter des 20. Jahrhunderts, wenngleich er erst nach seinem Tod weit verbreitet wurde. Er hatte Probleme mit der Diktatur und Stalin. Eigentlich war er ausgebildeter Arzt, quittierte diesen Beruf aber, um nicht in den Krieg (Erster Weltkrieg) einrücken zu müssen. 1920 wurde er Schriftsteller. Der in Kiew geborene Russe zieht nach Moskau, wo er auch sein ganzes Leben wegen Reiseeinschränkungen lebte. Am Roman „Der Meister und Margarita“ schrieb er zwölf Jahre. Es gab verschiedenste Fassungen. Erst nach seinem Tod (er starb 1940) erschien 1966 eine erste, von der Zensur stark verkürzte Version. Die erste unzensurierte Version erschien 1973 und erst in den 1990er Jahren kamen es zu einer millionenfachen Auflage. Im „Nachtrag“ gesteht die Übersetzerin, dass sie ohne dieses Buch nicht existieren würde. Ihr Vater hatte sich bei einer Frau, die später ihre Mutter wurde, das Buch ausgeborgt … 32. SCHOLL, Susanne Omas Bankraub Buch 2022. @book{SCHOLL2022, SCHOLL, Susanne: „Omas Bankraub“, Salzburg Wien 2022 Susanne Scholl ist eine eifrige Schreiberin. Meine private Datenbank meldet, dass ich zehn Bücher von ihr habe. Ich versuche Neuerscheinung möglichst schnell zu bekommen. So auch dieses Buch, dass sich im Stil doch etwas von den neun Vorgängern, die ich bisher gelesen habe, unterscheidet. Das Buch baut primär auf Dialogen der handelnden Personen auf. Diese erzählen sich gegenseitig ihre Geschichten. Die Proponenten sind vier ältere Frauen, die sich regelmässig treffen und auch gegenseitig aushelfen. Sie kommen aus unterschiedlichen sozialen Gesellschaftsschichten. Eine ist eine pensionierte Volksschullehrerin, eine (erfolglose) Musikerin, eine Krankenschwester und die Hauptperson Anna, die eine, unter chronischem Geldmangel leidende Pensionistin aus gutbürgerlichem Haus ist. Was alle vereint ist, dass sie zu wenig Geld haben. Sie wollen das gemeinsam lösen und versuchen es auf verschiedene Weise. Sie veranstalteten einen privaten Flohmarkt, der nichts einbrachte. Dann boten sie Kurse für Kochen, Tanzen und Malen an. Auch das war wirtschaftlich kein Erfolg. Letztlich verfielen sie auf die Idee eine Bank zu überfallen. Laienhaft – fast wie in einem Kabarett – wird der Cup vorbereitet, den sie dann selbst abbrechen. Letztlichen leben alle mit ihrem „zu wenig Geld“ weiter und sorgen sich um die Kinder, Enkelkinder und andere. Es ist ein einfacher Roman, der aber vom Konstrukt und vom Aufbau interessant ist. Vier ältere Frauen, die sich einerseits Gedanken und Überlegungen machen, wie sie zu Geld – von dem sie alle zu wenig haben - kommen können und andererseits sorgen sie sich um Dinge, auf die sie keinen Einfluss mehr haben. 33. GRILL, Evelyn Der Nachlass Buch 2022. @book{GRILL2022, GRILL, Evelyn: „Der Nachlass“, Salzburg Wien 2022 Eine „alte Frau“ – im Romantext wird sie auch so anonym bezeichnet - erzählt aus ihrem Leben allein und während der COVID19 Pandemie. Sie ist eine alte Frau, die „nicht mehr weiß, ob sie sich jetzt in der Außen- oder in ihrer Innenwelt befindet.“ (Seite 8) Verordnungen sagen, dass sie als alter Mensch geschützt werden muss. Nicht verstehen kann sie, warum gerade alte Menschen als vulnerabel bezeichnet werden. Die jüngeren, die noch im Arbeitsprozess stehen, sind doch die wichtigeren einer Gesellschaft. Warum sind sie nicht oberste Priorität beim „Schützen“? „Es fragte, soviel sie wusste, niemand die Vulnerablen, ob sie so vorsorglich behandelt werden wollten, ob sie ganz keimfrei aufbewahrt werden wollten, und die Frage schien auch nicht nötig, weil es jedermann klar, unhinterfragbar klar war, dass jeder Mensch jeder Behandlung zustimmen würde, die ihn vor dem Tod bewahrte, und jeder Hundertjährige verstand, dass man nicht einen einzigen Keim, kein Virus in seine Nähe lassen durfte, auch keinen kühlen Luftzug.“ (Seite 18) Viele der staatlichen Verordnung versteht die alte Frau nicht. Die Geschichte hatte solche Situationen ja auch schon in früheren Zeiten gehabt. So siniert sie und mein: „In Pestzeiten half den Menschen damals wohl Musik und nicht ein Babyelefant.“ (Seite 21) Weiters meint sie – und damit sprach sie vielen Menschen aus der Seele – „Man hat ihr die Freiheit genommen, sich zu gefährden.“ (Seite 34) Das Wort „Lockdown“ erinnert sie an ein Gefängnis und an Eingesperrtsein. Im Laufe des Buches erlebt man die verschiedenen Stadien der Pandemie aus Sicht einer alten Frau. Etwa, wie es erste Lockerungen gibt und dann wieder schließen alle Geschäfte. Obwohl: „Wenn die Waffengeschäfte offen sind, dann sind die Buchhandlungen geschlossen, das ist hier so die Regel, die man nicht verstehen muss. Sie versteht sowieso vieles nicht mehr. Sie ist ja schon alt.“ (Seite 54) Sie erzählt aus einem 100 Jahre alten Lehnstuhl heraus, der einer Tante gehörte, die im Zweiten Weltkrieg als Jüdin alles zurücklassen musste und ins KZ transportiert wurde, wo sie umkam. Ein Beispiel dessen, wie es alten Menschen in der Einsamkeit geht. Eine Situation die durch staatliche Verwaltungen noch verstärkt wird. Sie vergleicht ihre Situation mit der während des Hitlerregimes. In den Zeiten der Quarantänen kramt sie in alten Unterlagen und findet eine Mappe mit Briefen ihrer Vorfahren aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. So auch einen Abschiedsbrief von ihrer Tante, von der sie diesen Lehnstuhl, in dem sie sitzt geerbt hat, bevor sie ins KZ übersiedelt. In einem Brief einer Bekannten aus dem Jahr 1946 – also nach dem Krieg – erfährtt sie, dass ihre Tante Paula vergast wurde und ihre Mutter verhungert ist. Daraus schließt sie, dass sie eine „Übriggebliebene“ ist. Am Ende träumt sie in ihrem Stuhl, „Dass es geheißen hat, dass wir wieder ins Kaffeehaus gehen dürfen und Zeitungen lesen und dass die Regierung zurückgetreten ist…“ (Seite 107) Die Autorin – selbst 80 Jahre alt – erzählt auch aus eigener Erfahrung und kann deswegen das Leben dieser Proponentin sehr gut beschreiben. Sie kann sich hineinfühlen in so ein Menschenleben. Kein wirklich spannender und schöner Roman, aber ein Zeitzeugnis einer alten Frau, die mit den staatlichen Regulierungen der COVID-Pandemie leben muss. 34. MANNHART, Urs Geschwind oder Das mutmaßlich zweckfreie Zirpen der Grillen Buch 2022. @book{MANNHART2022, MANNHART, Urs: „Gschwind oder Das mutmaßlich zweckreie Zirpen der Grillen“, Berlin 2021 Der Besuch des Forums „Literatur&Wein“ im Stift Göttweig hatte sich allein mit dem Kennenlernen des Schriftstellers Mannhart aus der Schweiz bezahlt gemacht. Leider kam ich erst jetzt zum Lesen dieses Buches. Es spielt in einem Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Umwelt. Die Hauptperson – Gschwind ist ein führender Manager eines internationalen Konzerns, der sich mit dem Abbau von seltenen Mineralen beschäftigt. Der Roman beginnt damit, dass zwei Höhlenforscher nach einem unterirdischen Tauchvorgang eine seltene Erde finden, die für den Bau von Batterien wichtig sind. Sofort interessiert sich auch der Konzern für dieses Gebiet und der Generaldirektor beauftragt Gschwind, den Berg mit dem unterirdischen Schatz zu kaufen. Seiner Karriere willen scheut er auch nicht davor zurück eine Urkunde zu fälschen und sich als Landwirt auszugeben, um so das Recht zum Kauf des Bauernhofs mit dem Umland zu bekommen. Der Sohn des aufstrebenden und erfolgreichen Manager verläßt wenige Monate vor Abschluss seine Schule und gründet eine alternative Schule, die sich in einem Blockhaus ohne Strom und sanitäre Anlagen befindet. Gschwinds Frau unterstützt den Sohn bei seinem Projekt und letztlich verlässt sie ihren Mann, der nur selten zu Hause ist, auch noch. Sie sei in den Nachbarn verliebt. Für Gschwind stürzt nicht eine Welt, sondern mehrere zusammen. Sein Sohn verläßt die Schule und wird ein Wirtschaftsgegner, seine Frau will sich scheiden lassen, seine Firma steht unter schweren Vorwürfen der Bestechung, seine Mutter – eine erfahrene Bootskapitänin – setzt ein neues Schiff bei der Jungfernfahrt auf Grund. Er kann dem inneren Druck nur schwer standhalten. Nachdem er sein Bett in den Keller verlegt hatte und auch dort nicht schlafen kann, „bewaffnet“ er sich mit einer Bohrmaschien und durchlöchert den Rumpf des Bootes seines Nachbarn. Zurück von einer Dienstreise in Südamerika besucht er seine Mutter und Großmutter. Bedingt durch Probebohrungen (was nicht bewiesen werden kann), um die seltenen Erden zu lokalisieren, verliert der angrenzende See Wasser und es kommt zu schweren Erdbeben. Bei einem solchen kommt auch er mit seinem Auto zu Schaden. In seinem Auto befindet sich eine riesige Summe Schwarzgeld, die er für den Kauf des Grundstücks über den Mineralvorkommen verwenden sollte. Er erwacht im Spitalsbett und verläßt das Krankenhaus, kommt aber nicht zu seinem Auto, ja er muss zusehen, wie neuerliche Steinlawinen den Tesla total zerstören. In seinem Wohnhaus sucht er Zuflucht. Seine Frau verrät ihn und er wird verhaftet. Am Ende befindet er sich im Gefängnis. Sein Nachbar, der Liebhaber seiner Frau, ist mit dem Boot ertrunken und er, Gschwind, wegen Mordes angeklagt. Sein Chef, der wegen der Bestechung eingekerkert ist wird zur selben Zeit wie Gschwind aus der Untersuchungshaft entlassen. Sie dürfen aber die Schweiz nicht verlassen. Sie tun es aber mit einem Privatjet. Selbst einmal im Management gearbeitet, fand ich die Beschreibung des Szenarios in diesem Bereich sehr professionell und wirklichkeitsnahe. Ausgelöst hat dieses Spektakel um die Gewinnung eines seltenen Rohstoffs ein Amateur-Taucherpaar, die eine unerforschte Höhle fanden. Von dort nahmen sie einen Stein mit, der lange in der Wohnung der Frau lag. Sie wollte ihn schon wegwerfen, brachte ihn aber letztlich zu einer Freundin in der ETH Zürich, die ihn untersuchte und das seltene Mineral feststellte. Daraus verfasste der Autor Mannhart diese furiose Geschichte, die sich sehr gut liest. 35. Al-Mousli, Luna Um mich herum Geschichten Buch 2022. @book{Al-Mousli2022, AL-MOUSLI, Luna: „Um mich herum Geschichten“, Frankfurt 2022 Die Autorin ist in Damaskus geboren und lebt heute in Wien. Als Designerin und Graphikerin ist sie in Österreich integriert. Als Autorin kann sie aber ihre Erlebnisse aus der Heimat Syrien nicht verbergen. Schon ihr erstes Buch handelte von Damaskus („Eine Träne, ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus“). Im vorliegenden Buch erzählt sie in fünf Geschichten aus dem Leben von Geflüchteten. Nicht extreme Abenteuergeschichten, sondern die menschliche Seite, wenn man „verpflanzt“ wird und aus dem eigenen Land gehen muss. Al-Mousli macht es in einer sehr interessanten Form. Die Geschichten werden meist von Dingen des jeweils Betroffenen erzählt. Im ersten Kapitel ist es ein Computer, der erzählt, wie seine Besitzerin, eine ältere Frau, ihre Erlebnisse niederschreibt. Der Computer agiert wie eine Person und erzählt, wie sie, die Proponentin, als erste Frau nicht nur die Grundschule abgeschlossen hat, sondern auch an der Universität studiert hat. Im Exil verfolgt sie alle Nachrichten aus dem Radio, Fernsehen und sozialen Medien. Sie engagiert sich und ist Computersüchtig geworden. Die Töchter sorgen sich um sie. Zu Beginn flog sich noch manchmal heim, als aber dann die Flüge nach Damaskus eingestellt wurden, blieb nur mehr das Internet als Verbindung. Im zweiten Kapitel ist es eine Abschlussurkunde der Universität, die von ihrem Besitzer erzählt. Achtlos wurde sie nach einer Übersiedlung hinter einer Tür abgestellt und bald ging das Glas in Bruch. Sie, die Urkunde, erzählt aber alles, was sie sieht. Wie es einem Syrier ging, der flüchtete, eine Familie gründete und sich die Familie durch Scheidung wieder auflöste, erzählt seine Oud, ein Gitarre ähnliches Musikinstrument. Seiner Frau hatte er versprochen, mit ihr „in guten, wie in schlechten Zeiten zusammen zu bleiben, aufeinander aufzupassen und sich nicht aus den Augen zu verlieren.“ (Seite 47) Aber zusammenbleibt er mit seinem Musikinstrument, mit dem er öffentlich und für Freunde spielt. Das Ding Oud als Partnerin ist ihm aber zu wenig. Sein Leben kommt ins Trudeln. Er verfällt dem Alkohol und letztlich geht die Oud in Bruch. Weiter geht es mit einem syrischen Vater, der sich zum Studienabschluss seines Sohnes einen neuen Anzug kauft, den er aber nie trägt. Seine Frau organisiert mit anderen Frauen den Schmuggel von Medikamenten in die Kriegsgebiete des Landes. Sie schweißen sie in Damenbinden ein, die von keinem Wachsoldaten geprüft werden. Die Scham eines Muslims ist dazu zu groß. Erst als sie ins Exil gehen wird ihm von einer Frau der Anzug aus dem ausgebombten Haus gebracht. Am Weg dahin wurde er gefoltert. Ein Haustorschlüssel erzählt den Lebensweg einer Frau, wie sie trotz Kriegs blieb und wo sie ihren Bruder, der untertauchen musste, aufnimmt. „Das Brot wurde teurer. Sie blieb. Ich blieb. Neureiche wurden gefeiert. Sie blieb. Ich blieb. Die Winter wurden kälter. Wir blieben.“ (Seite 120) 36. MEDUSA, Mieze Was über Frauen geredet wird Buch 2022. @book{MEDUSA2022, MEDUSA, Mieze: „Was über Frauen geredet wird“, Salzburg Wien 2022 Die Autorin mit dem Künstlernamen Mieze Medusa ist eine bekannte Rapperin. 2008 erschien ihr erster Roman. Heuer „Was über Frauen geredet wird“. Dabei kommen auch ihre Erfahrungen mit der Musik zum Vorschein: Texte der Rapperin und Musikerfahrungen. In einer Art Zugabe am Ende des Buches – sie nennt es „Bonus Track“ – liefert sie den Text zum Rapp „Strahl aus, rappe oder werde still“. Der Titel des Buches heißt zwar „Was über Frauen geredet wird“, aber die Rolle der Frauen wird von Frauen selbst erzählt. Im Roman kommen fast ausschließlich junge Frauen vor. Sie geben Einblick in die Szene der Jüngeren. Ihren Zugang zum Leben und zum Thema Beziehungen. So wird etwa bei einer Hochzeit nicht die Braut, sondern der Bräutigam entführt. Wie ein roter Faden zieht sich die Darstellung der Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft durch. „Es gibt in Österreich mehr Bürgermeister, die Franz heißen, als Bürgermeisterinnen.“ (Seite 110) Die Hauptschauplätze des Romans sind Innsbruck und Wien, die beide detailgenau erzählt werden. Für zwei Szenen rückt auch Venedig ins Bild. Über Wien – und da schlägt die Rapperin durch – sagt sie etwa: „Das Schlimmste an Wien ist der Februar. Es ist dunkel, sagt die Vernunft. Es ist, was es ist, sagt der Winter. Es ist Unglück, sagt die Berechnung. Es ist nichts bis März, sagt die Angst. Es ist aussichtslos, sagt der Nebel. Es ist, was es ist, sagt der Winter.“ (Seite 55) Innsbruck dagegen wird für seine Schönheit und Nähe zur Natur gelobt und beschrieben, wenngleich es eine Stadt ist, die für junge Menschen fast unerschwinglich zum Wohnen ist. Wie schon gesagt, im Roman treten fast ausschließlich Frauen auf. Eine der Ausnahmen ist der Freund von Freds Schwester, die ihn auch heiratet. Eines der Kapitel des Buches handelt von der Hochzeit in Innsbruck. Hier kommen die beiden Frauenkreise aus Wien und Innsbruck zusammen. Fred, die eigentlich Fredericke heißt, lebt in Wien. Mit über 40 Jahren hat sie noch keine klare Lebensposition bezogen. Zwar hatte sie, als ihre Wohnungsmitbewohnerin schwanger wird und der Vater davon nichts wissen will, von dieser Freundin ein Heiratsangebot bekommen, das sie überrascht und abgelehnt hat. Die Freundschaft ging in Brüche und sie musste aus der schönen Wohnung ausziehen und eine winzige, laute Herberge direkt am Wiener Gürtel beziehen. Bei einem Ausflug mit Freundinnen, die in Venedig einen Film drehen bleibt sie allein zurück, um über ihr Leben nachzudenken. Das Hochwasser – Aqua Alta – gibt ihr Hoffnung, denn „die Menschen hier begegnen dem Hochwasser als wäre es eine Nebensache. Wieder eine Katastrophe gemeistert, wieder gut durch eine Krisensituation gekommen.“ (Seite 260) Das Buch wurde in der Zeit von COVID19 Pandemie, hoher Inflation und Krieg in der Ukraine geschrieben. Die Erkenntnis der Akteurin Fred kann jedem Leser, jeder Leserin vielleicht auch helfen, denn sie nimmt diesen Mut aus Venedig mit: „Wird schon. Wirst sehen. Muss ja.“ Auch Schriftstellerinnen haben ein Seelenleben und Mieze Medusa zeigt es als Doris Mitterbacher in ihrem abschließenden Dank. Ein Nachwort, dass sich grundlegend von Danksagungen in Büchern unterscheidet und ein literarischer Teil ist. Während der Schreibarbeiten ist ihre Mutter gestorben und sie sagt über sie: „Meine Mutter hat viele gute Eigenschaften, über drei möchte ich hier sprechen: Sie hat außerordentlich gut Dinge mit sich selbst ausmachen können. Wenn sie darüber nachgedacht hat, die Welt zu verbessern, hat sie bei sich selbst angefangen. Und sie war richtig gut im Packen. So auch hier: ihr Tod am 2. Juni 2022 war trotz schwerer Krankheit für uns unerwartet, hat uns aber Dank ihrer Vorbereitungen und der Gespräche mit ihr, nicht unvorbereitet getroffen. Was für eine Leistung das ist, beginne ich gerade erst zu erahnen. … „Was über Frauen geredet wird“ ist das erste meiner Bücher, die sie nicht lesen wird.“ (Seite 269) 37. JUNG, Jochen Das Buch. Dinge des Lebens Buch 2022. @book{JUNG2022, JUNG, Jochen: „Das Buch. Dinge des Lebens“, Salzburg Wien 2022 Mit einem Buch über das Buch zu schreiben. Eine echte Herausforderung. Es beginnt mit einem kurzen Abriss der Geschichte von den Anfängen der Menschheit bis zum „Sich Mitteilen“ und letztlich zum Dichten. Als erster Inhaltsschwerpunkt wird die Liebe hervorgehoben. „Die Menschen leben und lieben einander … kein Wunder, dass die damit verbundenen Themen die häufigsten der erzählenden Dichter sind.“ (Seite 8) Obwohl man beim Lesen allein ist, bekommt man Kontakt zu vielen Menschen und Gesellschaften. Der Autor hatte in seinem Leben einen intensiven Kontakt mit Büchern. Er war Lektor und letztlich sogar Verlagsleiter in jenem Verlag, in dem dieses Buch über „Das Buch“ erschienen ist. Seine Beziehung zum Buch geht aber auf seine Familie zurück. Sein Großvater mütterlicherseits war Dichter und hinterließ viele Bücher. Die Mutter hat die Liebe zu Büchern von ihrem Vater übernommen, wie er – Jung – von ihr. Auch dem Vater waren Bücher wichtig und von ihm erbte er alte Ausgaben. Neben der eigenen Familie war es aber sein Beruf, der ihm mit vielen Autoren Bekanntschaften und Freundschaften einbrachte. In diesem Büchl outet er sich und erzählt von seinem Verhältnis zu H.C. Artmann, Peter Handke und Thomas Bernhard. Beruflich musste er viele Manuskripte und Bücher lesen. Viele davon fielen in die Kategorie „Arbeitspflicht“. Dem kann ich als Rezensent von bisher über 1000 Büchern nur beipflichten. Auch ich habe viele Bücher (10.000) und schätze sie. Noch mehr schätze ich es aber, wenn sie eine Widmung des Autors tragen. Für Herrn Jung ist es auch wichtig, zu wissen, von wem er welches Buch bekommen hat. Also Widmungen vom Schenker. Bücher sind auch ein Teil des eigenen Lebens. Bücher, die man früher gelesen hat, sagen auch etwas aus, welcher Mensch man damals war. Später ein frühes Buch zur Hand zu nehmen und wieder zu lesen ist auch ein zurückschauen in die eigene Vergangenheit. Bücher kosten, im Vergleich zu anderen kulturellen Veranstaltungen, wenig Geld. Sie verlangen vom Konsumenten, vom Leser aber Zeit, die er sich nehmen muss, um den Content zu konsumieren, das Geschriebene zu öffnen. Menschen, die Literarisches schreiben, haben selbst viel gelesen und müssen dann ein Verhältnis zu IHREN Lesern aufbauen, wobei Schönheit der Texte eine wichtige Eigenschaft ist. Lyrik kommt aus dem altgriechischen Lyra, einem Musikinstrument. Musik und Text gehören zusammen. Geschriebene Texte kommen zu einem Rhythmus, einer Musik. Nicht nur der Inhalt eines Buches ist wichtig, sondern auch seine sprachliche Darstellung. In einem Postskriptum – am Ende des Buches – nimmt Jochen Jung auch Bezug auf das Lesen von Notenbüchern, von Partituren, die man beim Hören der Musik mitliest. So bekommt das Geschriebene auch Töne. 38. GSTREIN, Norbert 2022. @book{GSTREIN2022, GSTREIN, Norbert: „Vier Tage vier Nächte“, München 2022 Norbert Gstrein hat in den vorliegenden Roman sehr viel hineingepackt, ohne dass es aber an anspruchsvoller detaillierter Beschreibung fehlt. Drei Hauptakteure prägen den Roman: Ines und Elias, die Kinder eines Hoteliers und Carl der Freund von Elias. Ines und Elias sind nur Halbgeschwister und pflegen ein, über die Freundschaft und Geschwisterlichkeit hinausgehendes Verhältnis. Ines hat viele Beziehungen mit Männern, die immer wieder zu Trennungsszenarien führen, bei denen der Bruder einschreiten muss. Elias hat ein homosexuelles Verhältnis mit seinem Kollegen Carl. Noch vor einiger Zeit war es wichtig, dass der Autor in einen Roman auch sexistische Geschichten einbaute, um den Verkauf des Buches anzuregen. Heute ist es fast ein notwendiges Klischee, über gleichgeschlechtliche Beziehungen zu schreiben. So macht es auch Norbert Gstrein, der nicht nur von der Liebe seines Proponenten Elias zu dessen Halbschwester schreibt, sondern auch zur Beziehung eines Exfreunds der Schwester und eines Freundes aus beruflicher Beziehung. Dabei kommt auch zum Ausdruck, wie liebevoll die Beziehung zwischen Männern sein kann: „Ich hatte ihn meinen kleinen Zeisig genannt, meinen Wiedehopf und meinen Haubentaucher, einen Mann von annähernd ein Meter neunzig, der mich mit seinen Armen umschlingen und in die Luft heben konnte wie ein Kind, und er mich seine Goldamsel, sein Rotkehlchen sowie seinen Stieglitz oder vielmehr Stiegelitz nannte.“ (Seite 191) Das Buch gliedert sich in fünf Abschnitte. Im ersten wird die Geschichte der beiden Geschwister aus der Sicht von Elias erzählt. Die große Liebe zur Halbschwester und das schlechte Verhältnis zum Vater. Der Vater, der in Amerika Erfahrungen gesammelt hatte, wollte auch seinen Kindern die USA näherbringen und zahlte ihnen einen Aufenthalt. Der Tochter ein Studium und dem Sohn eine Helikopterausbildung, nachdem dieser sein Wirtschaftsstudium erfolglos abgebrochen hatte. Aber auch diese Ausbildung endete ohne Abschluss, und um die negativen Ereignisse beim Fliegen zu verarbeiten, nahm er die Hilfe einer Therapeutin ins Anspruch, was im zweiten Abschnitt beschrieben wird. Im Kapitel „Ich bin ihr Bruder“ kommen alle drei Hauptakteure zusammen und der Freund von Elias, Carl, tritt in das Geschehen ein. Er wird auch von der Schwester akzeptiert. Sie verbringen die Weihnachtsfeiertage im Berliner Haus von Ines und, um hier Abwechslung in die trostlose Zeit der COVID19 Quarantäne zu bringen, erzählen sie sich Geschichten. Jeder seine erste Liebe. Diese sehr unterschiedlichen Geschichten werden dann im vierten Abschnitt des Romans detaillierter beschrieben. Jene von Carl in englischer Sprache, weil er sie in seiner Zeit in Amerika erlebte und in der „Originalsprache“ wiedergeben wollte. Ines kündigt ihre Stelle an der Universität als Expertin der Literaturwissenschaften. Mit finanzieller Hilfe des Vaters zieht sie sich auf die Insel Sizilien zurück und versucht selbst einen Roman zu schreiben. Im Sommer treffen die drei hier zusammen und Ines weiht sie in ihr Projekt ein, was letztlich zu einem Eklat kommt. Dieser letzte Buchabschnitt beschreibt indirekt den Roman von Ines. Die Autorin beschreibt ihr Werk so: „Es ist eine Dreiecksgeschichte. Gehobenes Milieu, alles aufgeklärte, tolerante Leute, und sie geht trotzdem auf katastrophale Weise schief.“ (Seite 319) Vieles hat sie aus dem eigenen Leben hineingearbeitet. Das Dreieck besteht aus einem anerkannten älteren Professor, seiner jungen und aktiven Frau, die neben der Ehe viele Verhältnisse hat, diese ihrem Mann aber nicht verschweigt. Er akzeptiert das, bis einer der Liebhaber ein Schwarzer ist. Der Titel „Vier Tage drei Nächte“ bezieht sich auf zwei Ereignisse: Einerseits lädt der Vater von Elias unerlaubterweise trotz Quarantäne durch die COVID19 Pandemie Gäste in sein Hotel für drei Nächte ein und andererseits verbringen die drei Hauptakteure des Romans – Ines, Elias und Carl – vier Tage zu Weihnachten miteinander. 39. Fagerholm, Monika 2022. @book{Fagerholm2022, FRAGERHOLM, Monika: „Wer hat Bambi getötet?“, Salzburg Wien 2022 Der Residenzverlag bringt die in Finnland anerkannte und ausgezeichnete Autorin dem deutschsprachigen Leserpublikum näher. Es beginnt mit dem Mädchen Emmy, das in der eigentlichen Handlung erst am Ende auftritt. Emmys erste Liebe starb bei einem Busunglück des Sportvereins. Sie tröstet dessen Schwester Saga-Lill und die beiden Mädchen werden Freundinnen. Emmy hat einen neuen Freund. Nachdem sie sich von ihm getrennt hat, lebt er mit der Freundin Saga-Lill zusammen, was die Beziehung der beiden jungen Frauen stört. Sie verzeiht es auch ihrem Ex-Freund Gusten nicht, dass er sich mit ihrer Freundin zusammengetan hat. Irgendwie sieht sie das wie einen Verrat. Gustens Mutter ist Opernsängerin und das neue Paar fährt zu einer Vorstellung der Mutter nach Wien. Emmy heiratet einen älteren Mann. Gusten bleibt aber ihre große und geheime Liebe. Sie formulierte es während ihres Zusammenlebens so: „Ich will die Liebe leben, nicht darüber reden. Die Liebe leben, wie die Musik, wie etwas, das nicht erklärt werden muss …“ (Seite 139) Die Geschichten werden aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Einerseits aus Emmys Sicht und dann wieder Saga-Lills Version. Die Proponenten leben in einem kleinen Vorort von Helsinki. In einem Villenviertel, wo normal angesehene Menschen leben. Die zwei jungen Frauen kommen aber vom Land. Durch die Heirat mit dem älteren Mann steigt Emmy in die Hierarchie der Villenbewohner auf. Der Kern des Romans geht aber auf eine Gruppenvergewaltigung zurück. Vier Freunde haben ein Mädchen vergewaltigt. Das Ganze fand im Haus einer einflussreichen Familie statt. Die Mutter wurde erst kürzlich zur Präsidentin einer prominenten Wirtschaftsstiftung gewählt und der Vater ist ein anerkannter Richter. Mit dem Gewicht dieser Eltern hätte man den Vorfall vertuschen können und auch wollen. Aber da war Gusten, einer der vier Täter, der das Mädchen geknebelt und gefesselt im Studio des Freundes fand. Der Freund war abgehauen und hatte sich in einem Wochenendhaus der Familie verschanzt. Gusten ist geschockt, als er das Mädchen findet und bringt es ins Spital. Sie selbst will nicht, dass er zur Polizei gehe. Sie erfand eine Geschichte. Sie sei im Wald von einer Gang, an deren Gesichter sie sich nicht erinnern könne, überfallen wollen. Gusten aber geht zur Polizei. Es wird ein Skandal. Die erst kürzlich zur Präsidentin erhobene Mutter wird von einem Fernsehteam überrascht und sie äußert sich unflätig, nennt die Journalisten Kommunisten, was die Angelegenheit in alle Medien bringt. Sie wurde überrascht „von Journalisten und Fotografen und gezwungen, eine Stellungnahme abzugeben. Wild um sich schlagen, jeder Vernunft, jeder Realität, jeder Wirklichkeit zum Trotz, denn schließlich weiß sie es schon, aber Gehirn und Gefühle und Auffassungsvermögen sind auf sonderbare Weise miteinander verbunden, was in Situationen von extremem Druck sowohl zu Verleugnung als auch zu Fehleinschätzung führen kann und infolgedessen zu absurdem Verhalten: „Kommunistenpresse!““ (Seite 145) Gusten, der wie ein eigenes Kind im Haus des Freundes aus- und einging, weil seine Mutter – eine Opernsängerin – oft auf Tournee war, wurde als Verräter aus dem Haus geschmissen. Gusten kann aber keine Rachegefühle entwickeln. „Es klappt einfach nicht; also ist das wohl seine Veranlagung. Das zeigt sich auch ein bisschen im Job; beispielweise ist er völlig außerstande, seine Aufgaben als irgendeine Art von Leistung zu verstehen, die erbracht wird, um jemanden aus dem Feld zu schlagen. Um zu gewinnen, um der Beste zu sein oder so was in der Art.“ (Seite 125) Letztlich steht nur die eine, reiche und einflussreiche Familie im Blickpunkt der Medien. Für sie bricht vieles zusammen und nach einigen Jahren liest Gusten, dass die Mutter seine ehemaligen Freundes und Mittäters verstorben sei. Die Eltern der „Täter“ treffen sich regelmäßig während des Prozess und besprechen die Vorgangsweise. Reich sind sie fast alle und so leisten sie sich einen Medienberater, um richtig in der Öffentlichkeit aufzutreten und so indirekt den Prozess zu beeinflussen. Man tritt aber nicht nur für die eigenen Kinder ein, sondern macht auch das vergewaltigte Mädchen in der Öffentlich schlecht. Sie komme ja aus der sozialpädagogischen „Einrichtung für Verhaltensgestörte und Kleinkriminelle, die das Mädchenheim ebenfalls war. Und die Delikte, die Sascha sich zuschulden kommen hat lassen (kleine, die aber natürlich größer wurden, wenn man über sie sprach) und für die man eigentlich ins Gefängnis kam, wenn man nicht minderjährig war.“ (Seite 197) Sie selbst, Sascha sprach vor Gerichts nichts. Nur die Beschuldigten kamen zu Wort. Das Urteil fiel gut aus. Drei der Beschuldigten wurden freigesprochen, nur der Sohn der angesehenen Familie – Nathan – bekam eine bedingte Gefängnisstrafe. Seine Mutter kommentierte es vor der Presse so: „Jetzt blättern wir die Seiten um. Und eines schönen Tages haben wir so viele Seiten umgeblättert, dass nichts von alldem passiert ist.“ (Seite 209) Die Buben wurden in eine psychiatrische Behandlung geschickt. Gusten sogar in eine Irrenanstalt eingeliefert. Die Mutter von Nathan verlor ihren angesehen Job und versuchte es erfolglos mit einer neuen Organisation, bis sie selbst Krebskrank nach einiger Zeit starb. Ihr Mann setzte sich mit einer Freundin in die Schweiz ab. Gusten aber hadert mit seiner Vorgangsweise, die Polizei eingeschalten zu haben. Letztlich erfährt er vom misshandelten Mädchen Sascha, dass ihre Mutter Schwarzgeld geboten bekam, um die Sache zu verschweigen. Seine Mutter versucht ihn zu erinnern: „Aber du wurdest ja nicht verurteilt, mein lieber Junge. Du wurdest doch freigesprochen!“ (Seite 221) Der Sohn aber fragte sich „Wie konnte er weiterhin in dieser Welt sein?“ (Seite 223) und er will sich von einer Brücke stürzen, wo ihn aber die Mutter seines ehemaligen Freundes Nathan zurückhält. Erst als er Emmy kennenlernt (der Leser kommt mit ihr gleich zu Beginn des Buches in Kontakt), fast er Boden unter den Füßen und beginnt ein Studium an einer Schauspielschule und gewinnt einen Preis für seine erste Dichtung. Der Titel „Wer hat Bambi getötet?“ stammt von einem Song der Band „Pistols“ und einer der vier „Vergewaltiger“ versucht sich als Filmproduzent und nennt sein Erstlingswerk auch so, wie dieses Buch. Emmy, eine der Hauptakteurinnen, wurde für den Poster des Films mit einem Kaninchen fotografiert. Die Handlung des Romans ist sehr sprunghaft und macht es dem Leser nicht leicht zu folgen. So ist das letzte Kapitel der Erzählung eigentlich der Beginn. 40. BOZSOKI, Jürgen CAMINO-WELT, Mein Pilgerweg durch Philosophie und Theologie Artikel In: 2022. @article{BOZSOKI2022, BOZSOKI, Jürgen: „CAMINO-WELT, Mein Pilgerweg durch Philosophie und Theologie“, Wien 2021 Ein Pilgertagebuch kombiniert mit philosophischen und theologischen Überlegungen. Der Tod einer Freundin führt den Autor zu einem Neuanfang und er versucht dies mit einer Wallfahrt von Saint Jean-Pied-de-Port nach Santiago. Im Zuge dieser Pilgerwanderung kommt er selbst zum Nachdenken und lernt andere Pilger mit deren Problemen kennen. Dem jeweiligen Problem stellt er die Idee eines Philosophen oder Theologen gegenüber. Um den Tod der Freundin zu verarbeiten nimmt er Anleihen bei verschiedenen Philosophen. Auch ein mit ihm wandernder Priester öffnet sich ihm und erklärt, warum er Priester wurde. Gegenseitig helfen sie sich bei der Bewältigung ihres Lebens. Auch über den Sinn und der Position Gottes nimmt der Autor philosophische Anleihen wie etwa bei Aristoteles, der den Anstoß unseres Lebens, unserer Welt im „unbewegten Beweger“ sieht. Wissenschaftler nennen es Urknall. Aber was war vor dem Urknall? Für Thomas von Aquin ist vorher etwas, das man „Gott“ nennen kann. Hegel sah zwischen Sein und Nichts als Synthese das WERDEN. Diese philosophischen Überlegungen sind eingebettet in der Erzählung der Wanderung. Den Anstoß zum jeweiligen Thema geben immer Pilger, auf die der Autor während der Pilgerung trifft. Da ist eine ältere brasilianische Frau, die ihren Präsidenten verehrt und im rechten, diktatorischen Lager das Heil der Welt sieht. Hier kommt der Philosoph Machiavelli zu Wort. Er „versucht nicht, wie politische Philosophen vor ihm,die Welt zu sehen, wie sie sein soll, um moralische Grundsätze zu formulieren. Denn die Menschen sind für ihn grundsätzlich schlecht, egoistisch und hinterlistig. Deshalb ist es aus seiner Sicht besser, grausam zu sein, als milde. Liebe kann als Schwäche aufgefasst werden.“ (Seite 91) Platon kann wiederum nur der Aristokratie etwas abgewinnen. Die Brasilianerin ist auch kämpferisch und es kommt zu einem Streit mit einem muslimischen Pilger. Letztlich versöhnen sich die Beiden in der Gemeinsamkeit des Diktatorischen. Bei der Frage zur Existenz Gottes greift der Theologe sogar auf die Mathematik zurück und belegt diesen mit Berechnungen von Werner Gitt und Peter W. Stoner. Erstaunlicherweise werden bei diesem, doch religiösen Thema nicht nur Theologen und Philosophen, sondern auch Naturwissenschaftler wie Descartes zitiert. Descart etwa beim Versuch zwischen Realität und Traum zu unterscheiden. Im Laufe des Buches wird man als Leser mit den wichtigsten Philosophen zu verschiedensten, wichtigen Themen der Menschheit konfrontiert. Die Proponenten des Buches sind der Autor selbst, ein italienischer Priester, ein Naturwissenschafter, der unheilbar krank in einigen Monaten seinen Tod erleben wird, eine konservative Katholikin aus Brasilien, eine junge Frau, die schon einmal diesen Weg gegangen ist und dabei von einem Pilger geschwängert wurde, ein gläubiger Moslem und ein pensionierter Buchhalter. Wie in einem Theaterstück kommt es am Ziel in Santiago de Compostela zu einem großen Finale. Zwar wird es, je näher die Pilger an das Ziel herankommen immer kommerzieller und die sogenannten „Disney-Pilger“, die nur die letzten Kilometer gehen, bevölkern die Wege. Ohne es zu wissen, entpuppte sich der mitpilgernde Priester der Gruppe als wichtige Persönlichkeit und sie werden zu einem Empfang mit dem Erzbischof geladen. Ein Finale, wie es ein normaler Pilger des „Camino“, wie der spanische Pilgerweg heißt, nicht erlebt. |
Die komplette Liste
2022
VÁSQUEZ, Juan Gabriel
Lieder für die Feuersbrunst Buch
2022.
@book{VÁSQUEZ2022,
title = {Lieder für die Feuersbrunst},
author = {Juan Gabriel VÁSQUEZ},
year = {2022},
date = {2022-06-13},
abstract = {Hinterbrühl-Wöglerin-Heiligenkreuz-Hinterbrühl,
Montag 13. Juni 2022
Endlich wieder länger schlafen. Nini machte es möglich, dass wir heute, am ersten Tag nach dem Urlaub, nicht mit Florian zur Schule gehen mussten. Ich war zwar um ½ 7 Uhr auf, bin aber irgendwie doch wieder eingeschlafen. Um 9 Uhr standen wir dann auf und frühstückten. Ich setzte mich dann aufs Rad und fuhr über Gaaden, Sulz zur Wöglerin hinauf und in Gruberau hinunter nach Heiligenkreuz, wo ich im Gastgarten einen Kaffee trank. Der neue Radweg nach Gaaden ist fast fertig. Nach zwei Stunden war ich wieder zu Hause. Ich merkte beim Fahren, dass ich noch nicht fit bin. Die Verkühlung oder was immer das mit den Viren war, steckt noch in mir und ich hoffe, dass es bis zu meiner Radtour ausgeheilt ist. Lorli kochte dann Dinge, die sie im Kühlschrank hatte. Nach dem Mittagessen fuhr sie einkaufen. Ich schrieb einige Tage im Tagebuch nach. Als sie nach Hause kam aß ich ein Eis, das sie mitbrachte und dann machten wir uns einen Kaffee. Im Garten hatte ich den Liegestuhl aufgestellt. Am späteren Nachmittag schnitt ich dann die Hecke und auch jene bei Nini. Den Schnitt brachte ich noch in die grüne Mülltonne. Am Abend hatten wir ein Telefonat mit Magda. Sie klang noch sehr verschnupft und beide – auch Peter – haben große Nachwirkungen ihrer Coronakrankheit. Magda hatte ihren Geschmackssinn verloren, der aber langsam wieder zurückkommt. Beide sind sie aber immer müde und es ist ihnen ständig im Magen schlecht. In zwei Wochen wollen sie in Urlaub fahren und hoffen, dass sie bis dahin geheilt sind. Seit Langem sahen wir wieder Abendnachrichten im Fernsehen. Eigentlich habe ich das Interesse dazu verloren, weil dies alles sehr dumm und primitiv ist. Später kam Nini und gratulierte mir zum Vatertag. Am Abend habe ich das Buch von Vásquez ausgelesen. Zwei Wochen lag es unbenützt in meinem Reisegepäck.
VÁSQUEZ, Juan Gabriel: „Lieder für die Feuersbrunst“, Frankfurt 2021
Seminare, Konferenzen, Tagungen und Symposien sind Einrichtungen zum Lernen; zur Weiterbildung. Lebenslanges Lernen. So auch die Literaturtage „Literatur & Wein“, die jedes Jahr im Stift Göttweig stattfinden. Die Veranstalter verstehen es immer schon bekannte Dichter und jene, die (vielleicht nur in unserem Land) noch nicht so bekannt sind zu präsentieren. Also neue. Weiterbildung.
So ging es mir mit Juan Gabriel Vásquez aus Kolumbien. In seinem Heimatland ist er ein bekannter Schriftsteller und nun kennen ihn auch wir Österreicher. Als einfachen Einstieg in die Dichtkunst von Vásquez empfehle ich die „Lieder für die Feuersbrunst“. Neun Kurzgeschichten sind in diesem Buch zusammengefasst. Sie erzählen von aufs erste belanglos wirkenden Szenen. Unabhängig von der großartigen Ausdrucksweise des Schreibers, stellen sie sich dann doch als Meilensteine der Weltgeschichte dar.
„Frau am Ufer“: Einleitend erklärt er, dass er über Menschen nur schreibt, wenn er deren Einwilligung bekommen hat. So war es auch bei einer Geschichte, die ihm eine Fotografin erzählte. Sie spielt auf einer kolumbianischen Farm, wo sie einige Tage entspannenden Urlaub machte und eine Gruppe um einen bekannten Politiker kennenlernte. Bei einem Ausritt stürzt eine Frau vom Pferd. Sie ist schwer verletzt. Da sie eine Vertraute des Politikers ist, macht sich dieser Sorgen und es kommt zu nächtlichen Gesprächen zwischen der Fotografin und dem Politiker. Zwanzig Jahre später trifft sie diese Frau wieder in derselben Farm. Es kommt zum Gespräch, bei dem die fremde Frau die Fotografin aber nicht erkennt.
„Der Doppelgänger“: Zwei Freunde wurden zum Militärdienst eingezogen. Einer war nicht tauglich. Der andere bekam seine Stelle und starb im Krieg. In der Geschichte werden die Gewissensbisse des Überlebenden literarisch verarbeitet.
„Die Frösche“: Bei einem Kriegsveteranentreffen tritt eine Frau auf, die dem Erzähler bekannt vorkommt. Er erinnert sich. Sie war eine vornehme Frau. Die Verlobte eines Offiziers, der im Krieg war. Sie wurde schwanger. Er, der Erzähler, verdiente sich damit Geld, Frösche für ein Labor zu sammeln. Die Frösche wurden dafür verwendet, um festzustellen, ob eine Frau schwanger war. Die Frau, die er hier wieder traf, sprach ihn vor dem Labor an und bat ihn, ihr einen Schwangerschaftstest machen zu lassen, bei dem sie anonym bleiben konnte.
„Schlechte Nachrichten“: Während seines Paris Aufenthalts lernt Vásquez einen ehemaligen amerikanischen Militärpiloten kennen. Es passiert, während eines, auf einem Großbildschirm am Pariser Rathaus übertragenen Fußballmatches, in dem die USA gegen den Iran spielen und der Iran gewinnt. Der Helikopterpilot erzählt von seiner Stationierung in der amerikanischen Militärbasis Rota, die ihre größte in Europa ist. Der fremde Amerikaner erzählt auch von einem talentierten Pilotenkollegen und der Schriftsteller fragt sich laufend „Warum erzählt mir der das?“ Dieser Pilot sei bei einem Unfall umgekommen, und er, sein Freund, sollte die Frau informieren. Detailliert erzählt er, wie er die schlechte Meldung weitergab.
Nach einigen Jahren übersiedelt der Schreiber dieser Kurzgeschichte nach Barcelona und die Militärbase Rota kam ihm wieder in den Sinn. Bei einem Familienurlaub in Malaga sucht er die Witwe auf und bekommt eine gänzlich andere Version erzählt.
„Wir“: Ein Freund war verschwunden. Spurlos war er weg. Seine Freunde spekulieren und interpretieren. Über soziale Medien werden Kommentare abgegeben. Der Dichter lässt daraus eine Kurzgeschichte entstehen.
„Flughafen“: Der Schreiber dieser Geschichte wurde als Statist für einen Film engagiert, der auf einem Pariser Flughafen gedreht wurde. Dabei lernt er den Regisseur Polanski kennen. Aus der Sicht eines einfachen Statisten beschreibt Vásquez das Entstehen einer Filmszene
„Die Jungen“: In einem Nobelviertel, einem gut bewachten Compound entstand eine Jungendbande. Söhne von wohlhabenden Eltern werden zu Schlägern. Auf Vorschlag eines Bandenmitglieds wird eine Mordszene nachgestellt. Zwei Welten, die hier aufeinandertreffen: die Reichen und die verwahrlosten Kinder.
„Der letzte Corrido“: Der Autor erhielt den Auftrag, eine lateinamerikanische Band bei ihrer Spanientournee zu begleiten und einen Bericht darüber zu schreiben. Sie treten in Barcelona, Valencia, Madrid und am Ende in Cartagena auf. Er wurde von den Bandmitgliedern behandelt „wie ein Gast, der auf dem Fest nicht willkommen war.“ Er war für sie ein „literarischer Paparazzo“. Letztlich stellte er fest, dass die Band dieselbe Tournee vor 5 Jahren schon gemacht hatte. Nach dem letzten Konzert schied ihr Gründer und Leadsänger aus. Er gestand Krebs zu haben sich den Kehlkopf rausschneiden zu lassen. Damit verlor er seine Stimme. Der bekannte Sänger wurde stimmlos. Er wollte aber das letzte Konzert noch singen, weil aus dieser Tournee eine Schallplatte entstehen sollte. „All die Tage hat er sich Kortison gespritzt, allein in seinem Zimmer. Hat die Spitzen selbst aufgezogen, da muss man schon ein Kerl sein.“ (Seite 180) erzählte ihm der derzeitige Leadsänger. Sehr emotionell wird hier von einer Konzerttournee geschrieben, die es aber fünf Jahre vorher schon gegeben hat und nach der sie den Gründer der Band, die 1968 entstand, verloren hatten. Der „Paparazzi Vásquez“ zeigt sich in dieser Geschichte als literarischer Akrobat, der Emotionen beschreibt, die keinen Leser tränenlos zurücklassen.
„Lieder für die Feuersbrunst“: Eine Geschichte, die aus Recherchearbeiten für einen Roman entstanden sind. Die Hauptperson ist eine junge Frau, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als uneheliche Tochter eines kolumbianischen Soldaten in Europa geboren wurde. Der Vater stirbt im Krieg, die Mutter versucht sich zu den Großeltern nach Kolumbien, wo diese eine Kaffeeplantage besitzen, durchzuschlagen. Der Autor beschreibt, wie sich das Mädchen nach einer Schulbildung in einem Klosterinternat sehr liberal entwickelt und zur Journalistin avanciert. Vieles stellt sie in Frage und wird auf einem Friedhof begraben, wo nur jene beerdigt werden, denen die Kirche eine Bestattung am offiziellen (katholischen Friedhof) verweigert.
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Montag 13. Juni 2022
Endlich wieder länger schlafen. Nini machte es möglich, dass wir heute, am ersten Tag nach dem Urlaub, nicht mit Florian zur Schule gehen mussten. Ich war zwar um ½ 7 Uhr auf, bin aber irgendwie doch wieder eingeschlafen. Um 9 Uhr standen wir dann auf und frühstückten. Ich setzte mich dann aufs Rad und fuhr über Gaaden, Sulz zur Wöglerin hinauf und in Gruberau hinunter nach Heiligenkreuz, wo ich im Gastgarten einen Kaffee trank. Der neue Radweg nach Gaaden ist fast fertig. Nach zwei Stunden war ich wieder zu Hause. Ich merkte beim Fahren, dass ich noch nicht fit bin. Die Verkühlung oder was immer das mit den Viren war, steckt noch in mir und ich hoffe, dass es bis zu meiner Radtour ausgeheilt ist. Lorli kochte dann Dinge, die sie im Kühlschrank hatte. Nach dem Mittagessen fuhr sie einkaufen. Ich schrieb einige Tage im Tagebuch nach. Als sie nach Hause kam aß ich ein Eis, das sie mitbrachte und dann machten wir uns einen Kaffee. Im Garten hatte ich den Liegestuhl aufgestellt. Am späteren Nachmittag schnitt ich dann die Hecke und auch jene bei Nini. Den Schnitt brachte ich noch in die grüne Mülltonne. Am Abend hatten wir ein Telefonat mit Magda. Sie klang noch sehr verschnupft und beide – auch Peter – haben große Nachwirkungen ihrer Coronakrankheit. Magda hatte ihren Geschmackssinn verloren, der aber langsam wieder zurückkommt. Beide sind sie aber immer müde und es ist ihnen ständig im Magen schlecht. In zwei Wochen wollen sie in Urlaub fahren und hoffen, dass sie bis dahin geheilt sind. Seit Langem sahen wir wieder Abendnachrichten im Fernsehen. Eigentlich habe ich das Interesse dazu verloren, weil dies alles sehr dumm und primitiv ist. Später kam Nini und gratulierte mir zum Vatertag. Am Abend habe ich das Buch von Vásquez ausgelesen. Zwei Wochen lag es unbenützt in meinem Reisegepäck.
VÁSQUEZ, Juan Gabriel: „Lieder für die Feuersbrunst“, Frankfurt 2021
Seminare, Konferenzen, Tagungen und Symposien sind Einrichtungen zum Lernen; zur Weiterbildung. Lebenslanges Lernen. So auch die Literaturtage „Literatur & Wein“, die jedes Jahr im Stift Göttweig stattfinden. Die Veranstalter verstehen es immer schon bekannte Dichter und jene, die (vielleicht nur in unserem Land) noch nicht so bekannt sind zu präsentieren. Also neue. Weiterbildung.
So ging es mir mit Juan Gabriel Vásquez aus Kolumbien. In seinem Heimatland ist er ein bekannter Schriftsteller und nun kennen ihn auch wir Österreicher. Als einfachen Einstieg in die Dichtkunst von Vásquez empfehle ich die „Lieder für die Feuersbrunst“. Neun Kurzgeschichten sind in diesem Buch zusammengefasst. Sie erzählen von aufs erste belanglos wirkenden Szenen. Unabhängig von der großartigen Ausdrucksweise des Schreibers, stellen sie sich dann doch als Meilensteine der Weltgeschichte dar.
„Frau am Ufer“: Einleitend erklärt er, dass er über Menschen nur schreibt, wenn er deren Einwilligung bekommen hat. So war es auch bei einer Geschichte, die ihm eine Fotografin erzählte. Sie spielt auf einer kolumbianischen Farm, wo sie einige Tage entspannenden Urlaub machte und eine Gruppe um einen bekannten Politiker kennenlernte. Bei einem Ausritt stürzt eine Frau vom Pferd. Sie ist schwer verletzt. Da sie eine Vertraute des Politikers ist, macht sich dieser Sorgen und es kommt zu nächtlichen Gesprächen zwischen der Fotografin und dem Politiker. Zwanzig Jahre später trifft sie diese Frau wieder in derselben Farm. Es kommt zum Gespräch, bei dem die fremde Frau die Fotografin aber nicht erkennt.
„Der Doppelgänger“: Zwei Freunde wurden zum Militärdienst eingezogen. Einer war nicht tauglich. Der andere bekam seine Stelle und starb im Krieg. In der Geschichte werden die Gewissensbisse des Überlebenden literarisch verarbeitet.
„Die Frösche“: Bei einem Kriegsveteranentreffen tritt eine Frau auf, die dem Erzähler bekannt vorkommt. Er erinnert sich. Sie war eine vornehme Frau. Die Verlobte eines Offiziers, der im Krieg war. Sie wurde schwanger. Er, der Erzähler, verdiente sich damit Geld, Frösche für ein Labor zu sammeln. Die Frösche wurden dafür verwendet, um festzustellen, ob eine Frau schwanger war. Die Frau, die er hier wieder traf, sprach ihn vor dem Labor an und bat ihn, ihr einen Schwangerschaftstest machen zu lassen, bei dem sie anonym bleiben konnte.
„Schlechte Nachrichten“: Während seines Paris Aufenthalts lernt Vásquez einen ehemaligen amerikanischen Militärpiloten kennen. Es passiert, während eines, auf einem Großbildschirm am Pariser Rathaus übertragenen Fußballmatches, in dem die USA gegen den Iran spielen und der Iran gewinnt. Der Helikopterpilot erzählt von seiner Stationierung in der amerikanischen Militärbasis Rota, die ihre größte in Europa ist. Der fremde Amerikaner erzählt auch von einem talentierten Pilotenkollegen und der Schriftsteller fragt sich laufend „Warum erzählt mir der das?“ Dieser Pilot sei bei einem Unfall umgekommen, und er, sein Freund, sollte die Frau informieren. Detailliert erzählt er, wie er die schlechte Meldung weitergab.
Nach einigen Jahren übersiedelt der Schreiber dieser Kurzgeschichte nach Barcelona und die Militärbase Rota kam ihm wieder in den Sinn. Bei einem Familienurlaub in Malaga sucht er die Witwe auf und bekommt eine gänzlich andere Version erzählt.
„Wir“: Ein Freund war verschwunden. Spurlos war er weg. Seine Freunde spekulieren und interpretieren. Über soziale Medien werden Kommentare abgegeben. Der Dichter lässt daraus eine Kurzgeschichte entstehen.
„Flughafen“: Der Schreiber dieser Geschichte wurde als Statist für einen Film engagiert, der auf einem Pariser Flughafen gedreht wurde. Dabei lernt er den Regisseur Polanski kennen. Aus der Sicht eines einfachen Statisten beschreibt Vásquez das Entstehen einer Filmszene
„Die Jungen“: In einem Nobelviertel, einem gut bewachten Compound entstand eine Jungendbande. Söhne von wohlhabenden Eltern werden zu Schlägern. Auf Vorschlag eines Bandenmitglieds wird eine Mordszene nachgestellt. Zwei Welten, die hier aufeinandertreffen: die Reichen und die verwahrlosten Kinder.
„Der letzte Corrido“: Der Autor erhielt den Auftrag, eine lateinamerikanische Band bei ihrer Spanientournee zu begleiten und einen Bericht darüber zu schreiben. Sie treten in Barcelona, Valencia, Madrid und am Ende in Cartagena auf. Er wurde von den Bandmitgliedern behandelt „wie ein Gast, der auf dem Fest nicht willkommen war.“ Er war für sie ein „literarischer Paparazzo“. Letztlich stellte er fest, dass die Band dieselbe Tournee vor 5 Jahren schon gemacht hatte. Nach dem letzten Konzert schied ihr Gründer und Leadsänger aus. Er gestand Krebs zu haben sich den Kehlkopf rausschneiden zu lassen. Damit verlor er seine Stimme. Der bekannte Sänger wurde stimmlos. Er wollte aber das letzte Konzert noch singen, weil aus dieser Tournee eine Schallplatte entstehen sollte. „All die Tage hat er sich Kortison gespritzt, allein in seinem Zimmer. Hat die Spitzen selbst aufgezogen, da muss man schon ein Kerl sein.“ (Seite 180) erzählte ihm der derzeitige Leadsänger. Sehr emotionell wird hier von einer Konzerttournee geschrieben, die es aber fünf Jahre vorher schon gegeben hat und nach der sie den Gründer der Band, die 1968 entstand, verloren hatten. Der „Paparazzi Vásquez“ zeigt sich in dieser Geschichte als literarischer Akrobat, der Emotionen beschreibt, die keinen Leser tränenlos zurücklassen.
„Lieder für die Feuersbrunst“: Eine Geschichte, die aus Recherchearbeiten für einen Roman entstanden sind. Die Hauptperson ist eine junge Frau, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als uneheliche Tochter eines kolumbianischen Soldaten in Europa geboren wurde. Der Vater stirbt im Krieg, die Mutter versucht sich zu den Großeltern nach Kolumbien, wo diese eine Kaffeeplantage besitzen, durchzuschlagen. Der Autor beschreibt, wie sich das Mädchen nach einer Schulbildung in einem Klosterinternat sehr liberal entwickelt und zur Journalistin avanciert. Vieles stellt sie in Frage und wird auf einem Friedhof begraben, wo nur jene beerdigt werden, denen die Kirche eine Bestattung am offiziellen (katholischen Friedhof) verweigert.
Bartoszewski, Wladyslaw
Es lohnt sich anständig zu sein. Meine Erinnerungen. Mit der Rede zum 8.Mai Buch
2022.
@book{Bartoszewski2022,
title = {Es lohnt sich anständig zu sein. Meine Erinnerungen. Mit der Rede zum 8.Mai},
author = {Wladyslaw Bartoszewski},
year = {2022},
date = {2022-05-30},
abstract = {BARTOSZEWSKI, Wladyslaw: „Es lohnt sich anständig zu sein. Meine Erinnerungen. Mit der Rede zum 8.Mai“, Freiburg 1995
Ein großartiger Mensch, der in diesem Buch seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben hatte. Dabei zeigt er sich auch als ausgezeichneter Schriftsteller. Ich durfte ihn mehrmals treffen und konnte so selbst erleben, welches Charisma von diesem Menschen ausging. Vor allem aber ist er ein sehr verzeihender Mensch. Mehrmals war er eingesperrt – unter den Nationalsozialisten, den Russen und der polnischen Regierung. Acht Jahre seines Lebens verbrachte er in Kerkern. Er war Häftling in Auschwitz, obwohl er kein Jude war, diesen aber geholfen hatte. „Weil ich eine große Nase habe, wurde auch ich für einen Juden gehalten.“ (Seite 30) „In Auschwitz“, so schreibt er, „wurden wir erniedrigt … Am 22. September 1940 kam Lagerkommandant Fritsch und sagte „Ja, seht ihr den Kamin da drüben, seht ihr dort drüben, dort ist das Krematorium. Alles zum Krematorium, 3000 Grad Hitze.“ (Seite 42) Bartoszewski hat die ersten Menschen gesehen, die zum Verbrennen gebracht wurden. Zu Weihnachten wurde für die Häftlinge ein Tannenbaum aufgestellt, der mit elektrischen Kerzen beleuchtet war. Darunter legte man nicht Geschenke, sondern Lagerleichen.
Im Untergrund hat er gekämpft und damit sein Leben riskiert. Er sieht einen Grund in der Judenverfolgung in den Ursprüngen der katholischen Religion. „Die Juden haben unseren Jesus ermordet.“ (Seite 32)
Und trotz all dieser Erlebnisse war er nicht nachtragend und versuchte nicht voreingenommen zu sein. Bartoszewski ist nicht verbittert und er sann nicht nach Rache, „ganz im Gegenteil. Ich möchte junge Menschen in allen Ländern Europas und der Welt das ersparen, was ich erleben musste.“ (Seite 68) Er kann dies, weil er zwischen System und Mensch unterscheidet. „Ich halte die einzelnen Menschen nicht für schuldig, auch nicht meine Vernehmungsoffiziere. Auch nicht die, die mich unter diesem System verurteilt haben. Ich unterscheide zwischen System und Mensch. In dem Sinn suche ich nicht die Rache, auch nicht die prinzipielle Abrechnung. Ich suche die Abrechnung von oben, nicht von unten her. Nicht von denen, die die Befehle angenommen haben, sondern von denen, die sie befohlen haben.“ (Seite 110)
Sehr persönlich werden weltpolitische Ereignisse erzählt, wie etwa die Kriegserklärung Englands und Frankreichs an Deutschland. „Es war etwa 12,30 Uhr, der Priester predigte. Plötzlich kam ein Bote mit einem Zettel, und der Priester sagte „Ich unterbreche jetzt meine Predigt, denn ich muss eine gute Nachricht verlesen. Wir sind nicht allein, Großbritannien ist in den Krieg eingetreten für unser Land.“ Er stimmte das „Te Deum laudamus“ an. Alle Menschen in der Kirche weinten.“ (Seite 27) Als Sanitäter erlebte er den Krieg vor seiner Haustür. „Aber die Brandbomben fielen auf den Rasen und ich sah, wie die Menschen, Frauen, Männer, Junge, Alte, Kinder, auf diesem riesigen Vorplatz wie Fackeln verbrannten, schreiend und weinend, andere ohnmächtig still. Brandbomben wie Lichter am Weihnachtsbaum. Lebende Menschen, lebende Fackeln, bei lebendigem Leib verbrannt.“ (Seite 29)
Aussagen über die Situation Warschaus im Zweiten Weltkrieg erinnern an die heutige Situation in der Ukraine.
Auf Vermittlung Heinrich Bölls kam er 1965 erstmals ins Ausland und nach Deutschland wo er sich für ein friedliches Zusammenleben der beiden Völker Deutschland und Polen einsetzte. „Es kann keine allgemeine Rache geben. Ein allgemeines Gefühl der Rache bringt dem Rächer noch größeren Schaden als dem Opfer, weil er in seinem Rachegefühl nicht mehr zu sich selbst zurückfindet.“ (Seite 99)
Bartoszewski ist ein wichtiger Zeitzeuge und in diesem Buch hält er das Erlebte für die nachkommenden Generationen fest. „Ich habe dieses Land nicht gewählt. Ich habe Auschwitz nicht ausgesucht. Auch habe ich in Polen den Einmarsch der Russen nicht begeistert begrüßt. Ich hätte bei uns lieber die Amerikaner und die Engländer gesehen. Polen wäre mir als neutrales Land lieber. Mindestens so neutral wie Finnland, eher noch wie Österreich. … Ich lebe in einem Land, wo ich zu einer kleinen Minderheit gehöre. Nicht wegen meiner Weltanschauung, meiner Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, ganz im Gegenteil. Sondern aufgrund der Erfahrung. Zwei Drittel der Menschen bei uns sind nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und erzogen worden. Sie haben diese Erfahrungen nicht.“ (Seite 106) Als Bartoszewski 2015 starb, ging ein wichtiger Zeitzeuge verloren. In diesem Buch bleibt aber sein Gedankengut erhalten.
In der Ausgabe aus dem Jahr 1995 ist am Ende noch eine Rede Bartoszewski vor dem deutschen Bundestag und Bundesrat vom 28. April 1995 abgedruckt. Darin geht Bartoszewski in die deutsch-polnische Beziehung ein. Er verweist darin, dass etwa 100.000 Polen als Soldaten in den Armeen der Alliierten des Zweiten Weltkriegs gekämpft haben. Auch das Verhältnis der Nationalsozialisten zu den Juden und Polen sprach er offen an: „Die Hitler-Okkupation sprach den Juden das Recht auf Leben ab. Den Polen sprach er das Recht ab, Mensch zu sein und behandelte sie als „Untermenschen“, für die es keinen Platz in der gesamteuropäischen Kultur gab. Das stalinistische Nachkriegssystem verabreichte den Polen – ähnlich wie den Deutschen in der DDR – eine „antinationalistische“ Therapie…“ (Seite 123) Unermüdlich setzte sich Bartoszewski für eine friedliche und freundschaftliche Kooperation der beiden Länder ein.
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Ein großartiger Mensch, der in diesem Buch seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben hatte. Dabei zeigt er sich auch als ausgezeichneter Schriftsteller. Ich durfte ihn mehrmals treffen und konnte so selbst erleben, welches Charisma von diesem Menschen ausging. Vor allem aber ist er ein sehr verzeihender Mensch. Mehrmals war er eingesperrt – unter den Nationalsozialisten, den Russen und der polnischen Regierung. Acht Jahre seines Lebens verbrachte er in Kerkern. Er war Häftling in Auschwitz, obwohl er kein Jude war, diesen aber geholfen hatte. „Weil ich eine große Nase habe, wurde auch ich für einen Juden gehalten.“ (Seite 30) „In Auschwitz“, so schreibt er, „wurden wir erniedrigt … Am 22. September 1940 kam Lagerkommandant Fritsch und sagte „Ja, seht ihr den Kamin da drüben, seht ihr dort drüben, dort ist das Krematorium. Alles zum Krematorium, 3000 Grad Hitze.“ (Seite 42) Bartoszewski hat die ersten Menschen gesehen, die zum Verbrennen gebracht wurden. Zu Weihnachten wurde für die Häftlinge ein Tannenbaum aufgestellt, der mit elektrischen Kerzen beleuchtet war. Darunter legte man nicht Geschenke, sondern Lagerleichen.
Im Untergrund hat er gekämpft und damit sein Leben riskiert. Er sieht einen Grund in der Judenverfolgung in den Ursprüngen der katholischen Religion. „Die Juden haben unseren Jesus ermordet.“ (Seite 32)
Und trotz all dieser Erlebnisse war er nicht nachtragend und versuchte nicht voreingenommen zu sein. Bartoszewski ist nicht verbittert und er sann nicht nach Rache, „ganz im Gegenteil. Ich möchte junge Menschen in allen Ländern Europas und der Welt das ersparen, was ich erleben musste.“ (Seite 68) Er kann dies, weil er zwischen System und Mensch unterscheidet. „Ich halte die einzelnen Menschen nicht für schuldig, auch nicht meine Vernehmungsoffiziere. Auch nicht die, die mich unter diesem System verurteilt haben. Ich unterscheide zwischen System und Mensch. In dem Sinn suche ich nicht die Rache, auch nicht die prinzipielle Abrechnung. Ich suche die Abrechnung von oben, nicht von unten her. Nicht von denen, die die Befehle angenommen haben, sondern von denen, die sie befohlen haben.“ (Seite 110)
Sehr persönlich werden weltpolitische Ereignisse erzählt, wie etwa die Kriegserklärung Englands und Frankreichs an Deutschland. „Es war etwa 12,30 Uhr, der Priester predigte. Plötzlich kam ein Bote mit einem Zettel, und der Priester sagte „Ich unterbreche jetzt meine Predigt, denn ich muss eine gute Nachricht verlesen. Wir sind nicht allein, Großbritannien ist in den Krieg eingetreten für unser Land.“ Er stimmte das „Te Deum laudamus“ an. Alle Menschen in der Kirche weinten.“ (Seite 27) Als Sanitäter erlebte er den Krieg vor seiner Haustür. „Aber die Brandbomben fielen auf den Rasen und ich sah, wie die Menschen, Frauen, Männer, Junge, Alte, Kinder, auf diesem riesigen Vorplatz wie Fackeln verbrannten, schreiend und weinend, andere ohnmächtig still. Brandbomben wie Lichter am Weihnachtsbaum. Lebende Menschen, lebende Fackeln, bei lebendigem Leib verbrannt.“ (Seite 29)
Aussagen über die Situation Warschaus im Zweiten Weltkrieg erinnern an die heutige Situation in der Ukraine.
Auf Vermittlung Heinrich Bölls kam er 1965 erstmals ins Ausland und nach Deutschland wo er sich für ein friedliches Zusammenleben der beiden Völker Deutschland und Polen einsetzte. „Es kann keine allgemeine Rache geben. Ein allgemeines Gefühl der Rache bringt dem Rächer noch größeren Schaden als dem Opfer, weil er in seinem Rachegefühl nicht mehr zu sich selbst zurückfindet.“ (Seite 99)
Bartoszewski ist ein wichtiger Zeitzeuge und in diesem Buch hält er das Erlebte für die nachkommenden Generationen fest. „Ich habe dieses Land nicht gewählt. Ich habe Auschwitz nicht ausgesucht. Auch habe ich in Polen den Einmarsch der Russen nicht begeistert begrüßt. Ich hätte bei uns lieber die Amerikaner und die Engländer gesehen. Polen wäre mir als neutrales Land lieber. Mindestens so neutral wie Finnland, eher noch wie Österreich. … Ich lebe in einem Land, wo ich zu einer kleinen Minderheit gehöre. Nicht wegen meiner Weltanschauung, meiner Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, ganz im Gegenteil. Sondern aufgrund der Erfahrung. Zwei Drittel der Menschen bei uns sind nach dem Zweiten Weltkrieg geboren und erzogen worden. Sie haben diese Erfahrungen nicht.“ (Seite 106) Als Bartoszewski 2015 starb, ging ein wichtiger Zeitzeuge verloren. In diesem Buch bleibt aber sein Gedankengut erhalten.
In der Ausgabe aus dem Jahr 1995 ist am Ende noch eine Rede Bartoszewski vor dem deutschen Bundestag und Bundesrat vom 28. April 1995 abgedruckt. Darin geht Bartoszewski in die deutsch-polnische Beziehung ein. Er verweist darin, dass etwa 100.000 Polen als Soldaten in den Armeen der Alliierten des Zweiten Weltkriegs gekämpft haben. Auch das Verhältnis der Nationalsozialisten zu den Juden und Polen sprach er offen an: „Die Hitler-Okkupation sprach den Juden das Recht auf Leben ab. Den Polen sprach er das Recht ab, Mensch zu sein und behandelte sie als „Untermenschen“, für die es keinen Platz in der gesamteuropäischen Kultur gab. Das stalinistische Nachkriegssystem verabreichte den Polen – ähnlich wie den Deutschen in der DDR – eine „antinationalistische“ Therapie…“ (Seite 123) Unermüdlich setzte sich Bartoszewski für eine friedliche und freundschaftliche Kooperation der beiden Länder ein.
Erwin; SCHINDLER PÖNITZ, Ingrid
Mit der SY um die halbe Welt 2016-2020 Artikel
In: 2022.
@article{PÖNITZ2022,
title = {Mit der SY um die halbe Welt 2016-2020},
author = {PÖNITZ, Erwin; SCHINDLER, Ingrid},
year = {2022},
date = {2022-05-18},
abstract = {PÖNITZ, Erwin; SCHINDLER, Ingrid: „Mit der SY um die halbe Welt 2016-2020“, Wien 2022
Erwin Pönitz ist ein Schulfreund aus der Zeit der HTL. Wir saßen mehrere Jahre in der ersten Reihe nebeneinander. Erwin war und ist ein sehr ruhiger und ausgeglichener Mensch. Überraschend erfuhr ich dann, dass er mit seiner Frau nach der Pensionierung ein Segelboot kaufte und mit ihr eine Weltumseglung macht. Dabei ging es nicht um Geschwindigkeit. Sie wechselten von der Wiener Wohnung auf das Wohnen am Schiff und blieben, wo es ihnen gefiel. Zeit hatte einen anderen Stellenwert bekommen. Es war aber auch ein Abenteuer, das man normalerweise mit jungen Jahren macht. Immer wieder gibt es Gefahren, die zu meistern sind. Zuerst musste das Boot kennengelernt werden. Vieles mussten die beiden selbst reparieren, weil Niemand zu Hilfe war und sie irgendwo im weiten Meer unterwegs waren. Ingrid ist Ärztin, was bei so einer Expedition auch wichtig ist und war, denn bei der Atlantik-Querung brach sie sich den Fuß. Zwei Wochen musste sie mit Schmerztabletten und einem provisorisch bandagierten Bein ausharren, bis sie eine Insel erreichten. Die Schwere der Verletzung zeigte dann das Röntgenbild des lokalen Krankenhauses. Zum Operieren flogen sie aber heim und pausierten drei Monate in Wien. Wieder zurück am Boot muss alles wieder auf Schuss gebracht werden und letztlich geht es im Jänner 2018 durch den Panamakanal in den Pazifischen Ozean. Die Galapagos Inseln erleben die beiden Segler in einer Form, wie man es als normaler Tourist nicht kann. Mehrere Inseln werden angefahren und vom Tierleben aus vergangenen Zeiten wird im Buch berichtet und mit schönen Bildern illustriert. Über Französisch-Polynesien geht es nach Neuseeland. Immer wieder kommt es zu Treffen mit Seglern, die sie auf der Reise kennengelernt haben. Verwandte und Freunde kommen nach, um mit ihnen einige Wochen Urlaub zu verbringen. Nach den Fidschi-Inseln und Neukaledonien kehren sie wieder nach Neuseeland zurück, wo letztlich im April 2020 die Reise unterbrochen werden muss. Bedingt durch die ausgebrochene Corona-Pandemie werden sie von der österreichischen Regierung in einem Sonderflug mit ihrer Katze nach Wien zurückgeholt. Die Katze muss in Österreich offiziell einreisen, denn sie hatte bereits die Quarantänebedingungen für Neuseeland und Australien erfüllt und war eine Kiwi-Katze geworden. Die Reise, die 2016 begann endete so 2020 und wird 2022 wieder fortgesetzt. Demnach heißt der Titel des Buchs auch „… um die halbe Welt“.
Spannend ist von den vielen Problemen und Hindernissen der Reise zu lesen. Wie auch bei einem neuen Boot vieles kaputt geht und in entlegenen Gebieten eine Hilfe nur schwierig zu bekommen ist. Das ist das wahre Abenteuer. Oft auch lebensgefährliche Situationen. So wie ihre Katze, der man sieben Leben nachsagt, hatten auch die Beiden mehrere Leben. Erwin und Ingrid – so war mein Eindruck beim Lesen – haben in diesen Pensionsjahren mehr erlebt als viele, viele Menschen in ihrem ganzen Leben.
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Erwin Pönitz ist ein Schulfreund aus der Zeit der HTL. Wir saßen mehrere Jahre in der ersten Reihe nebeneinander. Erwin war und ist ein sehr ruhiger und ausgeglichener Mensch. Überraschend erfuhr ich dann, dass er mit seiner Frau nach der Pensionierung ein Segelboot kaufte und mit ihr eine Weltumseglung macht. Dabei ging es nicht um Geschwindigkeit. Sie wechselten von der Wiener Wohnung auf das Wohnen am Schiff und blieben, wo es ihnen gefiel. Zeit hatte einen anderen Stellenwert bekommen. Es war aber auch ein Abenteuer, das man normalerweise mit jungen Jahren macht. Immer wieder gibt es Gefahren, die zu meistern sind. Zuerst musste das Boot kennengelernt werden. Vieles mussten die beiden selbst reparieren, weil Niemand zu Hilfe war und sie irgendwo im weiten Meer unterwegs waren. Ingrid ist Ärztin, was bei so einer Expedition auch wichtig ist und war, denn bei der Atlantik-Querung brach sie sich den Fuß. Zwei Wochen musste sie mit Schmerztabletten und einem provisorisch bandagierten Bein ausharren, bis sie eine Insel erreichten. Die Schwere der Verletzung zeigte dann das Röntgenbild des lokalen Krankenhauses. Zum Operieren flogen sie aber heim und pausierten drei Monate in Wien. Wieder zurück am Boot muss alles wieder auf Schuss gebracht werden und letztlich geht es im Jänner 2018 durch den Panamakanal in den Pazifischen Ozean. Die Galapagos Inseln erleben die beiden Segler in einer Form, wie man es als normaler Tourist nicht kann. Mehrere Inseln werden angefahren und vom Tierleben aus vergangenen Zeiten wird im Buch berichtet und mit schönen Bildern illustriert. Über Französisch-Polynesien geht es nach Neuseeland. Immer wieder kommt es zu Treffen mit Seglern, die sie auf der Reise kennengelernt haben. Verwandte und Freunde kommen nach, um mit ihnen einige Wochen Urlaub zu verbringen. Nach den Fidschi-Inseln und Neukaledonien kehren sie wieder nach Neuseeland zurück, wo letztlich im April 2020 die Reise unterbrochen werden muss. Bedingt durch die ausgebrochene Corona-Pandemie werden sie von der österreichischen Regierung in einem Sonderflug mit ihrer Katze nach Wien zurückgeholt. Die Katze muss in Österreich offiziell einreisen, denn sie hatte bereits die Quarantänebedingungen für Neuseeland und Australien erfüllt und war eine Kiwi-Katze geworden. Die Reise, die 2016 begann endete so 2020 und wird 2022 wieder fortgesetzt. Demnach heißt der Titel des Buchs auch „… um die halbe Welt“.
Spannend ist von den vielen Problemen und Hindernissen der Reise zu lesen. Wie auch bei einem neuen Boot vieles kaputt geht und in entlegenen Gebieten eine Hilfe nur schwierig zu bekommen ist. Das ist das wahre Abenteuer. Oft auch lebensgefährliche Situationen. So wie ihre Katze, der man sieben Leben nachsagt, hatten auch die Beiden mehrere Leben. Erwin und Ingrid – so war mein Eindruck beim Lesen – haben in diesen Pensionsjahren mehr erlebt als viele, viele Menschen in ihrem ganzen Leben.
HELFER, Monika
Löwenherz Buch
2022.
@book{HELFER2022,
title = {Löwenherz},
author = {Monika HELFER},
year = {2022},
date = {2022-05-15},
abstract = {HELFER, Monika: „Löwenherz“, München 2022
Im Rahmen des Kulturfestivals „Literatur & Wein 2022“ stellte die Autorin dieses Buch vor und las daraus. Mit vielen Büchern kam ich von diesen Lesungen heim. Darunter das Buch über den Bruder der Dichterin, den sie „Löwenherz“ nannte.
Es ist sicher schwer als Frau eines erfolgreichen Schriftstellers selbst schriftstellerisch tätig zu sein. Monika Helfer nimmt in ihrem Buch „Löwenherz“ aber laufend Bezug auf ihn, den bekannteren, den berühmteren, den Dichter Michael Köhlmeier. „Löwenherz“ sollte eine Biografie über ihren verstorbenen Bruder sein, sie erzählt aber mehr von sich selbst und ihrem Mann, als über den Bruder. Ja, die Verwebung zwischen dem Dichtermann und der Dichterfrau geht so weit, dass Manuskripttexte dem Mann vorgelesen werden und dass er Input zum Thema „Bruder“ einbringt.
Wie gesagt; als Leser erfährt man auch viel über die Beziehung von Köhlmeier und Helfer. Wie sie zusammenkamen, wie sich Helfer von ihrem Mann scheiden ließ und wie sie mit ihrem Geliebten, dem jetzigen Ehemann, zusammenkam.
Der Bruder ist und soll aber der Leitfaden des Buches sein. Als die Mutter starb wurden die Kinder aufgeteilt und der Vater ging in ein Kloster. Der Bruder kam zu einer anderen Tante als sie und die zwei Schwestern. So wird erzählt, wie die Mädchen ihren Bruder besuchten. Später wird er dann zum Freund des eigenen Freunds, eben Michael Köhlmeier, weswegen dieser viel Input zum vorliegenden Buch liefern konnte.
Der Bruder war behindert oder anders. Seine Interessen lagen im Erfinden von Geschichten und im Malen von Bildern. Er selbst arbeitete im aussterbenden Beruf des Setzers. Wie ein Clochard hatte er einen Hund, den er Schamasch nannte. „Mein Bruder und Schamasch gehören inzwischen zum Stadtbild. Zwei Käuze. Der Mann mit dem Hund. Dabei war er erst Mitte der zwanzig.“ (Seite 105)
Am Fluss wäre er beinahe ertrunken. Eine junge Frau mit einem kleinen Kind hatte ihn gerettet. Dieses Kind gab sie ihm später zur Pflege, weil sie ja sein Lebensretter sei, solle auch er einen Beitrag leisten. Das Kind blieb bei ihm. Er wusste nicht, wie es hieß, so nannte er es Putzi. Später heiratete er eine sehr vornehme und reiche Frau, eine Anwältin. Sie liebte ihn, trotz oder wegen seiner Seltenheiten. Eine Ehe, in der zwei Personen aus unterschiedlichsten Verhältnissen zusammenkamen. Sie wollte eine richtige Familie und bemühte sich Putzi zu adoptieren, was schief ging. Der Hund wurde zu Silvester im Wald von einem Jäger erschossen und Richard versank emotionell. Tanja, sein Frau blieb ihm treu, bis „der Tod sie schied“. Mit 30 Jahren nahm er sich das Leben.
Monika Helfer erzählt aus Abschnitten ihres Lebens, die mit dem Bruder zu tun hatten. Immer wieder kommt auch Michael, ihr Ehemann ins Bild, der den Bruder, den Schwager vielleicht besser kannte und von dem viele Erinnerungen ins Buch einflossen.},
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Im Rahmen des Kulturfestivals „Literatur & Wein 2022“ stellte die Autorin dieses Buch vor und las daraus. Mit vielen Büchern kam ich von diesen Lesungen heim. Darunter das Buch über den Bruder der Dichterin, den sie „Löwenherz“ nannte.
Es ist sicher schwer als Frau eines erfolgreichen Schriftstellers selbst schriftstellerisch tätig zu sein. Monika Helfer nimmt in ihrem Buch „Löwenherz“ aber laufend Bezug auf ihn, den bekannteren, den berühmteren, den Dichter Michael Köhlmeier. „Löwenherz“ sollte eine Biografie über ihren verstorbenen Bruder sein, sie erzählt aber mehr von sich selbst und ihrem Mann, als über den Bruder. Ja, die Verwebung zwischen dem Dichtermann und der Dichterfrau geht so weit, dass Manuskripttexte dem Mann vorgelesen werden und dass er Input zum Thema „Bruder“ einbringt.
Wie gesagt; als Leser erfährt man auch viel über die Beziehung von Köhlmeier und Helfer. Wie sie zusammenkamen, wie sich Helfer von ihrem Mann scheiden ließ und wie sie mit ihrem Geliebten, dem jetzigen Ehemann, zusammenkam.
Der Bruder ist und soll aber der Leitfaden des Buches sein. Als die Mutter starb wurden die Kinder aufgeteilt und der Vater ging in ein Kloster. Der Bruder kam zu einer anderen Tante als sie und die zwei Schwestern. So wird erzählt, wie die Mädchen ihren Bruder besuchten. Später wird er dann zum Freund des eigenen Freunds, eben Michael Köhlmeier, weswegen dieser viel Input zum vorliegenden Buch liefern konnte.
Der Bruder war behindert oder anders. Seine Interessen lagen im Erfinden von Geschichten und im Malen von Bildern. Er selbst arbeitete im aussterbenden Beruf des Setzers. Wie ein Clochard hatte er einen Hund, den er Schamasch nannte. „Mein Bruder und Schamasch gehören inzwischen zum Stadtbild. Zwei Käuze. Der Mann mit dem Hund. Dabei war er erst Mitte der zwanzig.“ (Seite 105)
Am Fluss wäre er beinahe ertrunken. Eine junge Frau mit einem kleinen Kind hatte ihn gerettet. Dieses Kind gab sie ihm später zur Pflege, weil sie ja sein Lebensretter sei, solle auch er einen Beitrag leisten. Das Kind blieb bei ihm. Er wusste nicht, wie es hieß, so nannte er es Putzi. Später heiratete er eine sehr vornehme und reiche Frau, eine Anwältin. Sie liebte ihn, trotz oder wegen seiner Seltenheiten. Eine Ehe, in der zwei Personen aus unterschiedlichsten Verhältnissen zusammenkamen. Sie wollte eine richtige Familie und bemühte sich Putzi zu adoptieren, was schief ging. Der Hund wurde zu Silvester im Wald von einem Jäger erschossen und Richard versank emotionell. Tanja, sein Frau blieb ihm treu, bis „der Tod sie schied“. Mit 30 Jahren nahm er sich das Leben.
Monika Helfer erzählt aus Abschnitten ihres Lebens, die mit dem Bruder zu tun hatten. Immer wieder kommt auch Michael, ihr Ehemann ins Bild, der den Bruder, den Schwager vielleicht besser kannte und von dem viele Erinnerungen ins Buch einflossen.
NEUWIRTH, Günter
Caffé in Triest Buch
2022.
@book{NEUWIRTH2022,
title = {Caffé in Triest},
author = {Günter NEUWIRTH},
year = {2022},
date = {2022-05-08},
abstract = {NEUWIRTH, Günter: „Caffé in Triest“, Meßkirch 2022
Wenn man das Buch zu lesen beginnt, denkt man, es sei von einem Schriftsteller zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben worden. Der Autor ist aber 1966 geboren und wohnt in Graz. Es muss sehr viel Recherchearbeit dahinter stecken, um so detailgenau die Zeit um 1907 nachzuzeichnen.
Das Buch besteht aus 15 Kapiteln, die jeweils einen Tag beschreiben. Mit über 400 Seiten werden nur 15 Tage, die sich auf die Zeit vom 10. September bis zum 9. Oktober 1907 erstrecken, behandelt. Durch die historischen Rückblicke gibt es aber einen Einblick in einen größeren Zeitraum.
Als Leser bekommt man Zutritt zu verschiedenen Gesellschaftsschichten der damaligen Zeit: dem aus einfachen Verhältnissen aufstrebenden Proponenten Jure, dem Polizeiinspektor Bruno und seiner Welt der Polizei, einem Verbrechermilieu und der Familie eines Seemanns. Auch der, zu dieser Zeit in Triest wohnende irische Dichter James Joyce wird eingebunden und tritt als Englischlehrer auf. Geschickt werden diese verschiedenen Milieus miteinander verstrickt. Nicht in friedlichem Sinne, sondern in einem Kriminalfall.
Ich bin kein Kriminalromanleser. Ja, ich vermeide sie sogar. Im vorliegenden Buch habe ich eine historische Geschichte vermutet und erst in der zweiten Hälfte des Buches musste ich feststellen, dass es sich zu einem Kriminalroman entwickelt. Ich genoss es aber und habe es in kurzer Zeit gelesen, um die Spannung anhalten zu lassen.
Das Buch entführt in die Welt des österreichischen Triests des beginnenden 20. Jahrhunderts mit seinen sozialen Problemen zwischen Italienern, Slowenen und „Deutschen“, wie die Österreicher hier genannt wurden. Wie schon gesagt, entpuppt es sich im Laufe der fortgeschrittenen Seiten als Krimi und endet etwas kitschig. Aber die geistige Reise ins vorige Jahrhundert Triests ist es wert gelesen zu werden.
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Wenn man das Buch zu lesen beginnt, denkt man, es sei von einem Schriftsteller zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben worden. Der Autor ist aber 1966 geboren und wohnt in Graz. Es muss sehr viel Recherchearbeit dahinter stecken, um so detailgenau die Zeit um 1907 nachzuzeichnen.
Das Buch besteht aus 15 Kapiteln, die jeweils einen Tag beschreiben. Mit über 400 Seiten werden nur 15 Tage, die sich auf die Zeit vom 10. September bis zum 9. Oktober 1907 erstrecken, behandelt. Durch die historischen Rückblicke gibt es aber einen Einblick in einen größeren Zeitraum.
Als Leser bekommt man Zutritt zu verschiedenen Gesellschaftsschichten der damaligen Zeit: dem aus einfachen Verhältnissen aufstrebenden Proponenten Jure, dem Polizeiinspektor Bruno und seiner Welt der Polizei, einem Verbrechermilieu und der Familie eines Seemanns. Auch der, zu dieser Zeit in Triest wohnende irische Dichter James Joyce wird eingebunden und tritt als Englischlehrer auf. Geschickt werden diese verschiedenen Milieus miteinander verstrickt. Nicht in friedlichem Sinne, sondern in einem Kriminalfall.
Ich bin kein Kriminalromanleser. Ja, ich vermeide sie sogar. Im vorliegenden Buch habe ich eine historische Geschichte vermutet und erst in der zweiten Hälfte des Buches musste ich feststellen, dass es sich zu einem Kriminalroman entwickelt. Ich genoss es aber und habe es in kurzer Zeit gelesen, um die Spannung anhalten zu lassen.
Das Buch entführt in die Welt des österreichischen Triests des beginnenden 20. Jahrhunderts mit seinen sozialen Problemen zwischen Italienern, Slowenen und „Deutschen“, wie die Österreicher hier genannt wurden. Wie schon gesagt, entpuppt es sich im Laufe der fortgeschrittenen Seiten als Krimi und endet etwas kitschig. Aber die geistige Reise ins vorige Jahrhundert Triests ist es wert gelesen zu werden.
OSKAMP, Katja
Marzahn mon Amour, Geschichten einer Fusspflegerin Buch
2022.
@book{OSKAMP2022,
title = {Marzahn mon Amour, Geschichten einer Fusspflegerin},
author = {Katja OSKAMP},
year = {2022},
date = {2022-05-02},
abstract = {OSKAMP, Katja: „Marzahn mon amour, Geschichten einer Fusspflegerin“, Berlin 2021
Ich habe die Schriftstellerin beim Kulurfestival „Literatur & Wein“ im Stift Göttweig kennengelernt. Ihren Vortrag habe ich interessant und lustig empfunden. Es war aber so wie mit dem herrlichen Rezzina-Wein, den man im Urlaub in Griechenland trinkt, sich eine Flasche mit nach Hause nimmt und zu Hause schmeckt er nicht mehr so gut. So war es auch mit Oskamps Buch. Es war zwar nicht uninteressant, aber nach mehreren Geschichten wurde es langweilig. Die Struktur des Buches ist sehr einfach: eine Fusspflegerin erzählt die Lebensgeschichten ihrer Kunden, wie sie sie während einer Fussbehandlung erzählen. Die Icherzählerin ist die Schriftstellerin selbst. Als ihre Mansukripte von vielen Verlagen abgelehnt wurden, musste sie sich einen anderen Gelderwerb suchen und machte eine Fußpflegerinnenausbildung, um dann in einem Körperpflegestudio im Ostberlin Plattenbaubezirk Marzahn zu arbeiten. Ob es sich um alleinstehende Witwen handelt oder um einen ehemaligen DDR-Politbonzen, die Geschichten wiederspiegeln Menschen, die in diesem Viertel wohnen. Hauptsächlich sind es aber alte Leute, deren Geschichten verschriftlicht werden. Bei einem Ausflug mit Kolleginnen schwingt sie sich „zu einer Hymne über Marzahn und seine Bewohner, über diese Leute, die dort vor vierzig Jahren hingezogen sind und jetzt mit Rollator, Sauerstoffgerät und Mindestrente tapfer ihr Leben zu Ende bringen, die manchmal tagelang mit niemandem reden, die uns, wenn sie ins Studio kommen, ihre hungrigen Herzen ausschütten, jede Berührung dankbar aufsaugen und glücklich sind an diesem Ort, an dem sie nicht wie die Vollidoten der Nation behandelt werden“ (Seite 92) auf.
Die Fusspflegerin Oskamp liebt ihre Kunden, auch wenn ihre Füße stinken, verkrüppelt und ungepflegt sind. Genauso liebevoll erzählt sie die Geschichten über diese, ihre Kunden. Seit 2015 hat sie 3500 Füße gepflegt. Das sind – so ihre Hochrechnung – 19.000 Zehen.
Mit den letzten beiden Geschichten läuft die Erzählerin – oder die zu beschreibenden Personen mit ihren Lebensläufen – zu einer Hochform auf. Da ist Gerlinde Bonkat, die 1945 als siebenjähriges Kind mit ihrer Mutter aus Königsberg mit ihrer Mutter in den Westen geflüchtet ist. Sie hat sich von gefängnisähnlichen Flüchtlingslagern hochgearbeitet und viele Berufe ausgeübt. Nie hat sie sich unterkriegen lassen und immer ist die positiv und fröhlich gewesen. „Ich verneige mich vor der Lebensleistung von Gerlinde Bonkat, weil es sonst niemand tut. Sie hat jede Chance ergriffen, um den verpfuschten Start ins Leben auszugleichen.“ (Seite 130) Alleine die Geschichte dieser Frau ist es wert dieses Buch zu lesen.
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Ich habe die Schriftstellerin beim Kulurfestival „Literatur & Wein“ im Stift Göttweig kennengelernt. Ihren Vortrag habe ich interessant und lustig empfunden. Es war aber so wie mit dem herrlichen Rezzina-Wein, den man im Urlaub in Griechenland trinkt, sich eine Flasche mit nach Hause nimmt und zu Hause schmeckt er nicht mehr so gut. So war es auch mit Oskamps Buch. Es war zwar nicht uninteressant, aber nach mehreren Geschichten wurde es langweilig. Die Struktur des Buches ist sehr einfach: eine Fusspflegerin erzählt die Lebensgeschichten ihrer Kunden, wie sie sie während einer Fussbehandlung erzählen. Die Icherzählerin ist die Schriftstellerin selbst. Als ihre Mansukripte von vielen Verlagen abgelehnt wurden, musste sie sich einen anderen Gelderwerb suchen und machte eine Fußpflegerinnenausbildung, um dann in einem Körperpflegestudio im Ostberlin Plattenbaubezirk Marzahn zu arbeiten. Ob es sich um alleinstehende Witwen handelt oder um einen ehemaligen DDR-Politbonzen, die Geschichten wiederspiegeln Menschen, die in diesem Viertel wohnen. Hauptsächlich sind es aber alte Leute, deren Geschichten verschriftlicht werden. Bei einem Ausflug mit Kolleginnen schwingt sie sich „zu einer Hymne über Marzahn und seine Bewohner, über diese Leute, die dort vor vierzig Jahren hingezogen sind und jetzt mit Rollator, Sauerstoffgerät und Mindestrente tapfer ihr Leben zu Ende bringen, die manchmal tagelang mit niemandem reden, die uns, wenn sie ins Studio kommen, ihre hungrigen Herzen ausschütten, jede Berührung dankbar aufsaugen und glücklich sind an diesem Ort, an dem sie nicht wie die Vollidoten der Nation behandelt werden“ (Seite 92) auf.
Die Fusspflegerin Oskamp liebt ihre Kunden, auch wenn ihre Füße stinken, verkrüppelt und ungepflegt sind. Genauso liebevoll erzählt sie die Geschichten über diese, ihre Kunden. Seit 2015 hat sie 3500 Füße gepflegt. Das sind – so ihre Hochrechnung – 19.000 Zehen.
Mit den letzten beiden Geschichten läuft die Erzählerin – oder die zu beschreibenden Personen mit ihren Lebensläufen – zu einer Hochform auf. Da ist Gerlinde Bonkat, die 1945 als siebenjähriges Kind mit ihrer Mutter aus Königsberg mit ihrer Mutter in den Westen geflüchtet ist. Sie hat sich von gefängnisähnlichen Flüchtlingslagern hochgearbeitet und viele Berufe ausgeübt. Nie hat sie sich unterkriegen lassen und immer ist die positiv und fröhlich gewesen. „Ich verneige mich vor der Lebensleistung von Gerlinde Bonkat, weil es sonst niemand tut. Sie hat jede Chance ergriffen, um den verpfuschten Start ins Leben auszugleichen.“ (Seite 130) Alleine die Geschichte dieser Frau ist es wert dieses Buch zu lesen.
RABINOVICI, Doron
Andernorts Buch
2022.
@book{RABINOVICI2022,
title = {Andernorts},
author = {Doron RABINOVICI},
year = {2022},
date = {2022-04-27},
abstract = {RABINOVICI, Doron: „Andernorts“, Berlin 2020
Durch eine Fernsehsendung mit dem Autor wurde ich angeregt dieses Buch zu lesen. Der in Israel geborene und in Wien wohnende Rabinivici kann – bedingt durch seine Herkunft und sein Leben – auf das Leben zweier sehr unterschiedlicher Kulturen blicken, die auch in diesem Buch zum Ausdruck kommen. Zwar in Israel, wo sich seine Eltern hin geflüchtet hatten, ist er – und auch der Protagonist dieses Buches – geboren, aber dann an vielen Orten der Welt aufgewachsen. „Jahre später seid ihr nach Paris, nach London und nach New York gezogen. Aber überall warst du der Israeli; nur in Israel wurdest du zum Wiener, zum Jekke, zum Franzosen, zum Amerikaner. Schon als Siebenjähriger bist du im Hebräischen und im Deutschen gleichermaßen zu Hause gewesen. Deine Aussprache war frei von jedem Akzent, und eben deshalb warst du nirgends bodenständig, bist es immer noch nicht, sondern wirkst überall abgehoben.“ (Seite 50) Ethan heißt der Proponent und nennt sich einen Mischmasch aus Wien und Tel Aviv. Auf den Reisen zwischen den beiden Ländern werden Mozartkugeln und Manner Schnitten von Wien nach Tel Aviv gebracht und Falafel, Humus und hebräische Literatur in umgekehrter Richtung als Gastgeschenke transportiert.
Die Familie war mehrmals geflüchtet. Der Sohn, der letztlich nur ein „halber Sohn“ war, wurde in Israel geboren. Übersiedlungen veränderten das Leben und die Gewohnheiten. Als sie von Israel nach Wien übersiedelten fiel dem Jungen auf, dass er, um aus dem Haus zu kommen, einen Schlüssel brauchte. „In Tel Aviv hatten die Türen offen gestanden. ... Nach dem Sechstagekrieg lagen noch Sandsäcke vor den Eingängen.“ (Seite 229) In Wien fehlten ihm auch die Spielkameraden, die er in Israel auf der Straße fand. „In Tel Aviv sagte ein einstiger Freund aus dem Kindergarten, die Rosens seien Abtrünnige und Verräter, aber in Wien erklärte ihm ein Klassenkamerad, der jüdische Staat in Zion sei doch nichts als Rassismus. Seine Existenz stand unter Misskredit.“ (Seite 231)
In diesem Zwiespalt wuchs der Junge auf und wurde ein, in Wien anerkannter, Wissenschaftler, der auch international lehrt. Seine Eltern wohnen in Israel. In der Funktion des Wissenschaftlers schreibt er einen Artikel über seinen verstorbenen Freund Dov Zedek. Zu seinem Nachruf kommt ein Gegenartikel von einem Kollegen, der sich um dieselbe Stelle an der Wiener Universität bewirbt.
Das Buch nimmt ab hier an Fahrt auf, als dieser, bisher unbekannter außerehelicher, Sohn auftritt, der gleichzeitig ein Mitbewerber für Ethan wird. Für eine Position, die auf ihn zugeschnitten ist. Und dann geht es Schlag auf Schlag. Irgendwie könnte es auch das Konzept einer Biedermeierkomödie sein, aber es spielt in einer jüdischen Kultur und hat ein hohes Niveau. Der Vater hat eine Niere seiner Frau, die versagt und er erkrankt. Ethan reist nach Israel. Dort tritt auch der Bruder in sein Leben. Der Vater stirbt und hinterlässt ein Chaos. Ein Rabbiner sah im Vater einen Vorfahren des ungeborenen Messias. Die schwangere Mutter wurde im Zweiten Weltkrieg ermordet. Mit den Samen des Vaters könnte man – so die Ansicht des berühmten und konservativen Rabbiners – den Messias im Labor züchten. Aber der Vater stirbt, bevor die Idee des Rabbiners umgesetzt werden kann. Bei den Untersuchungen zu einer „Nachzüchtung“ über die Söhne stellt sich heraus, dass er für beide nicht der Vater ist. Es kommt zu Streit und Zank, das noch am Begräbnis des Verstorbenen anhält, obwohl der Rabbiner in seiner Rede sagt „Es ist unsere Pflicht, so steht es geschrieben, über einen Verstorbenen nur Gutes zu sagen.“ (Seite 280) Unabhängig vom Konstrukt dieses Romans wird der Leser in die Unterschiedlichkeit der jüdischen zur europäischen Kultur eingeführt.
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Durch eine Fernsehsendung mit dem Autor wurde ich angeregt dieses Buch zu lesen. Der in Israel geborene und in Wien wohnende Rabinivici kann – bedingt durch seine Herkunft und sein Leben – auf das Leben zweier sehr unterschiedlicher Kulturen blicken, die auch in diesem Buch zum Ausdruck kommen. Zwar in Israel, wo sich seine Eltern hin geflüchtet hatten, ist er – und auch der Protagonist dieses Buches – geboren, aber dann an vielen Orten der Welt aufgewachsen. „Jahre später seid ihr nach Paris, nach London und nach New York gezogen. Aber überall warst du der Israeli; nur in Israel wurdest du zum Wiener, zum Jekke, zum Franzosen, zum Amerikaner. Schon als Siebenjähriger bist du im Hebräischen und im Deutschen gleichermaßen zu Hause gewesen. Deine Aussprache war frei von jedem Akzent, und eben deshalb warst du nirgends bodenständig, bist es immer noch nicht, sondern wirkst überall abgehoben.“ (Seite 50) Ethan heißt der Proponent und nennt sich einen Mischmasch aus Wien und Tel Aviv. Auf den Reisen zwischen den beiden Ländern werden Mozartkugeln und Manner Schnitten von Wien nach Tel Aviv gebracht und Falafel, Humus und hebräische Literatur in umgekehrter Richtung als Gastgeschenke transportiert.
Die Familie war mehrmals geflüchtet. Der Sohn, der letztlich nur ein „halber Sohn“ war, wurde in Israel geboren. Übersiedlungen veränderten das Leben und die Gewohnheiten. Als sie von Israel nach Wien übersiedelten fiel dem Jungen auf, dass er, um aus dem Haus zu kommen, einen Schlüssel brauchte. „In Tel Aviv hatten die Türen offen gestanden. ... Nach dem Sechstagekrieg lagen noch Sandsäcke vor den Eingängen.“ (Seite 229) In Wien fehlten ihm auch die Spielkameraden, die er in Israel auf der Straße fand. „In Tel Aviv sagte ein einstiger Freund aus dem Kindergarten, die Rosens seien Abtrünnige und Verräter, aber in Wien erklärte ihm ein Klassenkamerad, der jüdische Staat in Zion sei doch nichts als Rassismus. Seine Existenz stand unter Misskredit.“ (Seite 231)
In diesem Zwiespalt wuchs der Junge auf und wurde ein, in Wien anerkannter, Wissenschaftler, der auch international lehrt. Seine Eltern wohnen in Israel. In der Funktion des Wissenschaftlers schreibt er einen Artikel über seinen verstorbenen Freund Dov Zedek. Zu seinem Nachruf kommt ein Gegenartikel von einem Kollegen, der sich um dieselbe Stelle an der Wiener Universität bewirbt.
Das Buch nimmt ab hier an Fahrt auf, als dieser, bisher unbekannter außerehelicher, Sohn auftritt, der gleichzeitig ein Mitbewerber für Ethan wird. Für eine Position, die auf ihn zugeschnitten ist. Und dann geht es Schlag auf Schlag. Irgendwie könnte es auch das Konzept einer Biedermeierkomödie sein, aber es spielt in einer jüdischen Kultur und hat ein hohes Niveau. Der Vater hat eine Niere seiner Frau, die versagt und er erkrankt. Ethan reist nach Israel. Dort tritt auch der Bruder in sein Leben. Der Vater stirbt und hinterlässt ein Chaos. Ein Rabbiner sah im Vater einen Vorfahren des ungeborenen Messias. Die schwangere Mutter wurde im Zweiten Weltkrieg ermordet. Mit den Samen des Vaters könnte man – so die Ansicht des berühmten und konservativen Rabbiners – den Messias im Labor züchten. Aber der Vater stirbt, bevor die Idee des Rabbiners umgesetzt werden kann. Bei den Untersuchungen zu einer „Nachzüchtung“ über die Söhne stellt sich heraus, dass er für beide nicht der Vater ist. Es kommt zu Streit und Zank, das noch am Begräbnis des Verstorbenen anhält, obwohl der Rabbiner in seiner Rede sagt „Es ist unsere Pflicht, so steht es geschrieben, über einen Verstorbenen nur Gutes zu sagen.“ (Seite 280) Unabhängig vom Konstrukt dieses Romans wird der Leser in die Unterschiedlichkeit der jüdischen zur europäischen Kultur eingeführt.
SCHMITT, Eric-Emmanuel
2022.
@book{SCHMITT2022b,
title = {Mein Leben mit Mozart},
author = {Eric-Emmanuel SCHMITT },
year = {2022},
date = {2022-04-11},
abstract = {SCHMITT, Eric-Emmanuel: „Mein Leben mit Mozart“, Frankfurt 2008
Der pubertierende Ich-Erzähler kommt mit seinem Leben nicht zurecht. Er ist am Weg zum Erwachsensein. Kein Kind mehr und auch noch kein Erwachsener. Die Gefühle dieses Buben werden im ersten Kapitel großartig geschildert. Welchen Ängsten, Sorgen und Beschwerden so ein Kind ausgesetzt ist. Mozart und seine Musik veränderten die Situation. Er denkt nicht mehr an Selbstmord, sondern hat eher Angst nicht alt genug zu werden, um all das Schöne noch zu erleben. Der junge Mann tritt nun in einen Briefwechsel mit Mozart ein. „Hier nun das Wesentliche unseres Austausches; seine Stücke, meine Briefe. Mehr noch als ein Meister der Musik ist er für mich ein Meister in Sachen Weisheit geworden, er lehrt mich Kostbares: Staunen, Milde, Heiterkeit und Freude …“ (Seite 7) In den verschiedenen Briefen, die vom Kindsein bis ins Erwachsenenalter geschrieben wurden, setzt sich der Dichter mit Mozart über verschiedenste Themen auseinander. So auch über Gott, wenn er meint „Ob Gott oder Jesus überhaupt existiert, weiß ich heute nicht zu sagen. Doch du hast mich überzeugt, dass der Mensch existiert.“ (Seite 41) Er vergleicht auch die verschiedenen Komponisten miteinander. Beim Komponieren einer Messe meint er: „Wenn Mozart eine Messe schreibt, dann für keinen schwerhörigen Gott. Anders als die Romantiker und die Modernen wetteifert er weder mit dem Himmel um Lautstärke, noch bringt er, um sich Gehör zu verschaffen, so große Chöre und Orchester zum Einsatz wie die chinesische Armee Soldaten.“ (Seite 83)
Schmitt wartet auch mit viel Fachwissen über Mozart auf. So berichtet er, dass er den Mediziner getroffen hatte, der eine DNA Analyse an Mozarts Leiche vornahm und feststellte, dass Mozart sehr schlechte Zähne und fast immer Schmerzen hatte.
Schmitt bewundert, wieviel Mozart in seinem kurzen Leben geleistet hat. Wieviel wäre es geworden, wäre er älter geworden. Er stellt dabei fest, dass er als Wunderknabe musiziert hat wie ein älterer, erfahrener Musiker und als älterer Mann dann in der Zauberflöte das Kindliche und Unbeschwerte.
Als wir auf die Welt kamen hatten wir keine Angst. Zumindest können wir uns daran nicht erinnern. Daher sollten wir es „wie das Kind im Mutterleib (halten) und ängstigen uns so wenig vor dem Tod wie das Kind vor dem Leben.“ (Seite 117)
Es ist Schmitts persönlichstes Buch, in dem er von seiner Liebe zum Seelenverwandten Mozart schreibt.
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Der pubertierende Ich-Erzähler kommt mit seinem Leben nicht zurecht. Er ist am Weg zum Erwachsensein. Kein Kind mehr und auch noch kein Erwachsener. Die Gefühle dieses Buben werden im ersten Kapitel großartig geschildert. Welchen Ängsten, Sorgen und Beschwerden so ein Kind ausgesetzt ist. Mozart und seine Musik veränderten die Situation. Er denkt nicht mehr an Selbstmord, sondern hat eher Angst nicht alt genug zu werden, um all das Schöne noch zu erleben. Der junge Mann tritt nun in einen Briefwechsel mit Mozart ein. „Hier nun das Wesentliche unseres Austausches; seine Stücke, meine Briefe. Mehr noch als ein Meister der Musik ist er für mich ein Meister in Sachen Weisheit geworden, er lehrt mich Kostbares: Staunen, Milde, Heiterkeit und Freude …“ (Seite 7) In den verschiedenen Briefen, die vom Kindsein bis ins Erwachsenenalter geschrieben wurden, setzt sich der Dichter mit Mozart über verschiedenste Themen auseinander. So auch über Gott, wenn er meint „Ob Gott oder Jesus überhaupt existiert, weiß ich heute nicht zu sagen. Doch du hast mich überzeugt, dass der Mensch existiert.“ (Seite 41) Er vergleicht auch die verschiedenen Komponisten miteinander. Beim Komponieren einer Messe meint er: „Wenn Mozart eine Messe schreibt, dann für keinen schwerhörigen Gott. Anders als die Romantiker und die Modernen wetteifert er weder mit dem Himmel um Lautstärke, noch bringt er, um sich Gehör zu verschaffen, so große Chöre und Orchester zum Einsatz wie die chinesische Armee Soldaten.“ (Seite 83)
Schmitt wartet auch mit viel Fachwissen über Mozart auf. So berichtet er, dass er den Mediziner getroffen hatte, der eine DNA Analyse an Mozarts Leiche vornahm und feststellte, dass Mozart sehr schlechte Zähne und fast immer Schmerzen hatte.
Schmitt bewundert, wieviel Mozart in seinem kurzen Leben geleistet hat. Wieviel wäre es geworden, wäre er älter geworden. Er stellt dabei fest, dass er als Wunderknabe musiziert hat wie ein älterer, erfahrener Musiker und als älterer Mann dann in der Zauberflöte das Kindliche und Unbeschwerte.
Als wir auf die Welt kamen hatten wir keine Angst. Zumindest können wir uns daran nicht erinnern. Daher sollten wir es „wie das Kind im Mutterleib (halten) und ängstigen uns so wenig vor dem Tod wie das Kind vor dem Leben.“ (Seite 117)
Es ist Schmitts persönlichstes Buch, in dem er von seiner Liebe zum Seelenverwandten Mozart schreibt.
SETZ, Clemens J.
Gedankenspiele über die Wahrheit Booklet
2022.
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title = {Gedankenspiele über die Wahrheit},
author = {Clemens J. SETZ},
year = {2022},
date = {2022-04-07},
abstract = {SETZ, Clemens J.: „Gedankenspiele über die Wahrheit“, Graz Wien 2022
In einem kleinen Büchel beschäftigt sich der junge Grazer Schriftsteller mit der Frage was Wahrheit und was Unwahrheit ist. Er bringt Beispiele aus verschiedenen Bereichen und gliedert sie in fünf Kapitel.
Im ersten wird ein Dichter zitiert, der wiederum Grillparzer zitiert, wie er das erste Mal das Meer sieht. Der Dichter – Roger Willemsen – zitiert Grillparzer beim ersten Anblick des Meeres mit dem Satz „So hatte ich´s mir nicht gedacht.“ Eine eindeutig negative Feststellung. Stellt man diesen Satz dann dem Originalreisebericht gegenüber – wie es Setz macht – so war es eine positive Aussage, weil er sich weniger vorgestellt hatte, als es dann wirklich war.
Oft hat man von Dingen eine gewisse Vorstellung, die sich mit vielen anderen Leuten deckt, die aber nicht der Realität entsprechen muss. Man nennt das den „Mandela-Effekt“; anknüpfend an die Berichterstattung zu Mandelas Begräbnis.
Wahrheit und Unwahrheit kann auch eine Gegenüberstellung von der Aussage eines Buchhalters zu der eines Ekstatikers sein. Friedrich Nitsche meinte, „dass gewisse Unwahrheiten als Wahrheiten gelebt werden“ und schlägt im Nebensatz vor, dass „diese dann als eine neue Art von Wahrheit“ zu betrachten (Seite 25) Dichter halten sich nicht immer an Fakten. Etwa, wenn Alfred Lord Tennyson schreibt „Every moment dies a man. Every moment one is born“ (Seite 29) Da die Weltbevölkerung aber ständig wächst müsste es – so der Vorschlag im Buch – heißen „Every moment dies a man. Every moment 1 1/6 is born“ Dies wäre mathematisch auch nicht genau, aber zeige die Entwicklung auf.
Unter dem Titel „Die bedrohliche Wahrheit der Doppelgänger“ wird berichtet, dass bei einem Chaplin Wettbewerb die Nachahmer besser wegkamen als Chaplin selbst, weil dieser bei Dreharbeiten eben normal ging und der Watschelgang durch schnelleres Abspielen, also durch die Technik entstand. Die Nachahmer machten aber den schnellen Watschelgang, der theoretisch gar nicht der Wirklichkeit entsprach.
Manches wird in der Zukunft als unwahr oder als wahr eingestuft werden, obwohl es in der damaligen Zeit genau umgekehrt war. So verweist er auf eine Hexenwaage in der holländischen Stadt Oudewater. Am Marktplatz war eine geeichte Waage aufgestellt. Als Hexen angeklagte Frauen konnten sich hier wägen lassen und bekamen ein Dokument, in dem bestätigt wurde, dass sie nicht fliegen können, weil sie zu schwer seien. Alle Angeklagten mit diesem Attest wurden freigesprochen. Es waren aber nur diejenigen, die das Geld hatten in die Stadt Oudewater zu reisen, um einen derartigen Befund zu kaufen.
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In einem kleinen Büchel beschäftigt sich der junge Grazer Schriftsteller mit der Frage was Wahrheit und was Unwahrheit ist. Er bringt Beispiele aus verschiedenen Bereichen und gliedert sie in fünf Kapitel.
Im ersten wird ein Dichter zitiert, der wiederum Grillparzer zitiert, wie er das erste Mal das Meer sieht. Der Dichter – Roger Willemsen – zitiert Grillparzer beim ersten Anblick des Meeres mit dem Satz „So hatte ich´s mir nicht gedacht.“ Eine eindeutig negative Feststellung. Stellt man diesen Satz dann dem Originalreisebericht gegenüber – wie es Setz macht – so war es eine positive Aussage, weil er sich weniger vorgestellt hatte, als es dann wirklich war.
Oft hat man von Dingen eine gewisse Vorstellung, die sich mit vielen anderen Leuten deckt, die aber nicht der Realität entsprechen muss. Man nennt das den „Mandela-Effekt“; anknüpfend an die Berichterstattung zu Mandelas Begräbnis.
Wahrheit und Unwahrheit kann auch eine Gegenüberstellung von der Aussage eines Buchhalters zu der eines Ekstatikers sein. Friedrich Nitsche meinte, „dass gewisse Unwahrheiten als Wahrheiten gelebt werden“ und schlägt im Nebensatz vor, dass „diese dann als eine neue Art von Wahrheit“ zu betrachten (Seite 25) Dichter halten sich nicht immer an Fakten. Etwa, wenn Alfred Lord Tennyson schreibt „Every moment dies a man. Every moment one is born“ (Seite 29) Da die Weltbevölkerung aber ständig wächst müsste es – so der Vorschlag im Buch – heißen „Every moment dies a man. Every moment 1 1/6 is born“ Dies wäre mathematisch auch nicht genau, aber zeige die Entwicklung auf.
Unter dem Titel „Die bedrohliche Wahrheit der Doppelgänger“ wird berichtet, dass bei einem Chaplin Wettbewerb die Nachahmer besser wegkamen als Chaplin selbst, weil dieser bei Dreharbeiten eben normal ging und der Watschelgang durch schnelleres Abspielen, also durch die Technik entstand. Die Nachahmer machten aber den schnellen Watschelgang, der theoretisch gar nicht der Wirklichkeit entsprach.
Manches wird in der Zukunft als unwahr oder als wahr eingestuft werden, obwohl es in der damaligen Zeit genau umgekehrt war. So verweist er auf eine Hexenwaage in der holländischen Stadt Oudewater. Am Marktplatz war eine geeichte Waage aufgestellt. Als Hexen angeklagte Frauen konnten sich hier wägen lassen und bekamen ein Dokument, in dem bestätigt wurde, dass sie nicht fliegen können, weil sie zu schwer seien. Alle Angeklagten mit diesem Attest wurden freigesprochen. Es waren aber nur diejenigen, die das Geld hatten in die Stadt Oudewater zu reisen, um einen derartigen Befund zu kaufen.
HOFMANN, Thomas
Weinviertel Wunderbares - Unerforschtes - Verborgenes Buch
2022.
@book{HOFMANN2022,
title = {Weinviertel Wunderbares - Unerforschtes - Verborgenes},
author = {Thomas HOFMANN},
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date = {2022-04-07},
abstract = {HOFMANN, Thomas; KORAB, Nikolaus: „Weinviertel - wunderbar - unerforscht - verborgenes“, Wien Graz Klagenfurt 2003
Der bodenständige Kral Verlag bietet mit dem vorliegenden Buch wieder eine Region Österreichs aus verschiedensten Blickwinkeln. Geschichte, Gesundheitswesen, Kunst und vor allem viele schöne Fotos. Der Autor Thomas Hofmann ist ein sehr guter Weinviertel-Kenner. Als Autor dieses Buches erzählt er vom Räuber Grasel, verschiedenen Adelsgeschlechtern, Winzern und von Weinstöcken und Kellergassen. Der Fotograf Nikolaus Korab liefert dazu schöne Fotos. Allein das Durchblättern des Buches ergibt schon einen ersten Eindruck.
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Der bodenständige Kral Verlag bietet mit dem vorliegenden Buch wieder eine Region Österreichs aus verschiedensten Blickwinkeln. Geschichte, Gesundheitswesen, Kunst und vor allem viele schöne Fotos. Der Autor Thomas Hofmann ist ein sehr guter Weinviertel-Kenner. Als Autor dieses Buches erzählt er vom Räuber Grasel, verschiedenen Adelsgeschlechtern, Winzern und von Weinstöcken und Kellergassen. Der Fotograf Nikolaus Korab liefert dazu schöne Fotos. Allein das Durchblättern des Buches ergibt schon einen ersten Eindruck.
Schlembach, Mario
Heute graben Buch
2022.
@book{Schlembach2022,
title = {Heute graben},
author = {Mario Schlembach},
year = {2022},
date = {2022-03-27},
abstract = {SCHLEMBACH, Mario: „Heute graben“, Wien 2022
Der Proponent – der Autor selbst (?) – trifft bei seinen regelmäßigen Zugfahrten eine junge Frau, in die er sich verliebt. Er nennt sie A und versucht ein Buch darüber zu schreiben. Sie hat ihm ein Notizbuch geschenkt, das er bald vollgeschrieben hat. Das vorliegende Buch besteht aus der Abschrift von fünf Heften, die tagebuchartig geführt sind. Mit dem Versuch, ein Buch über A zu schreiben, stehen ihm eigene innere Monster im Wege und er fragt sich: „Und wer gewinnt diesen Kampf? Die romantische Seele? Der Todestrieb? Die künstlerische Hybris? Der Egomane im Schafpelz? Der Weltschmerzhypochonder? Oder der Depressionsclown, der tagtäglich seine Rolle als Totengräber spielt?“ (Seite 18)
Weitere Frauenbekanntschaften werden skizziert und der Autor gibt jeder, in sequenzieller Abfolge, einen Buchstaben: B, C, D … Bis er bei der Frau mit der Abkürzung Z landet. Alle Frauen wollen Individualistinnen sein, sehen aber für ihn letztlich alle gleich aus. Immer aber sucht er die Frau A aus dem Zug.
Er ist Totengräber und erzählt seine diesbezüglichen Erfahrungen. Den Job übt er gemeinsam mit seinem Vater aus. Als er Thomas Bernhard liest bekommt er dieselbe Lungenkrankheit wie dieser.
Neben einem Studium, das er später abbricht, teilt er seine Zeit zwischen der Arbeit als Totengräber und Schriftsteller. Viel Zeit nehmen ihm auch die vielen Untersuchungen seiner Krankheit. Letztlich schreibt er dem Halbbruder von Thomas Bernhard, der Mediziner ist, einen Brief und bittet ihn, ihm einen Spezialisten für diese Lungenkrankheit zu empfehlen. Eine Cortisonkur verunsichert ihn noch mehr und kombiniert mit Alkoholkonsum kommt es zu Black Outs.
Immer hat er an A gedacht und andere Frauen getroffen. „Vor vielen Jahren ist A gegangen. Seither nicht ein Tag ohne sie. Nicht ein Tag, an dem ich nicht ein Wort an sie gerichtet habe. Die Welt hat sich auch ohne sie weitergedreht, aber ich weiß, dass sie meine Stimme noch hört.“ (Seite 188) Letztlich fragt er sich „Warum ziehe ich alles Vergangene in jede meiner Gegenwarten?“ (Seite 98) Sein Kontakt mit ihr besteht im Schreiben und dieser Kontakt erscheint ihm wirklicher als jede Realität.
Am Ende muss man sich als Leser fragen, ob die Abschrift von Tagebucheintragungen wert ist sich Literatur zu nennen. Der Autor erzählt von seinen Erfahrung mit einem Verleger, dem er sein Manuskript über die Frau A anbietet. Dieser empfiehlt ihm eine Geschichte als Totengräber zu schreiben. Der Frau A sei er zu nahe. Auch selbst sieht er in seinem Manuskript keine schriftstellerische Tätigkeit, wenn er meint „Pubertätsgeschwängertes Gestammel … alles schon tausendmal gehört … autofiktionale Selbstbefriedigung.“ (Seite 79)
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Der Proponent – der Autor selbst (?) – trifft bei seinen regelmäßigen Zugfahrten eine junge Frau, in die er sich verliebt. Er nennt sie A und versucht ein Buch darüber zu schreiben. Sie hat ihm ein Notizbuch geschenkt, das er bald vollgeschrieben hat. Das vorliegende Buch besteht aus der Abschrift von fünf Heften, die tagebuchartig geführt sind. Mit dem Versuch, ein Buch über A zu schreiben, stehen ihm eigene innere Monster im Wege und er fragt sich: „Und wer gewinnt diesen Kampf? Die romantische Seele? Der Todestrieb? Die künstlerische Hybris? Der Egomane im Schafpelz? Der Weltschmerzhypochonder? Oder der Depressionsclown, der tagtäglich seine Rolle als Totengräber spielt?“ (Seite 18)
Weitere Frauenbekanntschaften werden skizziert und der Autor gibt jeder, in sequenzieller Abfolge, einen Buchstaben: B, C, D … Bis er bei der Frau mit der Abkürzung Z landet. Alle Frauen wollen Individualistinnen sein, sehen aber für ihn letztlich alle gleich aus. Immer aber sucht er die Frau A aus dem Zug.
Er ist Totengräber und erzählt seine diesbezüglichen Erfahrungen. Den Job übt er gemeinsam mit seinem Vater aus. Als er Thomas Bernhard liest bekommt er dieselbe Lungenkrankheit wie dieser.
Neben einem Studium, das er später abbricht, teilt er seine Zeit zwischen der Arbeit als Totengräber und Schriftsteller. Viel Zeit nehmen ihm auch die vielen Untersuchungen seiner Krankheit. Letztlich schreibt er dem Halbbruder von Thomas Bernhard, der Mediziner ist, einen Brief und bittet ihn, ihm einen Spezialisten für diese Lungenkrankheit zu empfehlen. Eine Cortisonkur verunsichert ihn noch mehr und kombiniert mit Alkoholkonsum kommt es zu Black Outs.
Immer hat er an A gedacht und andere Frauen getroffen. „Vor vielen Jahren ist A gegangen. Seither nicht ein Tag ohne sie. Nicht ein Tag, an dem ich nicht ein Wort an sie gerichtet habe. Die Welt hat sich auch ohne sie weitergedreht, aber ich weiß, dass sie meine Stimme noch hört.“ (Seite 188) Letztlich fragt er sich „Warum ziehe ich alles Vergangene in jede meiner Gegenwarten?“ (Seite 98) Sein Kontakt mit ihr besteht im Schreiben und dieser Kontakt erscheint ihm wirklicher als jede Realität.
Am Ende muss man sich als Leser fragen, ob die Abschrift von Tagebucheintragungen wert ist sich Literatur zu nennen. Der Autor erzählt von seinen Erfahrung mit einem Verleger, dem er sein Manuskript über die Frau A anbietet. Dieser empfiehlt ihm eine Geschichte als Totengräber zu schreiben. Der Frau A sei er zu nahe. Auch selbst sieht er in seinem Manuskript keine schriftstellerische Tätigkeit, wenn er meint „Pubertätsgeschwängertes Gestammel … alles schon tausendmal gehört … autofiktionale Selbstbefriedigung.“ (Seite 79)
WOLF, Helga Maria
Wiens beste Feste. Von Bräuchen und Events Buch
2022.
@book{WOLF2022,
title = {Wiens beste Feste. Von Bräuchen und Events},
author = {Helga Maria WOLF},
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date = {2022-03-24},
abstract = {WOLF, Helga Maria: „Wiens beste Feste. Von Bräuchen und Events“, Wien 2014
Das Buch stellt, nach Monaten gegliedert, Stadtfeste dar. Viele davon sind religiöse Feste. Es wirkt beim Lesen so, als sei Wien ein Dorf. Nur wenige, der hier beschriebenen Feste sind unbekannt. Meist handelt es sich um bekannte Feste, wie dem Wiener Silvesterpfad oder dem Donauinselfest. Es ist mehr ein Bildband als ein Veranstaltungskalender. Die Auswahl der beschriebenen Feste ist sehr subjektiv. Ein Buch, von dem man sich fragt, wozu und für wen es wohl geschrieben ist.
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Das Buch stellt, nach Monaten gegliedert, Stadtfeste dar. Viele davon sind religiöse Feste. Es wirkt beim Lesen so, als sei Wien ein Dorf. Nur wenige, der hier beschriebenen Feste sind unbekannt. Meist handelt es sich um bekannte Feste, wie dem Wiener Silvesterpfad oder dem Donauinselfest. Es ist mehr ein Bildband als ein Veranstaltungskalender. Die Auswahl der beschriebenen Feste ist sehr subjektiv. Ein Buch, von dem man sich fragt, wozu und für wen es wohl geschrieben ist.
FATLAND, Erika
2022.
@book{FATLAND2022b,
title = {Die Grenze. Eine Reise rund um Russland durch Nordkorea, China, die Mongolei, Kasachstan, Aserbaidschan, Georgien, die Ukraine, Weißrussland, Litauen, Polen, Lettland, Estland, Finnland, Norwegen sowie die Nordostpassage},
author = {Erika FATLAND },
year = {2022},
date = {2022-03-20},
abstract = {WARNUNG!: Diese Rezension ist sehr lang. Zu lang. Der Grund? Ich war so fasziniert von diesem Buch, wie es Eindrücke und historische Hintergründe der Nachbarländer Russlands wiedergibt. Man versteht die Vorgangsweise Russlands nach diesem Buch anders.
Ich bin begeistert von Frau Fatland und ihrem Stil zu erzählen. Auf dieses Buch hatte ich mich schon gefreut und ich wurde wieder nicht enttäuscht. Eine großartige Frau, die sich ausgefallenste Reisen getraut zu machen und dann noch sehr anschaulich erzählen kann. Nicht nur das, was sie gesehen hatte, sondern auch Hintergrundinformationen und Geschichte. Da steckt viel Recherchearbeit dahinter, die aber sehr leicht lesbar verpackt ist.
Es geht um die Nachbarländer von Russland. Einerseits ein Bericht ihrer Reise und andererseits eine historische Abhandlung. So erfährt man gleich zu Beginn (oder sollte man das wissen?), dass alle europäischen Großmächte Kolonien besaßen. Nur Russland nicht. Russland dehnte sein Reich laufend aus. „Von der Machtübernahme der Romanows1613 an war das russische Imperium im Schnitt jeden einzelnen Tag über hundert Quadratkilometer gewachsen.“ (Seite 117) Viele Erweiterungen passierten ohne Krieg. Die asiatische Erweiterung brachten russische Pelzhändler, die immer weiter vorrückten, um von den Einheimischen zu günstigen Preisen Pelze zu kaufen, die im Westen viel wert waren.
Nordostpassage
Im ersten Kapitel wird die Fahrt mit einem Schiff entlang der Nordküste Russlands beschrieben. Die Fahrt begann in der Beringstraße in Anadyr und ging bis Murmansk im Westen. Sie dauerte für die über 10.000 Kilometer vier Wochen. Am Schiff waren 47 Passagiere. Durchwegs alte Menschen, die aber Weltenbummler waren und viel von ihren Reisen zu erzählen hatten. Vier Wochen gab es kein Internet und kein Telefon. Angelegt wurde in ehemaligen Wetterstationen oder Dörfern. Auf der Reise gab es nur Ruhe und manchmal Eisbären, Robben oder Seelöwen. Eine Reise, auf der es nicht allzu viel Abwechslung gab. Dafür liefert die Autorin viel Geschichtliches über die Eroberung der östlichen Teile Russlands und den Positionen im Norden. Vier Wochen ohne Internet, ohne Telefon und ohne Nachrichten aus der Welt sind ein Erlebnis der besonderen Art.
Nordkorea
Dass es kein freies Land ist, weiß man. Dass es von einem Diktator geführt wird, dessen Rechte schon in die dritte Generation vererbt sind, weiß man auch. Freies Reisen ist nicht möglich. Fatland hatte eine Gruppenreise gebucht, die sich nicht nur auf die Hauptstadt Pjöngjang konzentrierte. Sie kam auch aufs Land und erzählt in diesem Kapitel, wie anders das Reisen in Nordkorea ist. Alles wird überwacht. Alles ist nach einem vorgegebenen Programm organisiert. Als Reisender wird man laufend beschäftigt, um am Abend müde zu Bett zu gehen und keine Ansprüche auf Spaziergänge hat. Und wenn man das noch wünscht, so meint der Führer „Sie können noch ein bisschen auf dem Parkplatz spazieren gehen, wenn sie wollen.“ (Seite 102) Der große Führer Kim ist überall zu sehen. Auch Touristen müssen sich vor seiner Statue verneigen. Fatland nennt es ein „Verneigen, ohne sich zu verbiegen“. Man durfte eine Statue des Führers nur in vollem Umfang ablichten. Generell wurden die Fotoapparate der Touristen laufend von deren Führern geprüft und vieles sofort gelöscht. So muss sich die Autorin von ihrer Führerin sagen lassen, dass sie nur schöne Dinge fotografieren dürfe, während diese die Löschtaste drückt. „Der nordkoreanische Grenzpolizist war sogar noch gründlicher als Miss Pan. Übereifrig durchsuchte er sämtliche Fotos auf meiner Kamera, über sechshundert an der Zahl. Er löschte alle Bilder mit Menschen, die arm aussahen, sowie alle Fotos, die Männer in Militäruniform zeigten – davon gab es einige.“ (Seite 115) Im Nachsatz schreibt sie aber „Glücklicherweise hatte ich vorsichtshalber eine Sicherungskopie erstellt.“
Bei allen Länderberichten wird Bezug auf Russland genommen. So auch aus historischer Sicht. Die Beziehung zwischen Russland und Nordkorea war einmal bedeutend und verschlechterte sich. Nach der Okkupation der Krim durch die Russen wurden die Beziehung zu Nordkorea wieder ausgebaut. Russland strich neunzig Prozent der Staatsschulden Nordkoreas und investierte dreihundert Millionen Dollar in das nordkoreanische Eisenbahnnetz. Als allerdings die UNO die Atomversuche und Raketenabschüsse Nordkoreas kritisierte, distanzierte sich auch Russland wieder.
China
Nach Nordkorea und seinen Restriktionen, fühlte sich die Reisende in China wie in einem freien Land. Sie durfte hingehen, wo sie wollte, und musste nicht am Parkplatz spazieren gehen. Sie querte die Grenze mit einem Bus und kam in die chinesische Stadt Dalian. Die Stadt mit 7 Millionen Einwohnern ist eine, der am schnellsten wachsenden Städte Chinas und „wurde 2006 von China Daily zur chinesischen Stadt mit der höchsten Lebensqualität gekürt.“ (Seite 117) Diese Stadt hatte Fatland ausgewählt, weil sie 1889 als Port Arthur in russische Hände fiel. In dieser Hafenstadt endete die Expansion Russlands nach Osten. Die Grenze zwischen China und Russland war immer umstritten und umkämpft. 1858 erhielten die Russen in einem Vertrag die Gebiete nördlich des Flusses Amur. In Europa war der Zweite Weltkrieg zwar am 30. April 1945 zu Ende, aber nach Abwurf der Atombombe über Hiroshima am 9. August marschierten 1,5 Millionen sowjetische Soldaten in China ein, um die japanischen Besatzer zu vertreiben. Da es noch heute Streitereien um eine Insel gibt, kam es zwischen Japan und Russland bis heute zu keinem Friedenvertrag. Die Sowjets zogen sich später zurück und übergaben das Land Maos Truppen. Von der Stadt Dalian reist die Autorin weiter nach Harbin. Sie nimmt einen Hochgeschwindigkeitszug und ist begeistert. „Jährlich transportieren chinesische Züge 2,5 Milliarden Passagiere, und diese Zahl ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Entfernung, die jeder Passagier zurücklegt, fünfhundert Kilometer beträgt.“ (Seite 129) Auch Harbin hat russische Wurzeln. Ende des 19. Jahrhunderts wurde hier die Administration der „Ostchinesischen Eisenbahn“ von den Russen gegründet. Die Stadt blühte auf und wurde „das Paris des Fernen Ostens“ genannt. 1905 verloren die Russen gegen Japan einen Krieg. Viele Russen gingen heim. Harbin wurde aber eine internationale Stadt. Nach der russischen Revolution kamen viele politische Flüchtlinge und hatte den größten jüdischen Bevölkerungsanteil im Fernen Osten. Die Japaner entwickelten und produzierten hier biologische Waffen. Viele Menschen starben an den Folgen dieser Industrie. Die Chinesen betreiben heute ein „russisches Dorf“; eine Art Disney Land, das russische Kultur vermitteln soll. Viele Russen finden hier einen Arbeitsplatz. Die Autorin zeigt dies am Beispiel einer russischen Pensionistin aus Wladiwostok, die hier arbeitet, weil sie zu Hause mit der staatlichen Rente nur schwer leben könnte. Fatland reist entlang der Grenze weiter in die Grenzstadt Heihe am Fluss Amur. Auf russischer Seite, im östlichen Sibirien, leben sechs Millionen Menschen auf einer Fläche, die ein Drittel des Landes umfasst. Russland und China steht sich gegenüber. „Die Russen haben das meiste Land, die Chinesen die meisten Menschen.“ (Seite 144) Erst 2008 kam es zu einem friedlichen Nebeneinander. Eine Vereinbarung regelt die 4300 Kilometer lange Grenze. Die Nachbarstädte Heihe auf chinesischer Seite und Blagoweschtschensk auf der russischen Seite des Flusses bilden eine Freihandelszone. Bedingt durch die Sanktionen des Westens nach der Okkupation der Krim wurden die Beziehungen zwischen Russland und China ausgebaut und eine 4000 Kilometer lange Gaspipeline gebaut. Aber Europa und die USA haben ein zehn Mal größeres Handelsvolumen für China als Russland. Ein Besuch in so einem Freihandelseinkaufszentrum zeigt aber, dass es nicht funktioniert. Einkaufen ist für Russen zu teuer geworden. Vor einigen Jahren zahlten sie für einen Yuan 5 Rubel und heute 10.
Mongolei
Mit dem Zug geht es weiter von Peking nach Ulaanbaatar. Sie wählte einen Zug, der nur bis zur mongolischen Hauptstadt fuhr und nicht nach Moskau. Wenige Passagiere waren unterwegs. Sie war der einzige Passagier im Schlafwagen. Die Grenzkontrollen waren intensiv. Die Fahrt dauerte 27 Stunden. Neben persönlichen Eindrücken wird die Geschichte des Landes erzählt. Beginnend beim Nationalhelden Chinggis Khaan, über die Besetzung durch die Chinesen und Sowjets bis zum Jahr 1990 und dem Ende des kommunistischen Regimes. 1946 erkannte China die Mongolei als unabhängiges Land an, aber erst 1961 wurde es als unabhängiges Mitgliedsland in die UNO aufgenommen. Eine grundlegende gesellschaftliche Änderung brachte das Ende des Kommunismus. Die Nomaden zogen in die Hauptstadt, die sich in zwei Jahrzehnten von einer halben Million auf 1,5 Millionen verdreifachte. Ein Mönch im Kloster Erdene Zuu erzählt, wie das zutiefst religiöse Land nach Übernahme durch die Russen 1920 verändert wurde. Klöster wurden geschlossen und Religionsführer ermordet. In 1 ½ Jahren wurden 10.000 Lamas getötet. Ebenso Intellektuelle, hohe Militärs und Politiker. Erst 1992 durfte man wieder Mönch werden, so wie der Erzähler. Stalin wollte das Kolchosen System einführen und verlangte von den Nomaden ihren Viehbestand dem Staat zu überlassen. Diese aber töten ihre Tiere liebe, als sie dem kommunistischen Staat auszuliefern. Die Folge war eine Hungersnot. Militärisch wurde der Aufstand niedergeschlagen. Die neu gewonnene Religionsfreiheit brachte die Hälfte der Mongolen wieder zum Buddhismus zurück und die Klöster wachsen wieder.
Fatland besuchte dann Rentierhirten, die als Eremiten in der Taiga allein leben. Manche von ihnen sind auch Schamanen. Sie wohnen weit weg von ihren Familien und den nächsten Ortschaften. Es ist kalt. Ein Gesprächspartner aber meint „Erst bei minus 40 Grad kann man von Kälte reden.“ (Seite 191) „Nein hier ist es angenehm. Ich friere nur, wenn ich ins Dorf muss, nach Tsagaannuur. Manchmal dauert die Reise fünf Tage durch den Schnee. Wenn wir in die Stadt müssen, reiten wir auf einem Rentier. Sie sind im Winter schneller als Pferde, rutschen nie aus, stolpern niemals.“ (Seite 189)
Fatland besucht auch einen Obertonsänger, der ihr eine individuelle Vorführung bietet. Mit einem Auto fuhr sie zur chinesischen Grenze, um dann über Xinjiang nach Kasachstan zu gelangen. Die Straße zur chinesischen Grenze war dann besser. In der Mongolei sind sie meist ohne Straße querfeldein gefahren. Die bessere Straße vor der Grenze zu China signalisierte auch die Veränderung nach dem Ende des Kommunismus. „Nachdem die Mongolei 1990 eine Demokratie wurde, haben sich die Vorzeichen verändert. In der Zeit des Kommunismus wurden fünfundneunzig Prozent des Handels mit der Sowjetunion abgewickelt. Heute ist China, der alte Feind der Mongolei, der dediziert wichtigste Handelspartner. Über achtzig Prozent des gesamten Exports gehen an die Chinesen.“ (Seite 205)
Kasachstan
Um nach Kasachstan zu kommen, musste Fatland nochmals ein Stück durch China. Die, wegen der Unterdrückung von Minderheiten im Westen in die Presse gekommene Provinz Xinjiang grenzt an acht Länder: Mongolei, Afghanistan, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Pakistan, Indien und Russland. Die Provinz beherbergt über 50 Minderheiten. Die größte von ihnen ist jene der Uiguren mit fast 50 Prozent. Sie begannen sich als eigener Stamm zu deklarieren, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Sowjetunion ihre Nachbarvölker in Nationen einzuteilen begann und die Sowjetrepubliken Kasachstan und Usbekistan entstanden. In sehr sachlicher Form wird über den Widerstandskämpfer der Uiguren berichtet. Der Fokus auf Russlands Grenzen ging nicht verloren und so besuchte die Buchautorin die Stadt Urumtschi, wohin während der russischen Revolution viele Russen flüchteten. Sie war schon einmal in Kasachstan und damals hat sie sich geschworen dieses Land niemals mehr zu besuchen. Für das vorliegende Buch kam sie wieder. Sie berichtet vom zweitgrößten Gefangenenlager der UdSSR – Karaganda – wo Stalin zwischen 1929 und 1953 (seinem Tod) 800.000 politische Sträflinge internierte. Hier war auch ein Atomwaffen-Experimentiergelände. Über zwei Millionen Menschen wurden dabei verseucht. Kasachstan war die letzte Sowjetrepublik, die sich als selbstständig erklärte und ist immer noch durch Einrichtungen, wie der Raumfahrtstation Baikonur, von der die Reisende aber wenig berichten konnte, weil „die Verantwortlichen bei einer Konferenz weilten“. Sie reiste 27 Stunden mit dem Zug an und bezahlte 1000 Dollar“ Eintritt“ und bekam nichts zu sehen.
Als Leser kommt man bei dieser Reise in kleine Dörfer und zu Kleinbauern mit wenigen Tieren, wo es aber herzliche Gastfreundschaft gibt. Aber auch die neue Hauptstadt Astana wurde besucht. Ursprünglich war es eine kleine Provinzstadt – Zelinograd – die 1997 zur neuen Hauptstadt ausgerufen wurde. Eine schnell wachsende Stadt, in der die Infrastruktur nicht Schritt halten kann und Autostaus an der Tagesordnung sind.
Aserbaidschan
Mit der Fähre kam sie über das kaspische Meer nach Baku. Eine Transportform, die es nicht so genau nahm und deren Abfahrt sich oft um Tage verzögern kann. Außerdem ist die Strecke nicht sehr frequentiert. Nur wenige Passagiere waren am Fährschiff. Wie bei allen Ländern wird ein historischer Abriss gegeben. So etwa, dass Aserbaidschan sich schon 1917 als unabhängig von Russland erklärte. Das dauerte aber nur drei Jahre, bis die Bolschwiken das Land wieder besetzten. Baku war für 80 Prozent der Ölproduktion der UdSSR verantwortlich. Die Schlacht um Stalingrad sieht Fatland auch als Schlacht um die Ölfelder von Baku, denn nach Fall von Stalingrad wäre für Hitler dieser Weg frei gewesen und der Zweite Weltkrieg hätte einen anderen Ausgang genommen. Auch hier fährt sie möglichst nahe an die russische Grenze heran und besucht die Stadt Schäki.
Bergkarabach
Da die Grenze zwischen Bergkarabach und Aserbaidschan geschlossen war, musste sie über Georgien nach Bergkarabach reisen. „Zum ersten Mal auf meiner Reise war ich im christlichen Teil der Welt. Der Fahrer, der mich nach Tiflis fuhr, bekreuzigte sich an jeder Kirche, an der wir vorbeifuhren, drei Mal.“ (Seite 297) So kam sie in diese abtrünnige Republik, deren Hauptstadt Stepanakert eine verschlafene Provinzstadt war. Das Land mit 150.000 Einwohnern wird finanziert von Exil-Armeniern. Auch hier ging es um Krieg und die Autorin besuchte das Museum der toten Soldaten. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es schon Unruhen und Städte wurden in Schutt und Asche gelegt. 1992 besetzte es die armenische Armee und die Aserbaidschaner mussten flüchten.
Georgien
Nach diesem „Sidestep“ kehrte sie wieder nach Georgien zurück. „Georgien ist eines meiner Lieblingsländer, es ist ein Land, das absolut alles hat: Im Norden finden sich einige der höchsten Berge Europas, im Westen kann man im Schwarzen Meer baden, im Osten gibt es Weingüter von Weltrang.“ (Seite 307) Es ist ein Land mit gutem Essen und Gastfreundschaft. Aber auch hier dominierte der Krieg und Auseinandersetzungen mit Russland. 1999 marschierte Russland in Tschetschenien ein. Hunderttausende Menschen wurden getötet oder flohen. Wichtige Verkehrsverbindungen sind in Richtung Russlands ausgerichtet. Auch hier gibt es zwei abtrünnige Republiken: Abchasien und Südossetien, die sich in den frühen 1990er Jahren lösten. Schewardnadse, der frühere russische Außenminister brachte Frieden. Der berühmteste Mann aus Georgien war Stalin. Für viele Auseinandersetzungen der Großmächte Russland und der NATO musste das Land herhalten. Russland versetzt laufend den Grenzzaun. Fatland besucht einen Mann, der eines Tages aufwachte und im Nachbarland war. Der Zaun war über Nacht verschoben worden. Um seine Pension abheben zu können, muss er heimlich (und verbotenerweise) über den Zaun klettern und sich in seinem Heimatland das Geld abholen, das er aber nicht eintauschen kann, weil man auf der anderen Seite des Zauns nur Rubel akzeptiert. Die abenteuerliche Buchautorin besucht auch die abtrünnigen Republiken. Viele Häuser sind noch Ruinen vom Krieg
Abchasien
Eine abtrünnige Republik von Georgien hat nur 250.000 Einwohner. Zu klein, um internationale anerkannt zu werden. Russland beschützt das Land, hat Truppen stationiert, den Rubel als Währungsmittel eingeführt und bringt jährlich im Sommer Touristen ans Schwarze Meer. Nicaragua und Venezuela haben Abchasien anerkannt. So wie in vielen Ländern des Kaukasus gab es hier in der Vergangenheit, bis in die heutige Zeit Kriege. Die Autorin des Buches definierte es sehr gut, indem sie sagte „Der Krieg, der es im Westen kaum in die Zeitungen schaffte, war geprägt von fürchterlichen Übergriffen auf beiden Seiten, immer wieder kam es zu Scharmützeln unterbrochen von flüchtigen Waffenstillstandsabkommen, die immer wieder gebrochen wurden.“ (Seite 338) Trotz Friedens zeigte sich Abchasien als zerstörtes Land: „Wir fuhren an halb niedergebrannten Gebäuden, verlassenen Dörfern und Fabriken vorbei, die seit der Sowjetzeit nicht mehr in Betrieb waren. Die Felder waren verwuchert und nicht bestellt, die Straßen in einem elenden Zustand, nur notdürftig instandgehalten und voller Schlaglöcher.“ (Seite 335) Unter Gorbatschow zeigte sich die tiefe Spaltung zwischen Georgien und Abchasien: Abchasien wollte Teil der Sowjetunion sein und Georgien wünschte sich die Unabhängigkeit, die 1991 ausgerufen wurde.
Ukraine
Wieder zurück in Georgien nahm die Berichterstatterin eine Fähre, die sie nach Odessa und damit nach Europa brachte. Alles wirkte wieder geordneter. „Im Gegensatz zu der Fähre über das Kaspische Meer hatte die Schwarzmeerfähre zwischen Batumi und Odessa feste Abfahrtszeiten.“ (Seite 353) „Ukraine“ bedeutet „Land an der Grenze“. Viele Gesprächspartner der Autorin glauben, dass hinter der Orangen Revolution 2004 die USA standen.
Fatland besucht auch eine schwedische Enklave in der Ukraine. Wer hätte das gedacht. Im 18. Jahrhundert wurden sie hier angesiedelt. Am Beispiel einer Familie wird das Schicksal dieser Leute beschrieben. Wie sie im Krieg als Feinde verfrachtet wurden. Viele kamen um. Einige wanderten wieder nach Schweden zurück, aber viele von ihnen kamen doch wieder zurück in die Ukraine. Der Besuch der Verwandten war schwierig. Im Zuge des Krieges kam der Vater der Familie in Kriegsgefangenschaft und wurde nach Schweden abgeschoben, wo er mit einer anderen Frau ein neues Leben begann. Erst spät lernen die Kinder, die nun schon Erwachsene geworden waren, ihren Vater kennen ….
Sehr sachlich wird die Geschichte der Krim aufgezeigt. Im Krieg wurden ganze Familien umgesiedelt. Kinder kamen in der Fremde zur Welt. Wuchsen etwa in Usbekistan auf. Lernten usbekisch und tatarisch. Als sie wieder in ihre Heimat Krim zurückkamen, konnten sie kein russisch. Sie waren in ihrer eigenen Heimat Fremde geworden. Wie sich im Laufe der Geschichte die Besitzverhältnisse änderten. Neu auch, dass das russische Territorium „Krim“ 1954 von Nikita Chruschtschow der Ukraine geschenkt wurde. Putin holte es wieder zurück.
Kiew wurde im Zweiten Weltkrieg ziemlich zerstört. Hier wurden erstmals ferngesteuerte Bomben installiert. Als die rote Armee die Stadt vor den anrückenden und überlegenen Deutschen räumen mussten, installierten sie diese neuen Bomben und zündeten sie, nachdem die deutschen Soldaten die Stadt besetzt hatten. Anschaulich wird die Geschichte auch durch Zeitzeugen beschrieben. So besuchte die Autorin ein Krankenhaus, in dem Soldaten aus dem Krieg im Osten des Landes lagen. Einer formulierte es so: „Ich gehöre zu den Ersten, die eingezogen wurden, aber ich habe mich gefreut. Dies ist Russlands Krieg gegen uns. Putin ist wie Hitler. Wie kann ein Land einfach daherkommen und ein anderes Land einnehmen, im 21. Jahrhundert.“ (Seite 414) Dann fügte er noch hinzu „Fast alle Männer meiner Familie waren Soldaten. Mein Großvater war in Berlin. Mein Vater auf Kuba. Mein Onkel ist während des Krieges zwischen Israel und Ägypten in Syrien gewesen. Mein Bruder war in Afghanistan. Ich bin in Donezk gelandet. Es muss jetzt gut sein. Ich hoffe, dass mein Sohn davonkommt.“ (Seite 416) Dieses Gespräch fand 2017 statt. Heute wäre es noch treffender.
Nach der Hauptstadt besuchte sie noch Tschernobyl und beschreibt die derzeitige Situation dort. Auch hier wieder mit Berichten von Zeitzeugen und Leidtragenden.
Traf sie überall auf Menschen, die russisch sprachen, so fand sie in Lwiw – Lemberg – eine rein ukrainische Stadt. Auch eine Stadt, die im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört wurde.
Donezk
In der Kapitelüberschrift nennt sie dieses Gebiet „Die jüngste abtrünnige Republik der Welt“. 2012 wurde hier noch die Fußball-Europameisterschaft ausgerichtet. Donezk war eine der wohlhabenden Städte der Ukraine. Zur Entstehung des Buches war es Kriegsgebiet. Mit vielen Sondergenehmigungen gelang es das Gebiet zu besuchen. Es ist nach Russland ausgerichtet. Ein Gesprächspartner sagt „Das ganze Donezbecken soll wieder ein Teil Russlands werden. Die Menschen in Mariupol und Kramatorsk sehnen sich danach, befreit zu werden!“ (Seite 395) Während ich diese Zeilen lese, berichten die Medien über den Überfallskrieg und die Zerstörung der Ukraine durch russische Truppen. Bereits 2015 wurde viel zerstört. Nur alte Leute sind zurückgekommen und versuchten in den Ruinen Unterschlupf zu finden. Andere wünschen sich wieder: „Wir hoffen, dass Donezk wieder zu einem Teil der Ukraine wird.“ (Seite 401) Es war ein gefährlicher Ausflug. Die Begleiterin war selbst geflüchtet und kam nach einigen Jahren wieder zurück. Mit Tränen in den Augen fuhren sie über die Grenze wieder zurück in die Ukraine. Bedingt durch die geschaffene Infrastruktur während der Fußballmeisterschaft, konnte Fatland mit einem Expresszug nach Kiew zurückfahren.
Weißrussland
Von Lwiw nach Brest waren es weniger als 300 Kilometer. Weißrussland – so die Autorin – hat historisch nie existiert. 1918 genoss das Land eine kurze Periode der Unabhängigkeit. Nach einigen Monaten wurde es zu einer Sowjetrepublik. Russisch ist die Hauptsprache. Nur 15 Prozent aller Bücher erscheinen in weißrussischer Sprache. 1939 marschierten die Sowjets in Polen, dem Baltikum und Finnland ein und 1941 kamen die deutschen Truppen. Das flache Land konnte nur schwer verteidigt werden. Im Zweiten Weltkrieg wurden 9000 Dörfer niedergebrannt. In Wizebsk suchte Fatland nach Spuren von Marc Chagall, der hier aufgewachsen ist und später zurückkam. Als Jude hatte er kein einfaches Leben. Trotzdem schaffte er es, in Sankt Petersburg zu studieren und später nach Paris auszuwandern. Chagall wollte seine Werke seiner Heimatstadt vererben, aber die lehnten ab. Jetzt gibt es ein Museum, das keine Originale besitzt. Viele Juden lebten in Weißrussland. Fast alle wurden vernichtet. 100.000 lebten in Minsk in einem Ghetto. Eine ehemalige Zirkusakrobatin erzählt über das Leben im Ghetto. Ein unfassbares Leben wird hier beschrieben. Auch mit dem ehemaligen Präsidenten des Landes, dem Wissenschaftler Stanislau Schuschkewitsch konnte sie ein Gespräch führen. Sein Nachfolger Lukaschenko verordnete, dass er nur eine Pension von zwei Dollar pro Monat bekam. Ein Menschenbild anderer Natur. Um einen guten Preis für Öl und Gas zu bekommen, lud er den russischen Präsidenten Boris Jelzin zu einer Jagd ein. Mit dabei der ukrainische Präsident. In der Jagdhütte wurde die Auflösung der UdSSR beschlossen.
Litauen
Mit einem Bus kam sie nach Litauen. Schlagartig waren die Straßen besser und internationale Geschäfte tauchten auf. Vilnius, die Hauptstadt ist eine litauische Stadt. Im ganzen Land sind nur fünf Prozent Russen. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Situation anders. Damals bestand die Mehrheit der Bevölkerung aus Juden, an zweiter Stelle Polen. 20 Prozent waren Russen und nur ein Prozent Litauer. Deutsche, Polen, Russen wechselten sich in der Herrschaft ab. 1990 erklärte sich Litauen als erste Sowjetrepublik unabhängig. 1991 kam es noch zu Scharmützeln. An einer Grenze zu Russland kam es zu einem Überfall, bei dem die litauischen Beamten getötet wurden. Nur einer überlebte und die Autorin traf ihn zu einem Gespräch. In persönlichen Gesprächen mit Menschen des jeweiligen Landes wird die Geschichte und die Beziehung zu Russland beschrieben. Beim Besuch der Ostseeküste erinnert sie sich, dass hier der Deutsche Thomas Mann ein Haus hatte.
Polen
Gegenüber von Litauen liegt Danzig. Von Kaunas war es aber eine lange Reise bis Danzig. Erst im März 1945 konnte die rote Armee die Stadt einnehmen. 90 Prozent der Altstadt war durch das intensive Bombardement der Alliierten zerstört. Polen war damit theoretisch unabhängig, wurde aber als kommunistische Diktatur von der Sowjetunion aus geführt. 1989 wurden hinter dem Eisernen Vorhang in Polen die ersten freien Wahlen abgehalten. Solidarnosc gewann überlegen und ihr Führer Lech Walesa wurde erster Präsident. Die ehemalige Werft, in der die Aufstände begannen, ist heute ein Museum. Zu Beginn wurden auch heikle Themen wie die Mitverantwortung der Polen bei der Judenverfolgung, behandelt, daher wurde der Direktor von der konservativen Regierung abberufen.
Polen wurde oft besetzt und die Grenzen verschoben. Zu Russland gab es fast immer ein gespaltenes Verhältnis. Während des Zweiten Weltkriegs wurden auf Befehl Stalins 20.000 polnische Offiziere und Soldaten erschossen. Als der polnische Präsident und Parlamentsvertreter die Gedenkstätte besuchen wollten, stürzte die Maschine ab. Noch heute glauben Politiker in Polen, dass es eine Sabotage Russlands war.
Lettland
Nachdem sie ohne jegliche Kontrolle die Grenze zwischen Litauen und Lettland passiert hatte, besuchte sie die Stadt Daugavpils (russisch Dvinsk). Es ist die zweitgrößte Stadt Lettlands und die größte Stadt innerhalb der Europäischen Union, in der die Mehrheit Russen sind. Lettland hat generell ein negatives Wachstum. 1991 lebten über 2,6 Millionen Menschen im Land. 2016 weniger als 2 Millionen. Russen, die im Land wohnten, konnten die lettische Staatsbürgerschaft bekommen, wenn sie eine Prüfung in lettischer Sprache machten. Bis heute (Zeitpunkt des Besuchs der Autorin 2017), lebten so 300.000 Russen ohne Staatsbürgerschaft. Auch der Fahrer Fatlands hatte keine und sprach kein Wort lettisch. Er brauche diese Sprache nicht, da alle russisch verstünden. Auch hier traf sie einen Zeitzeugen: den 92jährigen Visvaldis Läcis. Er war in Lettland – damals ein freies Land – geboren. Als er 16 Jahre alt war fielen die Russen ein. Während der sowjetischen Okkupation wurden tausende Letten deportiert oder ermordet. Er, ein Schriftsteller, meinte: „Wir haben unter Schweden, Polen, Deutschen und Russen gelebt, und von allen waren die Russen am schlimmsten.“ (Seite 492) Nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurden die Deutschen 1939 evakuiert. Heim ins Reich. 1943 wurden 80.000 Letten in die Waffen-SS eingezogen. Nachdem die Sowjets die Deutschen vertrieben hatten, kam er ins Gefängnis. Da es nach dem Krieg zu wenige Männer gab, wurde er freigelassen. Er studierte und wurde mehrmals von der Universität ausgeschlossen. Obwohl er die besten Noten hatte, durfte er nicht promovieren. Er gehörte zu „Lettlands weißen Negern“. Er war zwei Mal Abgeordneter im lettischen Parlament. In einer neofaschistischen Partei, die für ein Verbot von Russisch an lettischen Schulen und eine Deportation aller Russen eintrat. Er meint „Die Russen sind eine Bedrohung für Lettland.“ (Seite 496) Von den fast 300.000 Russen ohne Staatsbürgerschaft will die Hälfte einen Anschluss an Russland.
Ein anderer Gesprächspartner erzählt, dass 1949 an einem einzigen Tag 42.000 Letten nach Sibirien deportiert wurden. In Viehwagens wurden sie transportiert. 1956 starb sein Vater im Gefängnis und die Mutter 1960, während er beim Militär Dienst machte. Mit 26 Jahren – nach Beendigung des Militärdienst – kam er das erste Mal nach Riga zurück, aber es war alles fremd für ihn. Erst 1993, als Lettland selbstständig wurde, bekam er den Hof seiner Eltern zurück.
Estland
Die Grenze zwischen Lettland und Estland verläuft mitten durch die Stadt Valka. Viele Einwohner sind auf die estnischen Seite gewechselt, weil sie dort mehr verdienten und ein besseres Sozialsystem vorfanden. An der Universität Tartu traf die Autorin eine Professorin, die in den 1990er Jahren Sozialministerin war. Sie war eine Kämpferin für die Unabhängigkeit und erzählte, wie sie 1989 mit 2 Millionen Menschen eine Kette bildete. „Dieser Augenblick war vielleicht der Höhepunkt meines Lebens.“ (Seite 509) Die Grenze zwischen Russland und Estland wurde von beiden Ländern nicht ratifiziert. In Städten wie Navra wohnen fast ausschließlich Russen. Sie brauchen keine estnische Sprache.
Finnland
Bei dieser Reise, so schreibt sie, hatte ich in Finnland erstmals das Gefühl nach Hause zu kommen. Mit 18 Jahren ging sie in Helsinki zur Schule, bevor sie für zwei Jahre ins Lyzeum nach Lyon übersiedelte. Finnland war für sie wie ein Heimkommen. Die Geschichte Finnlands erzählt sie in diesem Buch mit der Biografie des Freiherrn Mannerheim. Er diente im russischen Heer und baute die finnische Armee für den unabhängigen Staat auf. Finnland schwankte im Zweiten Weltkrieg zwischen Deutschland und Russland. Mit Neutralität versuchte das Land durchzukommen. Es wurde teilweise mit den Deutschen kooperiert und später einigte man sich mit den Sowjets und vertrieb die Deutschen, die zum Abschied Städte wie Rovaniemi dem Erdboden gleich machten. Bei Friedensverhandlungen verlor Finnland Teile seines Landes, wurde aber unabhängig. Mannerheim war in allen Veränderungen involviert und ist heute in Finnland eine häufig beschriebene Person. Eine 75jährige erzählt im Interview, dass ihre Familie 1939 ein Haus gebaut hatte. Nach 5 Jahren wurden sie evakuiert. Die Halbinsel, auf der das Haus stand, wurde ein sowjetischer Militärstützpunkt. Die 7.000 Einwohner mussten innerhalb von wenigen Tagen ihre Häuser verlassen. Finnland hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine halbe Million Vertriebener. 1955 gab Chruschtschow den Militärstützpunkt an Finnland zurück, so wie er die Krim den Ukrainern gab. Das Haus der Erzählerin existierte nicht mehr. Weiter im Norden veränderten sich die Grenzen mehrmals. Von 1920 bis 1944 grenzte Norwegen nur an Finnland und Schweden und nicht an Russland. 1944 musste Finnland wieder Teile abgeben. Die Menschen im Gebiet von Petsamo mussten umgesiedelt werden. Eine 83jährige Frau erzählt, wie dies damals war. Wie sie in Finnland lebte, ohne finnisch zu sprechen. Wie sie im Krieg nach Schweden kam und dort zur Schule ging und als sie zurück kam nur schwedisch sprach.
Norwegen
Als der Vater der Autorin hörte, dass seine Tochter zu Fuß und mit dem Kanu die Grenze zwischen Norwegen und Russland entlangfahren will, entschied er sich sie zu begleiten. Es war die einzige Wegstrecke, die sie nicht allein unternahm. Diese Grenze ist 196 Kilometer lang. Das sind aber nur acht Prozent der norwegischen Grenze. Die norwegische Stadt Kirkenes hat einen regen Austausch mit der russischen Stadt Nikel. Die Finnen „fahren mit Kind und Kegel nach Nikel auf der russischen Seite, um Wodka und Zigaretten zu kaufen und zu tanken. Und die Russen kamen in Scharen, um Sportausrüstung und Pulverkaffee zu kaufen … Außerdem kauften sie Windeln, die hier tatsächlich billiger sind als in Russland.“ (Seite 573) Kirkenes war im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt. Eine Neunundsiebzigjährige erzählt, wie sie 1944 erlebte, als sie von den Russen befreit wurden. Die abziehenden deutschen Truppen brannten noch alles nieder. Viele hatten keine Häuser mehr und wohnten in Stollen eines Bergwerks. Nach einem Jahr zogen sich die Russen wieder aus Norwegen zurück. Russland machte wenig später der norwegischen Regierung denselben Vorschlag wie Finnland, einen Nichtangriffspakt einzugehen. Norwegen entschied sich dagegen und trat der NATO bei.
Der Vater fuhr mit der Tochter im Kanu am Grenzfluss entlang nach Norden. Norwegische Soldaten zeigten ihnen die militärischen Einrichtungen. Einer der Offiziere erzählte, wie es 1968 fast zu einem Krieg kam, als an der Grenze Panzer und Militärkonvois auffuhren, die sich aber Gott sei Dank nach einigen Tagen wieder zurückzogen. Norwegen hatte mit Russland nie Krieg. „Norweger und Russen im Großen und Ganzen sind geprägt von gegenseitigem Respekt und Verständnis.“ (Seite 574)
Zusammenfassung
Die Autorin resümiert: Im Laufe des Jahres hatte sie 20.000 Kilometer entlang der russischen Grenze mit Hilfe von Inlandsflügen, Schnellzügen, Kleinbussen, Pferden, Taxis, Lastschiffen, Kajaks und zu Fuß zurückgelegt. Sie war durch 14 Länder und 3 abtrünnige Republiken gereist. „Keines der Länder, die ich besucht habe, war ohne Wunden oder Narben in Folge der Nachbarschaft zu Russland.“ (Seite 601) Sie wagt auch eine Prognose, wenn sie schreibt: „Das größte Land der Erde hat nur geringes Selbstvertrauen, wirtschaftlich geht es bergab, die Bevölkerung schrumpft. Der Bedarf nach Selbstbehauptung und Anerkennung ist umso größer. … Das russische Imperium wurde so groß, gerade weil die jeweiligen Herrscher jederzeit alle sich bietenden Möglichkeiten ergriffen, um die Grenzen zu erweitern, koste es, was es wolle. Nur selten vermieden sie dabei Brutalität, schmutzige Tricks oder auch einen weiteren Krieg.“ (Seite 602) „Langfristig ist es schwer zu beurteilen, ob Russland in einer Generation, in hundert oder zweihundert Jahren mit seinen nahezu zweihundert ethnischen Gruppen und Nationalitäten, mit seinen siebzehn Millionen Quadratkilometern und seinen sechzigtausend Kilometer langen Grenzen als ein zusammenhängendes Ganzes weiterhin existieren kann.“ (Seite 603)
Viele Grenzen wurden bei dieser Reise überschritten und daher möchte ich hier die Definition der Autorin von Grenze wiedergeben: „Eine Grenze zu überqueren, gehört zu den faszinierendsten Dingen, die es gibt. Geographisch gesehen ist der Schritt minimal, nahezu mikroskopisch. Man bewegt sich nur einige wenige Meter, doch man befindet sich plötzlich in einem anderen Universum. Manchmal ist absolut alles anders, vom Alphabet und der Währung bis hin zu Gesichtern, Farben, Geschmäckern, bedeutenden Jahreszahlen und den Namen, die die Menschen anerkennend nicken lassen.“ (Seite 223)
Meine Buchbesprechung ist etwas lang geworden, aber das Buch ist mit über 600 Seiten auch dick. Fast jedes der 14 hier beschriebenen russischen Nachbarländer würde ein eigenes Buch ergeben.
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Ich bin begeistert von Frau Fatland und ihrem Stil zu erzählen. Auf dieses Buch hatte ich mich schon gefreut und ich wurde wieder nicht enttäuscht. Eine großartige Frau, die sich ausgefallenste Reisen getraut zu machen und dann noch sehr anschaulich erzählen kann. Nicht nur das, was sie gesehen hatte, sondern auch Hintergrundinformationen und Geschichte. Da steckt viel Recherchearbeit dahinter, die aber sehr leicht lesbar verpackt ist.
Es geht um die Nachbarländer von Russland. Einerseits ein Bericht ihrer Reise und andererseits eine historische Abhandlung. So erfährt man gleich zu Beginn (oder sollte man das wissen?), dass alle europäischen Großmächte Kolonien besaßen. Nur Russland nicht. Russland dehnte sein Reich laufend aus. „Von der Machtübernahme der Romanows1613 an war das russische Imperium im Schnitt jeden einzelnen Tag über hundert Quadratkilometer gewachsen.“ (Seite 117) Viele Erweiterungen passierten ohne Krieg. Die asiatische Erweiterung brachten russische Pelzhändler, die immer weiter vorrückten, um von den Einheimischen zu günstigen Preisen Pelze zu kaufen, die im Westen viel wert waren.
Nordostpassage
Im ersten Kapitel wird die Fahrt mit einem Schiff entlang der Nordküste Russlands beschrieben. Die Fahrt begann in der Beringstraße in Anadyr und ging bis Murmansk im Westen. Sie dauerte für die über 10.000 Kilometer vier Wochen. Am Schiff waren 47 Passagiere. Durchwegs alte Menschen, die aber Weltenbummler waren und viel von ihren Reisen zu erzählen hatten. Vier Wochen gab es kein Internet und kein Telefon. Angelegt wurde in ehemaligen Wetterstationen oder Dörfern. Auf der Reise gab es nur Ruhe und manchmal Eisbären, Robben oder Seelöwen. Eine Reise, auf der es nicht allzu viel Abwechslung gab. Dafür liefert die Autorin viel Geschichtliches über die Eroberung der östlichen Teile Russlands und den Positionen im Norden. Vier Wochen ohne Internet, ohne Telefon und ohne Nachrichten aus der Welt sind ein Erlebnis der besonderen Art.
Nordkorea
Dass es kein freies Land ist, weiß man. Dass es von einem Diktator geführt wird, dessen Rechte schon in die dritte Generation vererbt sind, weiß man auch. Freies Reisen ist nicht möglich. Fatland hatte eine Gruppenreise gebucht, die sich nicht nur auf die Hauptstadt Pjöngjang konzentrierte. Sie kam auch aufs Land und erzählt in diesem Kapitel, wie anders das Reisen in Nordkorea ist. Alles wird überwacht. Alles ist nach einem vorgegebenen Programm organisiert. Als Reisender wird man laufend beschäftigt, um am Abend müde zu Bett zu gehen und keine Ansprüche auf Spaziergänge hat. Und wenn man das noch wünscht, so meint der Führer „Sie können noch ein bisschen auf dem Parkplatz spazieren gehen, wenn sie wollen.“ (Seite 102) Der große Führer Kim ist überall zu sehen. Auch Touristen müssen sich vor seiner Statue verneigen. Fatland nennt es ein „Verneigen, ohne sich zu verbiegen“. Man durfte eine Statue des Führers nur in vollem Umfang ablichten. Generell wurden die Fotoapparate der Touristen laufend von deren Führern geprüft und vieles sofort gelöscht. So muss sich die Autorin von ihrer Führerin sagen lassen, dass sie nur schöne Dinge fotografieren dürfe, während diese die Löschtaste drückt. „Der nordkoreanische Grenzpolizist war sogar noch gründlicher als Miss Pan. Übereifrig durchsuchte er sämtliche Fotos auf meiner Kamera, über sechshundert an der Zahl. Er löschte alle Bilder mit Menschen, die arm aussahen, sowie alle Fotos, die Männer in Militäruniform zeigten – davon gab es einige.“ (Seite 115) Im Nachsatz schreibt sie aber „Glücklicherweise hatte ich vorsichtshalber eine Sicherungskopie erstellt.“
Bei allen Länderberichten wird Bezug auf Russland genommen. So auch aus historischer Sicht. Die Beziehung zwischen Russland und Nordkorea war einmal bedeutend und verschlechterte sich. Nach der Okkupation der Krim durch die Russen wurden die Beziehung zu Nordkorea wieder ausgebaut. Russland strich neunzig Prozent der Staatsschulden Nordkoreas und investierte dreihundert Millionen Dollar in das nordkoreanische Eisenbahnnetz. Als allerdings die UNO die Atomversuche und Raketenabschüsse Nordkoreas kritisierte, distanzierte sich auch Russland wieder.
China
Nach Nordkorea und seinen Restriktionen, fühlte sich die Reisende in China wie in einem freien Land. Sie durfte hingehen, wo sie wollte, und musste nicht am Parkplatz spazieren gehen. Sie querte die Grenze mit einem Bus und kam in die chinesische Stadt Dalian. Die Stadt mit 7 Millionen Einwohnern ist eine, der am schnellsten wachsenden Städte Chinas und „wurde 2006 von China Daily zur chinesischen Stadt mit der höchsten Lebensqualität gekürt.“ (Seite 117) Diese Stadt hatte Fatland ausgewählt, weil sie 1889 als Port Arthur in russische Hände fiel. In dieser Hafenstadt endete die Expansion Russlands nach Osten. Die Grenze zwischen China und Russland war immer umstritten und umkämpft. 1858 erhielten die Russen in einem Vertrag die Gebiete nördlich des Flusses Amur. In Europa war der Zweite Weltkrieg zwar am 30. April 1945 zu Ende, aber nach Abwurf der Atombombe über Hiroshima am 9. August marschierten 1,5 Millionen sowjetische Soldaten in China ein, um die japanischen Besatzer zu vertreiben. Da es noch heute Streitereien um eine Insel gibt, kam es zwischen Japan und Russland bis heute zu keinem Friedenvertrag. Die Sowjets zogen sich später zurück und übergaben das Land Maos Truppen. Von der Stadt Dalian reist die Autorin weiter nach Harbin. Sie nimmt einen Hochgeschwindigkeitszug und ist begeistert. „Jährlich transportieren chinesische Züge 2,5 Milliarden Passagiere, und diese Zahl ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Entfernung, die jeder Passagier zurücklegt, fünfhundert Kilometer beträgt.“ (Seite 129) Auch Harbin hat russische Wurzeln. Ende des 19. Jahrhunderts wurde hier die Administration der „Ostchinesischen Eisenbahn“ von den Russen gegründet. Die Stadt blühte auf und wurde „das Paris des Fernen Ostens“ genannt. 1905 verloren die Russen gegen Japan einen Krieg. Viele Russen gingen heim. Harbin wurde aber eine internationale Stadt. Nach der russischen Revolution kamen viele politische Flüchtlinge und hatte den größten jüdischen Bevölkerungsanteil im Fernen Osten. Die Japaner entwickelten und produzierten hier biologische Waffen. Viele Menschen starben an den Folgen dieser Industrie. Die Chinesen betreiben heute ein „russisches Dorf“; eine Art Disney Land, das russische Kultur vermitteln soll. Viele Russen finden hier einen Arbeitsplatz. Die Autorin zeigt dies am Beispiel einer russischen Pensionistin aus Wladiwostok, die hier arbeitet, weil sie zu Hause mit der staatlichen Rente nur schwer leben könnte. Fatland reist entlang der Grenze weiter in die Grenzstadt Heihe am Fluss Amur. Auf russischer Seite, im östlichen Sibirien, leben sechs Millionen Menschen auf einer Fläche, die ein Drittel des Landes umfasst. Russland und China steht sich gegenüber. „Die Russen haben das meiste Land, die Chinesen die meisten Menschen.“ (Seite 144) Erst 2008 kam es zu einem friedlichen Nebeneinander. Eine Vereinbarung regelt die 4300 Kilometer lange Grenze. Die Nachbarstädte Heihe auf chinesischer Seite und Blagoweschtschensk auf der russischen Seite des Flusses bilden eine Freihandelszone. Bedingt durch die Sanktionen des Westens nach der Okkupation der Krim wurden die Beziehungen zwischen Russland und China ausgebaut und eine 4000 Kilometer lange Gaspipeline gebaut. Aber Europa und die USA haben ein zehn Mal größeres Handelsvolumen für China als Russland. Ein Besuch in so einem Freihandelseinkaufszentrum zeigt aber, dass es nicht funktioniert. Einkaufen ist für Russen zu teuer geworden. Vor einigen Jahren zahlten sie für einen Yuan 5 Rubel und heute 10.
Mongolei
Mit dem Zug geht es weiter von Peking nach Ulaanbaatar. Sie wählte einen Zug, der nur bis zur mongolischen Hauptstadt fuhr und nicht nach Moskau. Wenige Passagiere waren unterwegs. Sie war der einzige Passagier im Schlafwagen. Die Grenzkontrollen waren intensiv. Die Fahrt dauerte 27 Stunden. Neben persönlichen Eindrücken wird die Geschichte des Landes erzählt. Beginnend beim Nationalhelden Chinggis Khaan, über die Besetzung durch die Chinesen und Sowjets bis zum Jahr 1990 und dem Ende des kommunistischen Regimes. 1946 erkannte China die Mongolei als unabhängiges Land an, aber erst 1961 wurde es als unabhängiges Mitgliedsland in die UNO aufgenommen. Eine grundlegende gesellschaftliche Änderung brachte das Ende des Kommunismus. Die Nomaden zogen in die Hauptstadt, die sich in zwei Jahrzehnten von einer halben Million auf 1,5 Millionen verdreifachte. Ein Mönch im Kloster Erdene Zuu erzählt, wie das zutiefst religiöse Land nach Übernahme durch die Russen 1920 verändert wurde. Klöster wurden geschlossen und Religionsführer ermordet. In 1 ½ Jahren wurden 10.000 Lamas getötet. Ebenso Intellektuelle, hohe Militärs und Politiker. Erst 1992 durfte man wieder Mönch werden, so wie der Erzähler. Stalin wollte das Kolchosen System einführen und verlangte von den Nomaden ihren Viehbestand dem Staat zu überlassen. Diese aber töten ihre Tiere liebe, als sie dem kommunistischen Staat auszuliefern. Die Folge war eine Hungersnot. Militärisch wurde der Aufstand niedergeschlagen. Die neu gewonnene Religionsfreiheit brachte die Hälfte der Mongolen wieder zum Buddhismus zurück und die Klöster wachsen wieder.
Fatland besuchte dann Rentierhirten, die als Eremiten in der Taiga allein leben. Manche von ihnen sind auch Schamanen. Sie wohnen weit weg von ihren Familien und den nächsten Ortschaften. Es ist kalt. Ein Gesprächspartner aber meint „Erst bei minus 40 Grad kann man von Kälte reden.“ (Seite 191) „Nein hier ist es angenehm. Ich friere nur, wenn ich ins Dorf muss, nach Tsagaannuur. Manchmal dauert die Reise fünf Tage durch den Schnee. Wenn wir in die Stadt müssen, reiten wir auf einem Rentier. Sie sind im Winter schneller als Pferde, rutschen nie aus, stolpern niemals.“ (Seite 189)
Fatland besucht auch einen Obertonsänger, der ihr eine individuelle Vorführung bietet. Mit einem Auto fuhr sie zur chinesischen Grenze, um dann über Xinjiang nach Kasachstan zu gelangen. Die Straße zur chinesischen Grenze war dann besser. In der Mongolei sind sie meist ohne Straße querfeldein gefahren. Die bessere Straße vor der Grenze zu China signalisierte auch die Veränderung nach dem Ende des Kommunismus. „Nachdem die Mongolei 1990 eine Demokratie wurde, haben sich die Vorzeichen verändert. In der Zeit des Kommunismus wurden fünfundneunzig Prozent des Handels mit der Sowjetunion abgewickelt. Heute ist China, der alte Feind der Mongolei, der dediziert wichtigste Handelspartner. Über achtzig Prozent des gesamten Exports gehen an die Chinesen.“ (Seite 205)
Kasachstan
Um nach Kasachstan zu kommen, musste Fatland nochmals ein Stück durch China. Die, wegen der Unterdrückung von Minderheiten im Westen in die Presse gekommene Provinz Xinjiang grenzt an acht Länder: Mongolei, Afghanistan, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Pakistan, Indien und Russland. Die Provinz beherbergt über 50 Minderheiten. Die größte von ihnen ist jene der Uiguren mit fast 50 Prozent. Sie begannen sich als eigener Stamm zu deklarieren, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Sowjetunion ihre Nachbarvölker in Nationen einzuteilen begann und die Sowjetrepubliken Kasachstan und Usbekistan entstanden. In sehr sachlicher Form wird über den Widerstandskämpfer der Uiguren berichtet. Der Fokus auf Russlands Grenzen ging nicht verloren und so besuchte die Buchautorin die Stadt Urumtschi, wohin während der russischen Revolution viele Russen flüchteten. Sie war schon einmal in Kasachstan und damals hat sie sich geschworen dieses Land niemals mehr zu besuchen. Für das vorliegende Buch kam sie wieder. Sie berichtet vom zweitgrößten Gefangenenlager der UdSSR – Karaganda – wo Stalin zwischen 1929 und 1953 (seinem Tod) 800.000 politische Sträflinge internierte. Hier war auch ein Atomwaffen-Experimentiergelände. Über zwei Millionen Menschen wurden dabei verseucht. Kasachstan war die letzte Sowjetrepublik, die sich als selbstständig erklärte und ist immer noch durch Einrichtungen, wie der Raumfahrtstation Baikonur, von der die Reisende aber wenig berichten konnte, weil „die Verantwortlichen bei einer Konferenz weilten“. Sie reiste 27 Stunden mit dem Zug an und bezahlte 1000 Dollar“ Eintritt“ und bekam nichts zu sehen.
Als Leser kommt man bei dieser Reise in kleine Dörfer und zu Kleinbauern mit wenigen Tieren, wo es aber herzliche Gastfreundschaft gibt. Aber auch die neue Hauptstadt Astana wurde besucht. Ursprünglich war es eine kleine Provinzstadt – Zelinograd – die 1997 zur neuen Hauptstadt ausgerufen wurde. Eine schnell wachsende Stadt, in der die Infrastruktur nicht Schritt halten kann und Autostaus an der Tagesordnung sind.
Aserbaidschan
Mit der Fähre kam sie über das kaspische Meer nach Baku. Eine Transportform, die es nicht so genau nahm und deren Abfahrt sich oft um Tage verzögern kann. Außerdem ist die Strecke nicht sehr frequentiert. Nur wenige Passagiere waren am Fährschiff. Wie bei allen Ländern wird ein historischer Abriss gegeben. So etwa, dass Aserbaidschan sich schon 1917 als unabhängig von Russland erklärte. Das dauerte aber nur drei Jahre, bis die Bolschwiken das Land wieder besetzten. Baku war für 80 Prozent der Ölproduktion der UdSSR verantwortlich. Die Schlacht um Stalingrad sieht Fatland auch als Schlacht um die Ölfelder von Baku, denn nach Fall von Stalingrad wäre für Hitler dieser Weg frei gewesen und der Zweite Weltkrieg hätte einen anderen Ausgang genommen. Auch hier fährt sie möglichst nahe an die russische Grenze heran und besucht die Stadt Schäki.
Bergkarabach
Da die Grenze zwischen Bergkarabach und Aserbaidschan geschlossen war, musste sie über Georgien nach Bergkarabach reisen. „Zum ersten Mal auf meiner Reise war ich im christlichen Teil der Welt. Der Fahrer, der mich nach Tiflis fuhr, bekreuzigte sich an jeder Kirche, an der wir vorbeifuhren, drei Mal.“ (Seite 297) So kam sie in diese abtrünnige Republik, deren Hauptstadt Stepanakert eine verschlafene Provinzstadt war. Das Land mit 150.000 Einwohnern wird finanziert von Exil-Armeniern. Auch hier ging es um Krieg und die Autorin besuchte das Museum der toten Soldaten. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es schon Unruhen und Städte wurden in Schutt und Asche gelegt. 1992 besetzte es die armenische Armee und die Aserbaidschaner mussten flüchten.
Georgien
Nach diesem „Sidestep“ kehrte sie wieder nach Georgien zurück. „Georgien ist eines meiner Lieblingsländer, es ist ein Land, das absolut alles hat: Im Norden finden sich einige der höchsten Berge Europas, im Westen kann man im Schwarzen Meer baden, im Osten gibt es Weingüter von Weltrang.“ (Seite 307) Es ist ein Land mit gutem Essen und Gastfreundschaft. Aber auch hier dominierte der Krieg und Auseinandersetzungen mit Russland. 1999 marschierte Russland in Tschetschenien ein. Hunderttausende Menschen wurden getötet oder flohen. Wichtige Verkehrsverbindungen sind in Richtung Russlands ausgerichtet. Auch hier gibt es zwei abtrünnige Republiken: Abchasien und Südossetien, die sich in den frühen 1990er Jahren lösten. Schewardnadse, der frühere russische Außenminister brachte Frieden. Der berühmteste Mann aus Georgien war Stalin. Für viele Auseinandersetzungen der Großmächte Russland und der NATO musste das Land herhalten. Russland versetzt laufend den Grenzzaun. Fatland besucht einen Mann, der eines Tages aufwachte und im Nachbarland war. Der Zaun war über Nacht verschoben worden. Um seine Pension abheben zu können, muss er heimlich (und verbotenerweise) über den Zaun klettern und sich in seinem Heimatland das Geld abholen, das er aber nicht eintauschen kann, weil man auf der anderen Seite des Zauns nur Rubel akzeptiert. Die abenteuerliche Buchautorin besucht auch die abtrünnigen Republiken. Viele Häuser sind noch Ruinen vom Krieg
Abchasien
Eine abtrünnige Republik von Georgien hat nur 250.000 Einwohner. Zu klein, um internationale anerkannt zu werden. Russland beschützt das Land, hat Truppen stationiert, den Rubel als Währungsmittel eingeführt und bringt jährlich im Sommer Touristen ans Schwarze Meer. Nicaragua und Venezuela haben Abchasien anerkannt. So wie in vielen Ländern des Kaukasus gab es hier in der Vergangenheit, bis in die heutige Zeit Kriege. Die Autorin des Buches definierte es sehr gut, indem sie sagte „Der Krieg, der es im Westen kaum in die Zeitungen schaffte, war geprägt von fürchterlichen Übergriffen auf beiden Seiten, immer wieder kam es zu Scharmützeln unterbrochen von flüchtigen Waffenstillstandsabkommen, die immer wieder gebrochen wurden.“ (Seite 338) Trotz Friedens zeigte sich Abchasien als zerstörtes Land: „Wir fuhren an halb niedergebrannten Gebäuden, verlassenen Dörfern und Fabriken vorbei, die seit der Sowjetzeit nicht mehr in Betrieb waren. Die Felder waren verwuchert und nicht bestellt, die Straßen in einem elenden Zustand, nur notdürftig instandgehalten und voller Schlaglöcher.“ (Seite 335) Unter Gorbatschow zeigte sich die tiefe Spaltung zwischen Georgien und Abchasien: Abchasien wollte Teil der Sowjetunion sein und Georgien wünschte sich die Unabhängigkeit, die 1991 ausgerufen wurde.
Ukraine
Wieder zurück in Georgien nahm die Berichterstatterin eine Fähre, die sie nach Odessa und damit nach Europa brachte. Alles wirkte wieder geordneter. „Im Gegensatz zu der Fähre über das Kaspische Meer hatte die Schwarzmeerfähre zwischen Batumi und Odessa feste Abfahrtszeiten.“ (Seite 353) „Ukraine“ bedeutet „Land an der Grenze“. Viele Gesprächspartner der Autorin glauben, dass hinter der Orangen Revolution 2004 die USA standen.
Fatland besucht auch eine schwedische Enklave in der Ukraine. Wer hätte das gedacht. Im 18. Jahrhundert wurden sie hier angesiedelt. Am Beispiel einer Familie wird das Schicksal dieser Leute beschrieben. Wie sie im Krieg als Feinde verfrachtet wurden. Viele kamen um. Einige wanderten wieder nach Schweden zurück, aber viele von ihnen kamen doch wieder zurück in die Ukraine. Der Besuch der Verwandten war schwierig. Im Zuge des Krieges kam der Vater der Familie in Kriegsgefangenschaft und wurde nach Schweden abgeschoben, wo er mit einer anderen Frau ein neues Leben begann. Erst spät lernen die Kinder, die nun schon Erwachsene geworden waren, ihren Vater kennen ….
Sehr sachlich wird die Geschichte der Krim aufgezeigt. Im Krieg wurden ganze Familien umgesiedelt. Kinder kamen in der Fremde zur Welt. Wuchsen etwa in Usbekistan auf. Lernten usbekisch und tatarisch. Als sie wieder in ihre Heimat Krim zurückkamen, konnten sie kein russisch. Sie waren in ihrer eigenen Heimat Fremde geworden. Wie sich im Laufe der Geschichte die Besitzverhältnisse änderten. Neu auch, dass das russische Territorium „Krim“ 1954 von Nikita Chruschtschow der Ukraine geschenkt wurde. Putin holte es wieder zurück.
Kiew wurde im Zweiten Weltkrieg ziemlich zerstört. Hier wurden erstmals ferngesteuerte Bomben installiert. Als die rote Armee die Stadt vor den anrückenden und überlegenen Deutschen räumen mussten, installierten sie diese neuen Bomben und zündeten sie, nachdem die deutschen Soldaten die Stadt besetzt hatten. Anschaulich wird die Geschichte auch durch Zeitzeugen beschrieben. So besuchte die Autorin ein Krankenhaus, in dem Soldaten aus dem Krieg im Osten des Landes lagen. Einer formulierte es so: „Ich gehöre zu den Ersten, die eingezogen wurden, aber ich habe mich gefreut. Dies ist Russlands Krieg gegen uns. Putin ist wie Hitler. Wie kann ein Land einfach daherkommen und ein anderes Land einnehmen, im 21. Jahrhundert.“ (Seite 414) Dann fügte er noch hinzu „Fast alle Männer meiner Familie waren Soldaten. Mein Großvater war in Berlin. Mein Vater auf Kuba. Mein Onkel ist während des Krieges zwischen Israel und Ägypten in Syrien gewesen. Mein Bruder war in Afghanistan. Ich bin in Donezk gelandet. Es muss jetzt gut sein. Ich hoffe, dass mein Sohn davonkommt.“ (Seite 416) Dieses Gespräch fand 2017 statt. Heute wäre es noch treffender.
Nach der Hauptstadt besuchte sie noch Tschernobyl und beschreibt die derzeitige Situation dort. Auch hier wieder mit Berichten von Zeitzeugen und Leidtragenden.
Traf sie überall auf Menschen, die russisch sprachen, so fand sie in Lwiw – Lemberg – eine rein ukrainische Stadt. Auch eine Stadt, die im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört wurde.
Donezk
In der Kapitelüberschrift nennt sie dieses Gebiet „Die jüngste abtrünnige Republik der Welt“. 2012 wurde hier noch die Fußball-Europameisterschaft ausgerichtet. Donezk war eine der wohlhabenden Städte der Ukraine. Zur Entstehung des Buches war es Kriegsgebiet. Mit vielen Sondergenehmigungen gelang es das Gebiet zu besuchen. Es ist nach Russland ausgerichtet. Ein Gesprächspartner sagt „Das ganze Donezbecken soll wieder ein Teil Russlands werden. Die Menschen in Mariupol und Kramatorsk sehnen sich danach, befreit zu werden!“ (Seite 395) Während ich diese Zeilen lese, berichten die Medien über den Überfallskrieg und die Zerstörung der Ukraine durch russische Truppen. Bereits 2015 wurde viel zerstört. Nur alte Leute sind zurückgekommen und versuchten in den Ruinen Unterschlupf zu finden. Andere wünschen sich wieder: „Wir hoffen, dass Donezk wieder zu einem Teil der Ukraine wird.“ (Seite 401) Es war ein gefährlicher Ausflug. Die Begleiterin war selbst geflüchtet und kam nach einigen Jahren wieder zurück. Mit Tränen in den Augen fuhren sie über die Grenze wieder zurück in die Ukraine. Bedingt durch die geschaffene Infrastruktur während der Fußballmeisterschaft, konnte Fatland mit einem Expresszug nach Kiew zurückfahren.
Weißrussland
Von Lwiw nach Brest waren es weniger als 300 Kilometer. Weißrussland – so die Autorin – hat historisch nie existiert. 1918 genoss das Land eine kurze Periode der Unabhängigkeit. Nach einigen Monaten wurde es zu einer Sowjetrepublik. Russisch ist die Hauptsprache. Nur 15 Prozent aller Bücher erscheinen in weißrussischer Sprache. 1939 marschierten die Sowjets in Polen, dem Baltikum und Finnland ein und 1941 kamen die deutschen Truppen. Das flache Land konnte nur schwer verteidigt werden. Im Zweiten Weltkrieg wurden 9000 Dörfer niedergebrannt. In Wizebsk suchte Fatland nach Spuren von Marc Chagall, der hier aufgewachsen ist und später zurückkam. Als Jude hatte er kein einfaches Leben. Trotzdem schaffte er es, in Sankt Petersburg zu studieren und später nach Paris auszuwandern. Chagall wollte seine Werke seiner Heimatstadt vererben, aber die lehnten ab. Jetzt gibt es ein Museum, das keine Originale besitzt. Viele Juden lebten in Weißrussland. Fast alle wurden vernichtet. 100.000 lebten in Minsk in einem Ghetto. Eine ehemalige Zirkusakrobatin erzählt über das Leben im Ghetto. Ein unfassbares Leben wird hier beschrieben. Auch mit dem ehemaligen Präsidenten des Landes, dem Wissenschaftler Stanislau Schuschkewitsch konnte sie ein Gespräch führen. Sein Nachfolger Lukaschenko verordnete, dass er nur eine Pension von zwei Dollar pro Monat bekam. Ein Menschenbild anderer Natur. Um einen guten Preis für Öl und Gas zu bekommen, lud er den russischen Präsidenten Boris Jelzin zu einer Jagd ein. Mit dabei der ukrainische Präsident. In der Jagdhütte wurde die Auflösung der UdSSR beschlossen.
Litauen
Mit einem Bus kam sie nach Litauen. Schlagartig waren die Straßen besser und internationale Geschäfte tauchten auf. Vilnius, die Hauptstadt ist eine litauische Stadt. Im ganzen Land sind nur fünf Prozent Russen. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Situation anders. Damals bestand die Mehrheit der Bevölkerung aus Juden, an zweiter Stelle Polen. 20 Prozent waren Russen und nur ein Prozent Litauer. Deutsche, Polen, Russen wechselten sich in der Herrschaft ab. 1990 erklärte sich Litauen als erste Sowjetrepublik unabhängig. 1991 kam es noch zu Scharmützeln. An einer Grenze zu Russland kam es zu einem Überfall, bei dem die litauischen Beamten getötet wurden. Nur einer überlebte und die Autorin traf ihn zu einem Gespräch. In persönlichen Gesprächen mit Menschen des jeweiligen Landes wird die Geschichte und die Beziehung zu Russland beschrieben. Beim Besuch der Ostseeküste erinnert sie sich, dass hier der Deutsche Thomas Mann ein Haus hatte.
Polen
Gegenüber von Litauen liegt Danzig. Von Kaunas war es aber eine lange Reise bis Danzig. Erst im März 1945 konnte die rote Armee die Stadt einnehmen. 90 Prozent der Altstadt war durch das intensive Bombardement der Alliierten zerstört. Polen war damit theoretisch unabhängig, wurde aber als kommunistische Diktatur von der Sowjetunion aus geführt. 1989 wurden hinter dem Eisernen Vorhang in Polen die ersten freien Wahlen abgehalten. Solidarnosc gewann überlegen und ihr Führer Lech Walesa wurde erster Präsident. Die ehemalige Werft, in der die Aufstände begannen, ist heute ein Museum. Zu Beginn wurden auch heikle Themen wie die Mitverantwortung der Polen bei der Judenverfolgung, behandelt, daher wurde der Direktor von der konservativen Regierung abberufen.
Polen wurde oft besetzt und die Grenzen verschoben. Zu Russland gab es fast immer ein gespaltenes Verhältnis. Während des Zweiten Weltkriegs wurden auf Befehl Stalins 20.000 polnische Offiziere und Soldaten erschossen. Als der polnische Präsident und Parlamentsvertreter die Gedenkstätte besuchen wollten, stürzte die Maschine ab. Noch heute glauben Politiker in Polen, dass es eine Sabotage Russlands war.
Lettland
Nachdem sie ohne jegliche Kontrolle die Grenze zwischen Litauen und Lettland passiert hatte, besuchte sie die Stadt Daugavpils (russisch Dvinsk). Es ist die zweitgrößte Stadt Lettlands und die größte Stadt innerhalb der Europäischen Union, in der die Mehrheit Russen sind. Lettland hat generell ein negatives Wachstum. 1991 lebten über 2,6 Millionen Menschen im Land. 2016 weniger als 2 Millionen. Russen, die im Land wohnten, konnten die lettische Staatsbürgerschaft bekommen, wenn sie eine Prüfung in lettischer Sprache machten. Bis heute (Zeitpunkt des Besuchs der Autorin 2017), lebten so 300.000 Russen ohne Staatsbürgerschaft. Auch der Fahrer Fatlands hatte keine und sprach kein Wort lettisch. Er brauche diese Sprache nicht, da alle russisch verstünden. Auch hier traf sie einen Zeitzeugen: den 92jährigen Visvaldis Läcis. Er war in Lettland – damals ein freies Land – geboren. Als er 16 Jahre alt war fielen die Russen ein. Während der sowjetischen Okkupation wurden tausende Letten deportiert oder ermordet. Er, ein Schriftsteller, meinte: „Wir haben unter Schweden, Polen, Deutschen und Russen gelebt, und von allen waren die Russen am schlimmsten.“ (Seite 492) Nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurden die Deutschen 1939 evakuiert. Heim ins Reich. 1943 wurden 80.000 Letten in die Waffen-SS eingezogen. Nachdem die Sowjets die Deutschen vertrieben hatten, kam er ins Gefängnis. Da es nach dem Krieg zu wenige Männer gab, wurde er freigelassen. Er studierte und wurde mehrmals von der Universität ausgeschlossen. Obwohl er die besten Noten hatte, durfte er nicht promovieren. Er gehörte zu „Lettlands weißen Negern“. Er war zwei Mal Abgeordneter im lettischen Parlament. In einer neofaschistischen Partei, die für ein Verbot von Russisch an lettischen Schulen und eine Deportation aller Russen eintrat. Er meint „Die Russen sind eine Bedrohung für Lettland.“ (Seite 496) Von den fast 300.000 Russen ohne Staatsbürgerschaft will die Hälfte einen Anschluss an Russland.
Ein anderer Gesprächspartner erzählt, dass 1949 an einem einzigen Tag 42.000 Letten nach Sibirien deportiert wurden. In Viehwagens wurden sie transportiert. 1956 starb sein Vater im Gefängnis und die Mutter 1960, während er beim Militär Dienst machte. Mit 26 Jahren – nach Beendigung des Militärdienst – kam er das erste Mal nach Riga zurück, aber es war alles fremd für ihn. Erst 1993, als Lettland selbstständig wurde, bekam er den Hof seiner Eltern zurück.
Estland
Die Grenze zwischen Lettland und Estland verläuft mitten durch die Stadt Valka. Viele Einwohner sind auf die estnischen Seite gewechselt, weil sie dort mehr verdienten und ein besseres Sozialsystem vorfanden. An der Universität Tartu traf die Autorin eine Professorin, die in den 1990er Jahren Sozialministerin war. Sie war eine Kämpferin für die Unabhängigkeit und erzählte, wie sie 1989 mit 2 Millionen Menschen eine Kette bildete. „Dieser Augenblick war vielleicht der Höhepunkt meines Lebens.“ (Seite 509) Die Grenze zwischen Russland und Estland wurde von beiden Ländern nicht ratifiziert. In Städten wie Navra wohnen fast ausschließlich Russen. Sie brauchen keine estnische Sprache.
Finnland
Bei dieser Reise, so schreibt sie, hatte ich in Finnland erstmals das Gefühl nach Hause zu kommen. Mit 18 Jahren ging sie in Helsinki zur Schule, bevor sie für zwei Jahre ins Lyzeum nach Lyon übersiedelte. Finnland war für sie wie ein Heimkommen. Die Geschichte Finnlands erzählt sie in diesem Buch mit der Biografie des Freiherrn Mannerheim. Er diente im russischen Heer und baute die finnische Armee für den unabhängigen Staat auf. Finnland schwankte im Zweiten Weltkrieg zwischen Deutschland und Russland. Mit Neutralität versuchte das Land durchzukommen. Es wurde teilweise mit den Deutschen kooperiert und später einigte man sich mit den Sowjets und vertrieb die Deutschen, die zum Abschied Städte wie Rovaniemi dem Erdboden gleich machten. Bei Friedensverhandlungen verlor Finnland Teile seines Landes, wurde aber unabhängig. Mannerheim war in allen Veränderungen involviert und ist heute in Finnland eine häufig beschriebene Person. Eine 75jährige erzählt im Interview, dass ihre Familie 1939 ein Haus gebaut hatte. Nach 5 Jahren wurden sie evakuiert. Die Halbinsel, auf der das Haus stand, wurde ein sowjetischer Militärstützpunkt. Die 7.000 Einwohner mussten innerhalb von wenigen Tagen ihre Häuser verlassen. Finnland hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine halbe Million Vertriebener. 1955 gab Chruschtschow den Militärstützpunkt an Finnland zurück, so wie er die Krim den Ukrainern gab. Das Haus der Erzählerin existierte nicht mehr. Weiter im Norden veränderten sich die Grenzen mehrmals. Von 1920 bis 1944 grenzte Norwegen nur an Finnland und Schweden und nicht an Russland. 1944 musste Finnland wieder Teile abgeben. Die Menschen im Gebiet von Petsamo mussten umgesiedelt werden. Eine 83jährige Frau erzählt, wie dies damals war. Wie sie in Finnland lebte, ohne finnisch zu sprechen. Wie sie im Krieg nach Schweden kam und dort zur Schule ging und als sie zurück kam nur schwedisch sprach.
Norwegen
Als der Vater der Autorin hörte, dass seine Tochter zu Fuß und mit dem Kanu die Grenze zwischen Norwegen und Russland entlangfahren will, entschied er sich sie zu begleiten. Es war die einzige Wegstrecke, die sie nicht allein unternahm. Diese Grenze ist 196 Kilometer lang. Das sind aber nur acht Prozent der norwegischen Grenze. Die norwegische Stadt Kirkenes hat einen regen Austausch mit der russischen Stadt Nikel. Die Finnen „fahren mit Kind und Kegel nach Nikel auf der russischen Seite, um Wodka und Zigaretten zu kaufen und zu tanken. Und die Russen kamen in Scharen, um Sportausrüstung und Pulverkaffee zu kaufen … Außerdem kauften sie Windeln, die hier tatsächlich billiger sind als in Russland.“ (Seite 573) Kirkenes war im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt. Eine Neunundsiebzigjährige erzählt, wie sie 1944 erlebte, als sie von den Russen befreit wurden. Die abziehenden deutschen Truppen brannten noch alles nieder. Viele hatten keine Häuser mehr und wohnten in Stollen eines Bergwerks. Nach einem Jahr zogen sich die Russen wieder aus Norwegen zurück. Russland machte wenig später der norwegischen Regierung denselben Vorschlag wie Finnland, einen Nichtangriffspakt einzugehen. Norwegen entschied sich dagegen und trat der NATO bei.
Der Vater fuhr mit der Tochter im Kanu am Grenzfluss entlang nach Norden. Norwegische Soldaten zeigten ihnen die militärischen Einrichtungen. Einer der Offiziere erzählte, wie es 1968 fast zu einem Krieg kam, als an der Grenze Panzer und Militärkonvois auffuhren, die sich aber Gott sei Dank nach einigen Tagen wieder zurückzogen. Norwegen hatte mit Russland nie Krieg. „Norweger und Russen im Großen und Ganzen sind geprägt von gegenseitigem Respekt und Verständnis.“ (Seite 574)
Zusammenfassung
Die Autorin resümiert: Im Laufe des Jahres hatte sie 20.000 Kilometer entlang der russischen Grenze mit Hilfe von Inlandsflügen, Schnellzügen, Kleinbussen, Pferden, Taxis, Lastschiffen, Kajaks und zu Fuß zurückgelegt. Sie war durch 14 Länder und 3 abtrünnige Republiken gereist. „Keines der Länder, die ich besucht habe, war ohne Wunden oder Narben in Folge der Nachbarschaft zu Russland.“ (Seite 601) Sie wagt auch eine Prognose, wenn sie schreibt: „Das größte Land der Erde hat nur geringes Selbstvertrauen, wirtschaftlich geht es bergab, die Bevölkerung schrumpft. Der Bedarf nach Selbstbehauptung und Anerkennung ist umso größer. … Das russische Imperium wurde so groß, gerade weil die jeweiligen Herrscher jederzeit alle sich bietenden Möglichkeiten ergriffen, um die Grenzen zu erweitern, koste es, was es wolle. Nur selten vermieden sie dabei Brutalität, schmutzige Tricks oder auch einen weiteren Krieg.“ (Seite 602) „Langfristig ist es schwer zu beurteilen, ob Russland in einer Generation, in hundert oder zweihundert Jahren mit seinen nahezu zweihundert ethnischen Gruppen und Nationalitäten, mit seinen siebzehn Millionen Quadratkilometern und seinen sechzigtausend Kilometer langen Grenzen als ein zusammenhängendes Ganzes weiterhin existieren kann.“ (Seite 603)
Viele Grenzen wurden bei dieser Reise überschritten und daher möchte ich hier die Definition der Autorin von Grenze wiedergeben: „Eine Grenze zu überqueren, gehört zu den faszinierendsten Dingen, die es gibt. Geographisch gesehen ist der Schritt minimal, nahezu mikroskopisch. Man bewegt sich nur einige wenige Meter, doch man befindet sich plötzlich in einem anderen Universum. Manchmal ist absolut alles anders, vom Alphabet und der Währung bis hin zu Gesichtern, Farben, Geschmäckern, bedeutenden Jahreszahlen und den Namen, die die Menschen anerkennend nicken lassen.“ (Seite 223)
Meine Buchbesprechung ist etwas lang geworden, aber das Buch ist mit über 600 Seiten auch dick. Fast jedes der 14 hier beschriebenen russischen Nachbarländer würde ein eigenes Buch ergeben.
SIMON, Cordula
2022.
@book{SIMON2022,
title = {Die Wölfe von Pripyat},
author = {Cordula SIMON},
year = {2022},
date = {2022-03-07},
abstract = {SIMON, Cordula: „Die Wölfe von Pripyat“, Salzburg Wien 2022
Der im Titel des Buches verwendete Ort Pripyat war mir unbekannt. Erst durch das erste „Friedengespräch“ zwischen Russland und der Ukraine am 28. Februar 2022 erfuhr ich, dass es in der Ukraine nahe der Grenze zu Weißrussland liegt. Aber auch die Thematik erinnert in vielen Zügen an die „Eroberung“ durch die russischen Truppen.
Die Autorin handelt das Thema wie George Orwell mit seinem Buch „1984“ ab. Man könnte es als Release 2.0 der Orwell Geschichte sehen. Vieles ist in Ansätzen schon realisiert und wir leben damit. Vieles ist sicher noch im Kommen und so gesehen ist es kein Science-Fiction Roman, sondern realitätsbezogen. Simon schließt aber neben dem Einfluss der Computertechnologien auch die Umwelt und Veränderung der Gesellschaft mit ein. Aber nicht aus tagespolitischer Sicht, sondern weitblickender. Etwa, dass man beim Bau eines Kraftwerks, das Lava aus dem Kern der Erde zum Heizen verwendet, einen Vulkanausbruch erzeugte, der ungeahnte Folgen hatte. Das hier beschriebene Reich schickt die Aschewolken auf das Gebiet eines Nachbarstaats. Das große, bevorstehende Unheil sieht die Autorin aber in einem Sonnensturm, der das gesamte Informatiksystem vernichten wird. Darauf bereitet sich einer der Proponenten des Buches, ein Wetterjournalist, vor. Er wird verfolgt und kommt letztlich ums Leben. Das diktatorische Regime lässt keine Gegenmeinung aufkommen. Alles wird durch Algorithmen entschieden. Letztlich braucht es auch keinen Führer mehr. Das System verwaltet sich selbst. Menschen werden künstlich manipuliert. Vor der Geburt bestimmen die Eltern, welche Qualifikationen ihr Kind haben soll. Dem entsprechend werden sie eingestuft und bekommen eine Rankingnummer zugeordnet. Die Überqualifizierten werden aber zunehmend zum Problem.
Alle Menschen sind gechipt und so laufend im Netz bei all ihren Handlungen nachverfolgbar. Sandor Karol erinnert sich: „Ein kleiner Stent in der Hand. Jemand mit bunt gefärbter Haut und vielen Löchern in Nase und Ohren hatte ihn in seine Haut gestochen, zwischen Daumen und Zeigefinger. Das war sein Ausweis, das war ein bankaccount, seine Adresse, darin war alles verzeichnet, was er jemals virtuell getan oder gesagt hatte.“ (Seite 25) Das System hatte sogar Berechtigungen in den Hormonhaushalt und in sensorische Wahrnehmungen einzugreifen. „Alles war unter Kontrolle: die Träume, die Launen … und die Kontoeinstellungen.“ (Seite 37) Ähnlich wie Alexa von Amazon, bekam dieser Chip einen Namen und beantwortet alle Fragen des Besitzers. Politisch gab es aber nur ein Netz. „Alle Informationen von nur einem Anbieter zu bekommen, zu scrollen, war so, als bettelte man darum, von Propaganda gelenkt zu werden.“ (Seite 29) Selbst das Wahlrecht hatte man an den „Log“ abgegeben, weil sich die Jugendlichen nicht mehr für Politik interessierten. Auch eine Zeitmaschine war entwickelt und in einer Box in der Wohnung – ähnlich einer Saunakabine – konnte man die Zeit und deren Lauf dehnen. Selbst das Sterben soll wiederholbar sein. Also nicht ein verlängertes Leben, sondern ein mehrmaliges Wiederauferstehen. Körperteile können nachwachsen oder ausgetauscht werden, so wie Kata neue Augen bekam, um bei den Augenerkennungsgeräten als jemand anderer registriert zu werden. Es ging so weit, dass „der Log nicht fragte, ob er auf die Nervenenden des Mastdarms zugreifen konnte, um das passende Klopapier für einen zu bestellen.“ (Seite 248) Für alte Menschen, die unter normalen Umständen Dinge vergessen, gab es einen eigenen Speicher für die Vergangenheit, auf die das eigene Gehirn zugreifen konnte. Was nicht realisiert wurde, war ein Gen, dass alle Menschen zueinander nett waren. Deswegen kam es zu Kriegen, was wieder auf Pripyat und die Ukraine zurückführt. Eine Realität die heute existiert. Im Buch ist es ein Krieg der Wölfe, der Abtrünnigen.
Die Handlung des Buches verläuft innerhalb einer Gruppe, die sich in einem Sommerlager befindet. Sie sollen hier zu „besseren“, folgsameren Menschen umerzogen werden. Sie durchschauen das System: „Wer in einer Diktatur lebt, bemerkt das oft nicht. Sie reden hier von Menschlichkeit, aber sie wollen uns zu Maschinen machen.“ (Seite 174) Die Gruppe bricht aus dem Lager aus. Sie suchen die „goldene Stadt“, wo es mehr Freiheit gibt. Eine abenteuerliche Reise stand bevor. Einer schneidet sich den Chip heraus, taucht in den Untergrund. Er lebt als Einsiedler und schneidet alle Sendemasten um, um auch virtuell isoliert zu sein. Aber man findet ihn. Die Mehrheit will ihn zum Führer machen. Er zeichnet eine Werberede auf: „Ich bin kein großes Licht, doch will ich in dieser Welt auch nicht im Dunkeln tappen. Vor den Toren unserer Wohnhäuser stehen Bewaffnete. Sie sollen den Frieden sichern, doch sind sie da, um uns einzuschüchtern. Unsere Gesetze garantieren uns Freiheit, doch wir wissen nicht mehr, was Freiheit bedeutet, da jene, die vorgeben, für Freiheit zu kämpfen, Einschränkungen wollen. Den Frieden zu sichern bedeutet, in Waffen zu stehen. … Wir haben die Freiheit unserer Gedanken aufgegeben. … Die Algorithmen kennen unsere Köpfe besser als wir selbst.“ (Seite 321) Als er sich schon als Sieger der Wahl sieht wird er verhaftet. Die Diktatur des Algorithmus erlaubt diesen Umbruch nicht. Alle Abtrünnigen werden gefunden, gestellt und verurteilt.
Orwell hat sein Werk 40 Jahre vor dem Titel des Buches 1948 geschrieben. Wird die Welt der Wölfe von Pripyat 2062 so aussehen? Ich denke, wir sind schon nahe dran.
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Der im Titel des Buches verwendete Ort Pripyat war mir unbekannt. Erst durch das erste „Friedengespräch“ zwischen Russland und der Ukraine am 28. Februar 2022 erfuhr ich, dass es in der Ukraine nahe der Grenze zu Weißrussland liegt. Aber auch die Thematik erinnert in vielen Zügen an die „Eroberung“ durch die russischen Truppen.
Die Autorin handelt das Thema wie George Orwell mit seinem Buch „1984“ ab. Man könnte es als Release 2.0 der Orwell Geschichte sehen. Vieles ist in Ansätzen schon realisiert und wir leben damit. Vieles ist sicher noch im Kommen und so gesehen ist es kein Science-Fiction Roman, sondern realitätsbezogen. Simon schließt aber neben dem Einfluss der Computertechnologien auch die Umwelt und Veränderung der Gesellschaft mit ein. Aber nicht aus tagespolitischer Sicht, sondern weitblickender. Etwa, dass man beim Bau eines Kraftwerks, das Lava aus dem Kern der Erde zum Heizen verwendet, einen Vulkanausbruch erzeugte, der ungeahnte Folgen hatte. Das hier beschriebene Reich schickt die Aschewolken auf das Gebiet eines Nachbarstaats. Das große, bevorstehende Unheil sieht die Autorin aber in einem Sonnensturm, der das gesamte Informatiksystem vernichten wird. Darauf bereitet sich einer der Proponenten des Buches, ein Wetterjournalist, vor. Er wird verfolgt und kommt letztlich ums Leben. Das diktatorische Regime lässt keine Gegenmeinung aufkommen. Alles wird durch Algorithmen entschieden. Letztlich braucht es auch keinen Führer mehr. Das System verwaltet sich selbst. Menschen werden künstlich manipuliert. Vor der Geburt bestimmen die Eltern, welche Qualifikationen ihr Kind haben soll. Dem entsprechend werden sie eingestuft und bekommen eine Rankingnummer zugeordnet. Die Überqualifizierten werden aber zunehmend zum Problem.
Alle Menschen sind gechipt und so laufend im Netz bei all ihren Handlungen nachverfolgbar. Sandor Karol erinnert sich: „Ein kleiner Stent in der Hand. Jemand mit bunt gefärbter Haut und vielen Löchern in Nase und Ohren hatte ihn in seine Haut gestochen, zwischen Daumen und Zeigefinger. Das war sein Ausweis, das war ein bankaccount, seine Adresse, darin war alles verzeichnet, was er jemals virtuell getan oder gesagt hatte.“ (Seite 25) Das System hatte sogar Berechtigungen in den Hormonhaushalt und in sensorische Wahrnehmungen einzugreifen. „Alles war unter Kontrolle: die Träume, die Launen … und die Kontoeinstellungen.“ (Seite 37) Ähnlich wie Alexa von Amazon, bekam dieser Chip einen Namen und beantwortet alle Fragen des Besitzers. Politisch gab es aber nur ein Netz. „Alle Informationen von nur einem Anbieter zu bekommen, zu scrollen, war so, als bettelte man darum, von Propaganda gelenkt zu werden.“ (Seite 29) Selbst das Wahlrecht hatte man an den „Log“ abgegeben, weil sich die Jugendlichen nicht mehr für Politik interessierten. Auch eine Zeitmaschine war entwickelt und in einer Box in der Wohnung – ähnlich einer Saunakabine – konnte man die Zeit und deren Lauf dehnen. Selbst das Sterben soll wiederholbar sein. Also nicht ein verlängertes Leben, sondern ein mehrmaliges Wiederauferstehen. Körperteile können nachwachsen oder ausgetauscht werden, so wie Kata neue Augen bekam, um bei den Augenerkennungsgeräten als jemand anderer registriert zu werden. Es ging so weit, dass „der Log nicht fragte, ob er auf die Nervenenden des Mastdarms zugreifen konnte, um das passende Klopapier für einen zu bestellen.“ (Seite 248) Für alte Menschen, die unter normalen Umständen Dinge vergessen, gab es einen eigenen Speicher für die Vergangenheit, auf die das eigene Gehirn zugreifen konnte. Was nicht realisiert wurde, war ein Gen, dass alle Menschen zueinander nett waren. Deswegen kam es zu Kriegen, was wieder auf Pripyat und die Ukraine zurückführt. Eine Realität die heute existiert. Im Buch ist es ein Krieg der Wölfe, der Abtrünnigen.
Die Handlung des Buches verläuft innerhalb einer Gruppe, die sich in einem Sommerlager befindet. Sie sollen hier zu „besseren“, folgsameren Menschen umerzogen werden. Sie durchschauen das System: „Wer in einer Diktatur lebt, bemerkt das oft nicht. Sie reden hier von Menschlichkeit, aber sie wollen uns zu Maschinen machen.“ (Seite 174) Die Gruppe bricht aus dem Lager aus. Sie suchen die „goldene Stadt“, wo es mehr Freiheit gibt. Eine abenteuerliche Reise stand bevor. Einer schneidet sich den Chip heraus, taucht in den Untergrund. Er lebt als Einsiedler und schneidet alle Sendemasten um, um auch virtuell isoliert zu sein. Aber man findet ihn. Die Mehrheit will ihn zum Führer machen. Er zeichnet eine Werberede auf: „Ich bin kein großes Licht, doch will ich in dieser Welt auch nicht im Dunkeln tappen. Vor den Toren unserer Wohnhäuser stehen Bewaffnete. Sie sollen den Frieden sichern, doch sind sie da, um uns einzuschüchtern. Unsere Gesetze garantieren uns Freiheit, doch wir wissen nicht mehr, was Freiheit bedeutet, da jene, die vorgeben, für Freiheit zu kämpfen, Einschränkungen wollen. Den Frieden zu sichern bedeutet, in Waffen zu stehen. … Wir haben die Freiheit unserer Gedanken aufgegeben. … Die Algorithmen kennen unsere Köpfe besser als wir selbst.“ (Seite 321) Als er sich schon als Sieger der Wahl sieht wird er verhaftet. Die Diktatur des Algorithmus erlaubt diesen Umbruch nicht. Alle Abtrünnigen werden gefunden, gestellt und verurteilt.
Orwell hat sein Werk 40 Jahre vor dem Titel des Buches 1948 geschrieben. Wird die Welt der Wölfe von Pripyat 2062 so aussehen? Ich denke, wir sind schon nahe dran.
BECKER, Zdenka
Es ist schon fast halb zwölf Buch
2022.
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author = {Zdenka BECKER},
year = {2022},
date = {2022-02-19},
abstract = {BECKER, Zdenka: „Es ist schon fast halb zwölf“, Wien 2022
Der siebente Roman von Zdenka Becker. Ich verfolge ihre literarische Arbeit von Anbeginn und bin immer wieder erstaunt wie uns eine Nicht-Muttersprachliche vorführt, wie sie sich großartig in deutscher Sprache ausdrückt. Ich begegne ihr daher mit mehr Respekt als anderen Schriftstellerinnen. So habe ich auch auf diesen neuen Roman schon gewartet. Sie hatte mir schon vor Längerem erzählt, dass sie daran arbeitet. Durch die derzeitige Corona Pandemie verzögert sich aber vieles und auch Lesungen werden nicht so bald möglich sein. Aber das Lesen kann uns auch dieser Virus nicht nehmen. „Es ist schon fast halb zwölf“ ist wieder eine Familiengeschichte. Sie handelt in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die Erzählung stammt aus der Jetztzeit. Ein altes Ehepaar – Karl und Hilde – genießen ihren Lebensabend. Sie sind schon gebrechlich und der Mann dement. Geduldig muss sich die Ehefrau mit ihrem Mann abgeben, der sie oft nicht mehr erkennt. Ihre Kinder würden sie gerne in einem Altersheim sehen. Hilde will aber ihren Lebensabend im eigenen Haus verbringen. Ein junger Zivildiener hilft dabei. Hilde denkt nach, was aus all ihren Sachen einmal werden wird. Wahrscheinlich werden die Kinder alles wegwerfen denkt sie. Da kommt ihr eine Kiste mit Briefen und Fotos in den Sinn, die am Dachboden steht und lässt sich diese vom Zivildiener bringen. Sie liest in alten Briefen und Erinnerungen werden wach. Erinnerungen an den Beginn ihrer Liebschaft und Ehe. Der Mann hat die Vergangenheit vergessen und sie frischt sie mit Hilfe der Briefe auf.
Zdenka Becker komponiert aus über 500 Briefen, die sie am Dachboden ihres Hauses gefunden hatte, und einer von ihr dazu erfundenen Geschichte einen Roman. Sie beschreibt das Leben eines jungen Paares, das während des Zweiten Weltkriegs gelebt hat. Damit liefert sie ein zeitgeschichtliches Dokument aus der Zeit der Kriegswirren.
Die Hauptperson des Romans ist Hilde, weil ihr dementer Mann ja nicht mehr viel zu sagen hat. Als sie über den Briefen sitzt, merkt sie, dass sie es mit zwei Frauen zu tun hat: mit der jungen, die sie einmal war und der alten. Zwei Frauen, „die so unterschiedlich , so anders sind. Die junge, ängstliche und sich ständig anpassende Frau mit jungen, drallen Formen und verunsichertem Blick und die alte, von der Mühsal der Jahre gebückt, faltige Greisin, die, wäre da nicht die bewegte Vergangenheit, die auf ihren Schultern lastet, in sich ruhen und ihren Lebensabend genießen könnte.“ (Seite 83)
Die Briefe sind das Skelett dieses Romans. Da sie aus einer wirklich stattgefundenen Korrespondenz stammen, sind sie Zeitzeugnisse. Posthum sollte daher das Briefe schreibende Ehepaar einen Literatur- oder Wissenschaftspreis bekommen. Auch trifft die Formulierung „Das Leben schreibt Geschichten, wie man sie nicht erfinden kann“ zu. Zdenka Becker fügt alles so zusammen, dass alle nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen hautnah erleben können, wie es den Menschen damals ergangen ist.
Der in Österreich (Ostmark) arbeitslose Karl findet 1938 einen Job in einem Flugzeugmotorenwerk in Berlin. Er heiratet seine Hilde. Zuerst leben sie noch getrennt, aber Hilde zieht zu ihrem Mann nach Berlin. Dort leidet sie unter Heimweh. „Ich glaube, damals in Berlin habe ich begriffen, was ein Zuhause ausmacht. Das ist der Ort, an dem man mit der Erde verwurzelt ist, wo sich die Familie regelmäßig am Esstisch trifft, wo Geschichten erzählt werden und wo Umarmungen aus Zuneigung und Liebe erwachsen.“ (Seite 125) „Für die Berliner war ich eine aus der Ostmark, ein Landei, ein Dummerl, das nichts kennt und nichts weiß. Diese Zerrissenheit tat mir nicht gut, aber sosehr ich mich auch bemühte, eine von ihnen zu sein, war ich doch die ganze Zeit eine Außenseiterin.“ Sie siedelt wieder zurück nach Niederösterreich. Aber auch da fühlt sie sich fremd. Die Einheimischen glauben, sie komme aus der großen Stadt Berlin und begegnen ihr reserviert. In größeren Abständen besucht sie ihren Mann. Mit zunehmenden Kriegsgeschehnissen werden die Besuche weniger. Auch der ursprünglich überzeugte Nationalsozialist Karl merkt, dass die Vorgänge des Kriegs nicht in Ordnung sind. Um die Fabrik vor dem Bombardement der Alliierten zu schützen, wird sein Arbeitsplatz in ein ehemaliges Gipsbergwerk verlegt. Die Arbeit wird härter und ungesunder. Im Stollen ist es feucht und kalt. Die Arbeiter werden öfter krank. Briefe verbinden das Ehepaar, das inzwischen eine kleine Tochter hat. Er muss sich eingestehen, dass aus seinem Idol Hitler nicht das geworden war, was er sich erhoffte. „von den Berlinern, die frisch hier angekommen sind, hört man allerhand. Es sollen grausame Bilder zu sehen sein. Erfrorene Kinder, die die Flucht nicht überlebt haben, abgemagerte Erwachsene, amputierte Invaliden, Verwirrte. Überall Dreck und Gestank. Viele Züge sind auch für den allgemeinen Verkehr gesperrt und nur den Evakuierten und Flüchtlingen zugewiesen. Die Schnellzüge verkehren fast nicht mehr. Für die Strecke Wien-Berlin würde man mindestens drei bis vier Tage brauchen.“ (Seite 224) Aber auch die vielen Details, die sich das Ehepaar in ihren Briefen schreibt, zeigen dem heutigen Leser die damalige Lebenssituation. Nach Kriegsende kamen keine Briefe mehr. Hilde weiß nicht, was aus ihrem Karl geworden ist, bis er schließlich nach einem halben Jahr nach Hause kommt. Geistig ist er aber noch nicht zu Hause. In der Nacht wacht er auf. Erinnerungen an die Kriegszeit kommen hoch. Erlebnisse mit Sträflingen aus dem Konzentrationslager, die in seiner Fabrik arbeiten mussten. Als sein Sohn geboren wird, verschließt sich Karl und erzählt nichts mehr aus der Kriegszeit. Aber auch Hilde hat ein Geheimnis aus dieser Zeit. Ein Mitbewohner des Dorfs, der sich als Laienhistoriker betätigt und dessen Nichte mit ihrem Freund bringen sie zu einem Geständnis.
Parallel zum Leben während der Kriegsjahre beschreibt die Autorin auch, wie es alten Menschen geht. Menschen, die nicht loslassen können und nicht akzeptieren wollen, dass sie noch allein leben können. Beides fließt in den 256 Seiten des Romans zusammen.
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Der siebente Roman von Zdenka Becker. Ich verfolge ihre literarische Arbeit von Anbeginn und bin immer wieder erstaunt wie uns eine Nicht-Muttersprachliche vorführt, wie sie sich großartig in deutscher Sprache ausdrückt. Ich begegne ihr daher mit mehr Respekt als anderen Schriftstellerinnen. So habe ich auch auf diesen neuen Roman schon gewartet. Sie hatte mir schon vor Längerem erzählt, dass sie daran arbeitet. Durch die derzeitige Corona Pandemie verzögert sich aber vieles und auch Lesungen werden nicht so bald möglich sein. Aber das Lesen kann uns auch dieser Virus nicht nehmen. „Es ist schon fast halb zwölf“ ist wieder eine Familiengeschichte. Sie handelt in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die Erzählung stammt aus der Jetztzeit. Ein altes Ehepaar – Karl und Hilde – genießen ihren Lebensabend. Sie sind schon gebrechlich und der Mann dement. Geduldig muss sich die Ehefrau mit ihrem Mann abgeben, der sie oft nicht mehr erkennt. Ihre Kinder würden sie gerne in einem Altersheim sehen. Hilde will aber ihren Lebensabend im eigenen Haus verbringen. Ein junger Zivildiener hilft dabei. Hilde denkt nach, was aus all ihren Sachen einmal werden wird. Wahrscheinlich werden die Kinder alles wegwerfen denkt sie. Da kommt ihr eine Kiste mit Briefen und Fotos in den Sinn, die am Dachboden steht und lässt sich diese vom Zivildiener bringen. Sie liest in alten Briefen und Erinnerungen werden wach. Erinnerungen an den Beginn ihrer Liebschaft und Ehe. Der Mann hat die Vergangenheit vergessen und sie frischt sie mit Hilfe der Briefe auf.
Zdenka Becker komponiert aus über 500 Briefen, die sie am Dachboden ihres Hauses gefunden hatte, und einer von ihr dazu erfundenen Geschichte einen Roman. Sie beschreibt das Leben eines jungen Paares, das während des Zweiten Weltkriegs gelebt hat. Damit liefert sie ein zeitgeschichtliches Dokument aus der Zeit der Kriegswirren.
Die Hauptperson des Romans ist Hilde, weil ihr dementer Mann ja nicht mehr viel zu sagen hat. Als sie über den Briefen sitzt, merkt sie, dass sie es mit zwei Frauen zu tun hat: mit der jungen, die sie einmal war und der alten. Zwei Frauen, „die so unterschiedlich , so anders sind. Die junge, ängstliche und sich ständig anpassende Frau mit jungen, drallen Formen und verunsichertem Blick und die alte, von der Mühsal der Jahre gebückt, faltige Greisin, die, wäre da nicht die bewegte Vergangenheit, die auf ihren Schultern lastet, in sich ruhen und ihren Lebensabend genießen könnte.“ (Seite 83)
Die Briefe sind das Skelett dieses Romans. Da sie aus einer wirklich stattgefundenen Korrespondenz stammen, sind sie Zeitzeugnisse. Posthum sollte daher das Briefe schreibende Ehepaar einen Literatur- oder Wissenschaftspreis bekommen. Auch trifft die Formulierung „Das Leben schreibt Geschichten, wie man sie nicht erfinden kann“ zu. Zdenka Becker fügt alles so zusammen, dass alle nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen hautnah erleben können, wie es den Menschen damals ergangen ist.
Der in Österreich (Ostmark) arbeitslose Karl findet 1938 einen Job in einem Flugzeugmotorenwerk in Berlin. Er heiratet seine Hilde. Zuerst leben sie noch getrennt, aber Hilde zieht zu ihrem Mann nach Berlin. Dort leidet sie unter Heimweh. „Ich glaube, damals in Berlin habe ich begriffen, was ein Zuhause ausmacht. Das ist der Ort, an dem man mit der Erde verwurzelt ist, wo sich die Familie regelmäßig am Esstisch trifft, wo Geschichten erzählt werden und wo Umarmungen aus Zuneigung und Liebe erwachsen.“ (Seite 125) „Für die Berliner war ich eine aus der Ostmark, ein Landei, ein Dummerl, das nichts kennt und nichts weiß. Diese Zerrissenheit tat mir nicht gut, aber sosehr ich mich auch bemühte, eine von ihnen zu sein, war ich doch die ganze Zeit eine Außenseiterin.“ Sie siedelt wieder zurück nach Niederösterreich. Aber auch da fühlt sie sich fremd. Die Einheimischen glauben, sie komme aus der großen Stadt Berlin und begegnen ihr reserviert. In größeren Abständen besucht sie ihren Mann. Mit zunehmenden Kriegsgeschehnissen werden die Besuche weniger. Auch der ursprünglich überzeugte Nationalsozialist Karl merkt, dass die Vorgänge des Kriegs nicht in Ordnung sind. Um die Fabrik vor dem Bombardement der Alliierten zu schützen, wird sein Arbeitsplatz in ein ehemaliges Gipsbergwerk verlegt. Die Arbeit wird härter und ungesunder. Im Stollen ist es feucht und kalt. Die Arbeiter werden öfter krank. Briefe verbinden das Ehepaar, das inzwischen eine kleine Tochter hat. Er muss sich eingestehen, dass aus seinem Idol Hitler nicht das geworden war, was er sich erhoffte. „von den Berlinern, die frisch hier angekommen sind, hört man allerhand. Es sollen grausame Bilder zu sehen sein. Erfrorene Kinder, die die Flucht nicht überlebt haben, abgemagerte Erwachsene, amputierte Invaliden, Verwirrte. Überall Dreck und Gestank. Viele Züge sind auch für den allgemeinen Verkehr gesperrt und nur den Evakuierten und Flüchtlingen zugewiesen. Die Schnellzüge verkehren fast nicht mehr. Für die Strecke Wien-Berlin würde man mindestens drei bis vier Tage brauchen.“ (Seite 224) Aber auch die vielen Details, die sich das Ehepaar in ihren Briefen schreibt, zeigen dem heutigen Leser die damalige Lebenssituation. Nach Kriegsende kamen keine Briefe mehr. Hilde weiß nicht, was aus ihrem Karl geworden ist, bis er schließlich nach einem halben Jahr nach Hause kommt. Geistig ist er aber noch nicht zu Hause. In der Nacht wacht er auf. Erinnerungen an die Kriegszeit kommen hoch. Erlebnisse mit Sträflingen aus dem Konzentrationslager, die in seiner Fabrik arbeiten mussten. Als sein Sohn geboren wird, verschließt sich Karl und erzählt nichts mehr aus der Kriegszeit. Aber auch Hilde hat ein Geheimnis aus dieser Zeit. Ein Mitbewohner des Dorfs, der sich als Laienhistoriker betätigt und dessen Nichte mit ihrem Freund bringen sie zu einem Geständnis.
Parallel zum Leben während der Kriegsjahre beschreibt die Autorin auch, wie es alten Menschen geht. Menschen, die nicht loslassen können und nicht akzeptieren wollen, dass sie noch allein leben können. Beides fließt in den 256 Seiten des Romans zusammen.
Fatland, Erika
SOWJETISTAN – Eine Reise durch Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan Buch
2022.
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abstract = {FATLAND, Erika: „SOWJETISTAN – Eine Reise durch Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan“, Berlin 2020
VORAB: Diese Rezension ist im Vergleich zu meinen bisherigen Buchbesprechungen sehr lang geworden. Das hat zwei Gründe:
Erstens sind es eigentlich fünf Bücher in einem Buch. Fünf postsowjetische Staaten sind beschrieben und jedes enthält so viel Informationen wie ein ganzes Buch. Ich habe daher jedem Land eine ausführliche Beschreibung gewidmet.
Zweitens habe ich einen starken persönlichen Bezug zu diesen Ländern. Unmittelbar nach der politischen Wende und der Abwendung von der Sowjetunion habe ich in all diesen Ländern eine Firma gegründet. Es war spannend zu lesen, was sich in diesen vergangenen Jahrzehnten verändert hat.
Sie als Leser können aber beruhigt sein: ich zeige nur die Vielfalt des Buchinhalts auf. Vieles ist unbesprochen geblieben und wirklich lesenswert.
Die Norwegerin Erika Fatland ist nicht nur eine ausgezeichnete Reiseberichterstatterin, sie erzählt in diesem Buch auch die jüngste Geschichte dieser ehemaligen Sowjetrepubliken. Der durchschnittliche Bürger des Westens weiß eigentlich Nichts über die Situation in diesen Ländern. Fatland liefert ein Geschichtsbuch der letzten Jahrzehnte. „Sowjetistan“ besteht aus fünf großen Kapiteln, die jedes eines der Länder beschreibt. Jedes Kapitel könnte ein eigenes Buch sein, weshalb ich auch jeden Abschnitt, jedes Land hier beschreiben möchte.
Turkmenistan
Ihre Reise begann sie in Turkmenistan. Die Einreise war sehr bürokratisch. Das Land hat die härtesten Einreisebestimmungen der Welt. Nur Länder wie Venezuela, die Türkei , Kuba oder die Mongolei brauchen kein Visum. Drei Wochen fuhr sie durchs Land. Meist wurde sie von Mitarbeitern staatlicher Reisebüros begleitet. Es ist ein Bericht über ein Land mit einem Diktator, der alles bestimmt. Ein Land, das eigentlich wegen seiner Öl- und Gasvorkommen reich sein müsste. In der Hauptstadt Aschgabat sind die Häuser des Zentrums fast ausschließlich mit weißem Marmor verkleidet. Damit soll Reichtum demonstriert werden. Davon spüren aber die meisten Einwohner nichts. Lediglich Brot, ist kostenlos. Dafür sind sie ihrem Herrscher dankbar. Wann immer sie den Präsidenten ansprechen, fügen sie den Satz „unser guter Präsident“ hinzu. Übrigens, auch Benzin ist (fast) kostenlos. Der erste Präsident – Turkmenbaschi - war in der UdSSR Parteisekretär dieser Sowjetrepublik. Er ließ eine Volksabstimmung für die Unabhängigkeit des Landes durchführen und setzte sich selbst als dessen Führer und obersten Chef ein. Er schrieb die Geschichte des Landes neu. Die meisten Bücher wurden verboten, aber „sein“ Buch mussten alle Schüler lesen, ja sogar bei der Führerscheinprüfung wurde dessen Inhalt abgeprüft. Er ordnete unverständliche Dinge an: in der Hauptstadt durfte es keine Hunde geben, Oper und Zirkus wurde verboten. Alle Bibliotheken am Land wurden geschlossen. Als der Herrscher 2006 starb, wurde sein Stellvertreter Berdimuhamedow zum Nachfolger und hob viele dieser Verordnungen wieder auf, um seine eigenen Ideen durchzusetzen. Ließ Turkmenbaschi im ganzen Land vergoldete Statuen von sich aufstellen, so stellte der neue Präsident sein Konterfei in weißem Marmor gegenüber. Am Land erlebte Fatland die Armut der Bevölkerung, aber auch die Freundlichkeit: „Gleichzeitig wurde ich hier, bei diesen armen Menschen, die nicht mehr besitzen als ein paar Kochtöpfe, ein Paar Kamele und eine Herde Ziegen, am herzlichsten empfangen.“ (Seite 71)
Als sie nach drei Wochen das Land in Richtung Kasachstan mit ihren Eindrücken verließ nannte sie es „Absurtistan“.
Kasachstan
Kasachstan ist das größte Land der „Sowjetistan-Staaten“. Von der turkmenischen Grenzstadt weg fuhr die Autorin mit dem Zug nach Aral und Almaty. Bei Zugreisen kam sie mit einfachen Leuten ins Gespräch. Interessante Informationen auch für den Leser. Daneben wird auch das jeweilige Land allgemein vorgestellt. Etwa, dass Kasachstan mit 2,9 Millionen Quadratkilometern Größe das neuntgrößte Land der Welt und größer als Westeuropa ist. Es hat keinen Meerzugang und besteht zu drei Viertel aus Wüste; also unfruchtbar. Bei 17 Millionen Einwohnern leben nur sechs Menschen auf einem Quadratkilometer. Auch die jüngere Geschichte wird ausgeleuchtet. Bei einer Hungersnot in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts starben 25 Prozent der ethnischen Bevölkerung. Positiv ist, dass der Aralsee, der in den 1960er Jahren zu verschwinden drohte, weil die Baumwollpflanzungen so viel Wasser brauchten sich wieder zu füllen beginnt. Der Hafen in Aral liegt aber noch im Trockenen.
Nach Aral und Almaty besucht Frau Fatland die Hauptstadt Astana (Astana heißt übersetzt „Hauptstadt“). Sie wurde von ihrem Präsidenten Nasarbajew als Prestigeprojekt von Almaty verlegt. Internationale Architekten konnten sich hier verwirklichen. Bis 2030 werden noch jedes Jahr acht Prozent des Staatsbudgets für die Hauptstadt ausgegeben.
Mit einem kleinen Flugzeug kommt die Autorin nach Semipalatinsk, wo die Sowjetunion in der weiten Steppe ihre atomaren Probeexplosionen durchgeführt hat. Heute leben nur mehr wenige Menschen hier und ein Großteil von ihnen ist von den Atomversuchen erkrankt oder gestorben. Kinder kommen mit sechs Fingern zur Welt und viele leiden an verschiedenen Krebskrankheiten. Es wird erzählt, wie sich der Entwickler der Wasserstoffbombe Sacharow zum Friedenstifter und Staatsfeind entwickelte und wie nach Zerfall der UdSSR die vielen atomaren Anlagen durch Hilfe der Amerikaner entsorgt wurden. Hier gab es eines der größten Gefangenenlager. Einer der Sträflinge war der Schriftsteller Dostojewski und das Buch erzählt von seiner Liebesaffäre.
Kasachstan ist auch die Geburtsstätte des Apfels. Es wird erzählt, wie er von einem Forscher aus Sankt Petersburg gefunden wurde, aber auch, wie sich die Autorin einen Apfel am Gemüsemarkt kauft und genießt.
In vielen Interviews wurden Menschengeschichten eingefangen. So etwa die eines Aktivisten oder einer Schamanin oder Hexe. Man kann zusammenfassend sagen: „Kasachstan in Zahlen, Fakten, persönlichen Eindrücken und durch Menschenbilder.“
Tadschikistan
Tadschikistan ist das ärmste Land unter den ehemaligen Sowjetstaaten. Die meisten Einwohner verdienen weniger als 80 Dollar im Monat und ein Drittel ist unterernährt. Es gibt keine Öl- oder Gasvorkommen, wie in den Nachbarstaaten. Neunzig Prozent des Landes besteht aus Bergen und nur sieben Prozent sind landwirtschaftlich genutzt. Im Gebirge kann es im Winter über 50 Grad minus bekommen. Tadschikistan ist dem Persischen sehr ähnlich. Obwohl Tadschikisch in kyrillischen Buchstaben geschrieben wird und Persisch in arabischen, haben sie vieles gemeinsam. Bevor das Land eine sowjetische Republik wurde, hatte die heutige Hauptstadt Duschambe nur 3.000 Einwohner. Heute wohnen hier 700.000 Menschen. Trotz Armut will die Hauptstadt, wie ihre Nachbarn, protzen. Ein pompöser Präsidentenpalast und lange Zeit der höchste Fahnenmast sind nur zwei dieser Faktoren. Präsident Rahmons studierte, wie sein Kollege Nasarbajew aus Kasachstan, Wirtschaftswissenschaften. Aus einfachen Verhältnissen kommend machte er Karriere und wurde oberster Repräsentant der Sowjetrepublik und späterer Präsident.
Die Autorin besuchte wieder entlegene Gebiete, in den noch die letzten Ureinwohner, die Jaghnoben wohnen. Als die UdSSR Baumwollplantagen aufzogen, wurden die Bergbewohner in die Ebenen deportiert, um dort zu arbeiten. Die Gegend war ohne Straßenverbindung völlig isoliert. Die Deportierten wurden mit Hubschraubern ausgeflogen. Viele kamen immer wieder zurück, aber viele blieben im klimatisch besseren Gebiet, vermischten sich mit einheimischen Tadschiken. Verschiedene Menschenschicksale kann man im Buch nachlesen. Bei Beerdigungen und Hochzeiten hatte Fatland Kontakt mit der Bevölkerung und schrieb das Erzählte nieder. Ein Mann sagte zu ihr „Hier im Tal leben wir wie im 19. Jahrhundert. Es ist ein hartes Leben, aber wir sind glücklich.“ (Seite 273) Um überleben zu können gehen viele Männer ins Ausland zum Geldverdienen. Die meisten nach Russland. Ihre Frauen bleiben bei den Kindern im Dorf. Einmal im Jahr kommen die Männer heim, schwängern die Frau und oft heiraten sie dann in der Fremde eine andere Frau. Aber sie schicken Geld nach Hause. Die Hälfte des Bruttonationalprodukts besteht aus diesen Überweisungen. In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wüteten Bürgerkriege und viele flüchteten. Die Gesellschaft ist von Klans dominiert. Diese Zusammengehörigkeit ließ nach dem Krieg viele wieder zurückkommen.
Erika Fatland ist eine Abenteuerin. Nur so ist es möglich, so ein Buch zu schreiben. Wenn sie etwa mit einem Hubschrauber in das Pamirgebirge fliegt. Die Passagiere sitzen auf Bänken. Der Kapitän allein im Cockpit. Der Copilot hatte dort keinen Platz mehr und musste bei den Passagieren sitzen. Die Tür zum Cockpit stand offen, damit die beiden miteinander kommunizieren konnten. Auf der drei- bis fünftausend Meter hohen Pamir Ebene zeigt sich die Wichtigkeit von Grenzen. Lange wurde hier gekämpft. Die beiden Großmächte Russland und das britische Empire standen sich gegenüber und eroberten diese zentralasiatischen Gebiete für sich. Man einigte sich auf Grenzen, die aber immer wieder vom Gegner überschritten wurden. Grenzen wurden auch willkürlich gezogen und sind heute noch ein Problem. Bis in die Jetztzeit wird um Gebiete um Afghanistan gekämpft. Obwohl Tadschikistan ein selbstständiger Staat war, waren russische Soldaten bis 2005 noch in Tadschikistan stationiert, um die Grenzen unter Beobachtung zu haben.
Kirgisistan
„Kirgisistan ist das freieste und demokratischste Land Zentralasiens, die Presse ist die freieste in der Region und auch mit Blick auf die wirtschaftlichen Freiheiten landet das arme kleine Bergland unter den hundert fortschrittlichsten Ländern der Welt.“ (Seite 337) Bischkek ist die Hauptstadt und nach dem Bericht in diesem Buch die „grünste“ Stadt Zentralasiens. Es ist das einzige Land der Sowjetistan-Länder, die keinen neuen und protzigen Präsidentenpalast besitzen. Der Präsident residiert im Weißen Haus, das noch aus der Sowjetunions-Zeit stammt. Präsidenten haben sich nicht lange gehalten. Demokratische Bestrebungen haben sie bei Fehlverhalten vertrieben und durch neu gewählte ersetzt. Die alten fanden Asyl in Weißrussland oder Russland. Es ist das ärmste Land der Region. In der Zeit der UdSSR gab Moskau finanzielle Unterstützung. Drei Viertel des Staatshaushalts kam von dort. Heute lebt ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Damit nicht alles zum Stillstand kommt arbeiten vor allem junge Männer im Ausland und schicken Geld nach Hause. Die meisten von ihnen finden in Russland einen Job; allerdings zu sehr schlechten Bedingungen. Sie wohnen zu Dutzenden in einem gemieteten Zimmer. Durch die Armut im Land und unter den Fremdarbeitern ist wieder Tuberkulose ausgebrochen, die zu bekämpfen schwierig ist. Man schätzt, dass zehn Prozent von dieser Krankheit betroffen sind. So wie arbeitsfähige Männer ins Ausland abwandern, verlassen auch viele Ärzte das Land. Sie verdienen im Ausland mehr und zu Hause bricht das Gesundheitswesen zusammen.
Soweit zu den Fakten. Fatland schreibt auch über persönliche Erfahrungen. So etwa sprach sie mit Frauen, die entführt und Zwangsverheiratet wurden. Brautraub ist immer noch üblich. Auch eine russische Frau, mit der die Autorin sprach, blieb davon nicht verschont. Nach einer Studie sind etwa ein Drittel aller geschlossenen Ehen nicht freiwillig, sondern durch Brautraub entstanden. Am Land sind es oft mehr als 50 Prozent. Sie machte auch Bekanntschaft mit Adlermännern, die die Kunst des Jagens mit einem Greifvogel aufrechterhalten. „Unsere Vorfahren hatten keine Waffen und nützten die Vögel zur Jagd“ (Seite 364) Kirgisen waren Nomaden. Unter Stalin wurden sie „umerzogen“, um sesshaft zu werden. Heute sind nur mehr zehn Prozent der Einwohner Nomaden. Stalin war es, der viele Menschen während des Zweiten Weltkriegs nach Zentralasien übersiedelte. So kamen 230.000 Krim-Tataren, 17.000 Koreaner aus Wladiwostok, 19.000 Aserbaidschaner aus dem Kaukasus und 8.500 Deutsche aus dem Wolga-Gebiet. Letztlich lebte eine Million Deutscher in der Region. 1989 wurde ihre Auswanderung zugelassen und die Zahl verkleinerte sich. Erika Fatland reiste – trotz Warnung – in so ein Dorf, das sich „Rot-Front“ nennt. Zwar konnte sie mit einem deutschen Mann reden, als sie dann einen Gottesdienst besuchte und der Gemeindevorstand gegen ausländische Journalisten predigte musste sie das Dorf verlassen.
Die Russen hatten willkürliche Grenzen gezogen und Stämme und Völker teilweise getrennt. Dies führt bis heute zu Konflikten. In Kirgisistan leben viele Usbeken. In den 1990er Jahren und im Juni 2010 kam es zu blutigen Ausschreitungen. 2010 kamen über 400 Menschen ums Leben, 2.000 wurden verletzt und mehrere hunderttausend flüchteten nach Usbekistan und in Grenzregionen.
Usbekistan
Beim Grenzübertritt nach Usbekistan hatte sie Glück, dass sie während der Baumwollerntezeit reiste. In dieser Zeit werden die Grenzen für die Einheimischen gesperrt, denn alle werden für die Baumwollernte gebraucht. „Jedes Jahr werden Hunderttausende Ärzte, Lehrer, Krankenschwestern, Beamte und andere öffentliche Angestellte sowie Studenten des Landes einberufen, um Baumwolle zu pflücken - eine alte Tradition aus der Sowjetzeit, die noch immer praktiziert wird.“ (Seite 398) Damit sich die Bewohner vor dieser Arbeit nicht ins Ausland flüchten können, wird die Grenze für sie gesperrt. Für Erika Fatland wurde es so ein schneller Grenzübertritt.
So wie in all diesen STAN-Ländern ist der russische Vergangenheitseinfluss nicht zu übersehen. Zwar haben nach der Verselbstständigung Usbekistans die Hälfte der russischen Einwohner das Land verlassen, aber eine Million ist geblieben und die Abhängigkeit von Russland ist geblieben. Das religiöse Leben blühte wieder auf. Wie in den Nachbarländern wird das Land von einem Diktator nach sowjetischem Muster regiert. Karimow, der Präsident der ersten Stunde, war ein Alleinregent, dessen Familienmitglieder sich bereicherten. Unruhen im Jahr 2005 bescherten viele Tote, aber der Aufstand wurde niedergeschlagen.
Sehr detailliert wird im Kapitel „Der Stoff, aus dem Träume sind“ die Produktion von Seide beschrieben.
An der Grenze zu Turkmenistan liegt die kleine Stadt Nukus. Sie ist die wichtigste Stadt der Region Karakalpakstan, die etwa ein Drittel der Fläche Usbekistans besitzt, aber nur 1,7 Millionen Einwohner hat. Nur mehr ein Viertel sind Einheimische, aber auch die werden jedes Jahr weniger. Es herrscht ungastliches Klima. Im Sommer hat es oft mehr als 50 Grad und im Winter Kälte. In dieser entlegenen Gegend hatten die Sowjets ihre biologischen Waffen getestet. In den 1960er Jahren waren etwa 50.000 Menschen an diesen geheimen Versuchen beteiligt. Bedingt durch die Militäranlagen war es Sperrgebiet für Ausländer und Außenstehende. In dieser Stadt gründete der Ukrainer Igor Sawitzki, der selbst Maler war, ein Museum. Er war ein Sammler und trug Handarbeiten, Schmuck und Stickereien der Einheimischen zusammen. Aber das Besondere sind die tausenden expressionistischen Bilder, die er gesammelt hat. Bilder, die in der naturalistischen, kommunistischen Kunstauffassung nicht erlaubt waren. In der zentralasiatisch entlegenen Kleinstadt war die Moskauer Kontrolle weit weg. Heute hat dieses Museum einen internationalen Stellenwert. Fatland besuchte dieses außergewöhnliche Museum.
Ein Kapitel widmet sie auch der Baumwollproduktion, demzufolge der Aralsee zum Großteil ausgetrocknet ist, weil man das Wasser für die Baumwollplantagen brauchte. Neunzig Prozent des Sees sind in den letzten fünfzig Jahren verschwunden. Baumwolle wurde in Usbekistan schon seit 2000 Jahren angebaut, aber in bescheidenem Umfang. Die russischen Machthaber erhöhten dies, wodurch andere landwirtschaftliche Produkte wie Milch, Getreide, Obst und Gemüse zurückgedrängt wurden. Usbekistan musste diese, früher selbst produzierten Waren importieren. Das Land verarmte noch mehr. Die meisten Bauernhöfe gehören heute dem Staat und so bestimmt der usbekische Staat was angebaut wird und wie die Preise zu gestalten sind. Baumwolle ist weiterhin die Basis der usbekischen Wirtschaft.
Neben der Hauptstadt sind Buchara und Samarkand wichtige Städte. Ursprünglich war hier ein Zentrum der Wissenschaften, wo unter anderem der Mathematiker Abu Dscha´far Muhammad ibn Musa al-Chwarizimi schon im 7. Jahrhundert als Vater der Algebra angesehen wurde. Der Algorithmus war Teil seiner Forschungen und Publikationen. Ein anderer löste das Problem, wenn man auf ein Schachbrett ein Weizenkorn legt und auf das nächste die doppelte Menge und sofort, bis letztlich am letzten Schachbrettfeld über 18 Trillionen liegen müssten. Das intellektuelle Leben in Zentralasien war vor eintausend Jahren hochstehend. Als die Araber die Region eroberten, verfiel all dieses Wissen. Bibliotheken wurden verbrannt und Wissen ausgelöscht. Auch Andersgläubige wurden verfolgt und allein in Usbekistan tausende Christen ermordet.
Mit der transkaspischen Eisenbahn, die auf usbekischem Gebiet mit Hochgeschwindigkeitszügen fährt, kam die Autorin in die Hauptstadt Taschkent. Von der ursprünglichen Stadt ist durch ein Erdbeben im Jahr 1966 nichts übriggeblieben. Die UdSSR errichtete eine sowjetische Musterstadt. Da aber Usbekistan auch große Gas- und Erdölvorkommen hat, konnte eine moderne Stadt aufgebaut werden. Wie in den Nachbarstaaten herrscht ein Diktator. Interviewpartner waren nur schwer zu finden. Man hatte Angst. Aber bei Taxifahrten wurden die Menschen gesprächig und lieferten Eindrücke für den Leser des vorliegenden Buchs. Ausführlich widmet sie sich dem Klan des usbekischen Präsidenten. Einer der Taxifahrer brachte es auf den Punkt: „Die Sowjetgeneration ist, wie sie ist. Sie macht alles auf die gleiche, alte Art und Weise. Ich setzte meine Hoffnung auf die jetzt aufwachsende Generation. Viele von ihnen sind gereist und haben die Welt gesehen. Nur sie können etwas Neues schaffen.“ (Seite 495)
Wie sieht die Zukunft der Region aus? In einem Nachwort aus dem Jahr 2014 versucht es Fatland zu definieren:
Die Russen eroberten im 19. Jahrhundert diese zentralasiatischen Gebiete, konnten sie aber nur schwer abgrenzen. Sie nannten die Region „Turkestan“, weil die meisten Völker türkischstämmig waren. Die fünf postsowjetischen Republiken existierten bis 1991 nicht als Nationen. „Bis heute unterhalten die Stans sowohl wirtschaftlich wie politisch enge Bande zu Russland als miteinander.“ (Seite 386)
Viele Gesprächspartner trauern immer noch der Sowjetunion nach. Sowie es Boris, einer ihrer Führer ausdrückte: „Alles war besser in der Sowjetunion. Speiseöl war billig, das Brot kostete nichts und ein Flugticket nach Moskau war auch nicht besonders teuer. Wir bekamen genügend Lohn für eine ganze Familie. Jetzt reicht das Geld nie, und viele von uns sind krank.“ (Seite 449)
Das Buch erschien 2014. Vom Ende der Sowjetunion weg war viel passiert. Inzwischen sind weitere Jahre ins Land gegangen. Wie sieht es heute dort aus? Das Interesse ist geweckt. Frau Fatland: was wäre mit einer Fortsetzung?
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VORAB: Diese Rezension ist im Vergleich zu meinen bisherigen Buchbesprechungen sehr lang geworden. Das hat zwei Gründe:
Erstens sind es eigentlich fünf Bücher in einem Buch. Fünf postsowjetische Staaten sind beschrieben und jedes enthält so viel Informationen wie ein ganzes Buch. Ich habe daher jedem Land eine ausführliche Beschreibung gewidmet.
Zweitens habe ich einen starken persönlichen Bezug zu diesen Ländern. Unmittelbar nach der politischen Wende und der Abwendung von der Sowjetunion habe ich in all diesen Ländern eine Firma gegründet. Es war spannend zu lesen, was sich in diesen vergangenen Jahrzehnten verändert hat.
Sie als Leser können aber beruhigt sein: ich zeige nur die Vielfalt des Buchinhalts auf. Vieles ist unbesprochen geblieben und wirklich lesenswert.
Die Norwegerin Erika Fatland ist nicht nur eine ausgezeichnete Reiseberichterstatterin, sie erzählt in diesem Buch auch die jüngste Geschichte dieser ehemaligen Sowjetrepubliken. Der durchschnittliche Bürger des Westens weiß eigentlich Nichts über die Situation in diesen Ländern. Fatland liefert ein Geschichtsbuch der letzten Jahrzehnte. „Sowjetistan“ besteht aus fünf großen Kapiteln, die jedes eines der Länder beschreibt. Jedes Kapitel könnte ein eigenes Buch sein, weshalb ich auch jeden Abschnitt, jedes Land hier beschreiben möchte.
Turkmenistan
Ihre Reise begann sie in Turkmenistan. Die Einreise war sehr bürokratisch. Das Land hat die härtesten Einreisebestimmungen der Welt. Nur Länder wie Venezuela, die Türkei , Kuba oder die Mongolei brauchen kein Visum. Drei Wochen fuhr sie durchs Land. Meist wurde sie von Mitarbeitern staatlicher Reisebüros begleitet. Es ist ein Bericht über ein Land mit einem Diktator, der alles bestimmt. Ein Land, das eigentlich wegen seiner Öl- und Gasvorkommen reich sein müsste. In der Hauptstadt Aschgabat sind die Häuser des Zentrums fast ausschließlich mit weißem Marmor verkleidet. Damit soll Reichtum demonstriert werden. Davon spüren aber die meisten Einwohner nichts. Lediglich Brot, ist kostenlos. Dafür sind sie ihrem Herrscher dankbar. Wann immer sie den Präsidenten ansprechen, fügen sie den Satz „unser guter Präsident“ hinzu. Übrigens, auch Benzin ist (fast) kostenlos. Der erste Präsident – Turkmenbaschi - war in der UdSSR Parteisekretär dieser Sowjetrepublik. Er ließ eine Volksabstimmung für die Unabhängigkeit des Landes durchführen und setzte sich selbst als dessen Führer und obersten Chef ein. Er schrieb die Geschichte des Landes neu. Die meisten Bücher wurden verboten, aber „sein“ Buch mussten alle Schüler lesen, ja sogar bei der Führerscheinprüfung wurde dessen Inhalt abgeprüft. Er ordnete unverständliche Dinge an: in der Hauptstadt durfte es keine Hunde geben, Oper und Zirkus wurde verboten. Alle Bibliotheken am Land wurden geschlossen. Als der Herrscher 2006 starb, wurde sein Stellvertreter Berdimuhamedow zum Nachfolger und hob viele dieser Verordnungen wieder auf, um seine eigenen Ideen durchzusetzen. Ließ Turkmenbaschi im ganzen Land vergoldete Statuen von sich aufstellen, so stellte der neue Präsident sein Konterfei in weißem Marmor gegenüber. Am Land erlebte Fatland die Armut der Bevölkerung, aber auch die Freundlichkeit: „Gleichzeitig wurde ich hier, bei diesen armen Menschen, die nicht mehr besitzen als ein paar Kochtöpfe, ein Paar Kamele und eine Herde Ziegen, am herzlichsten empfangen.“ (Seite 71)
Als sie nach drei Wochen das Land in Richtung Kasachstan mit ihren Eindrücken verließ nannte sie es „Absurtistan“.
Kasachstan
Kasachstan ist das größte Land der „Sowjetistan-Staaten“. Von der turkmenischen Grenzstadt weg fuhr die Autorin mit dem Zug nach Aral und Almaty. Bei Zugreisen kam sie mit einfachen Leuten ins Gespräch. Interessante Informationen auch für den Leser. Daneben wird auch das jeweilige Land allgemein vorgestellt. Etwa, dass Kasachstan mit 2,9 Millionen Quadratkilometern Größe das neuntgrößte Land der Welt und größer als Westeuropa ist. Es hat keinen Meerzugang und besteht zu drei Viertel aus Wüste; also unfruchtbar. Bei 17 Millionen Einwohnern leben nur sechs Menschen auf einem Quadratkilometer. Auch die jüngere Geschichte wird ausgeleuchtet. Bei einer Hungersnot in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts starben 25 Prozent der ethnischen Bevölkerung. Positiv ist, dass der Aralsee, der in den 1960er Jahren zu verschwinden drohte, weil die Baumwollpflanzungen so viel Wasser brauchten sich wieder zu füllen beginnt. Der Hafen in Aral liegt aber noch im Trockenen.
Nach Aral und Almaty besucht Frau Fatland die Hauptstadt Astana (Astana heißt übersetzt „Hauptstadt“). Sie wurde von ihrem Präsidenten Nasarbajew als Prestigeprojekt von Almaty verlegt. Internationale Architekten konnten sich hier verwirklichen. Bis 2030 werden noch jedes Jahr acht Prozent des Staatsbudgets für die Hauptstadt ausgegeben.
Mit einem kleinen Flugzeug kommt die Autorin nach Semipalatinsk, wo die Sowjetunion in der weiten Steppe ihre atomaren Probeexplosionen durchgeführt hat. Heute leben nur mehr wenige Menschen hier und ein Großteil von ihnen ist von den Atomversuchen erkrankt oder gestorben. Kinder kommen mit sechs Fingern zur Welt und viele leiden an verschiedenen Krebskrankheiten. Es wird erzählt, wie sich der Entwickler der Wasserstoffbombe Sacharow zum Friedenstifter und Staatsfeind entwickelte und wie nach Zerfall der UdSSR die vielen atomaren Anlagen durch Hilfe der Amerikaner entsorgt wurden. Hier gab es eines der größten Gefangenenlager. Einer der Sträflinge war der Schriftsteller Dostojewski und das Buch erzählt von seiner Liebesaffäre.
Kasachstan ist auch die Geburtsstätte des Apfels. Es wird erzählt, wie er von einem Forscher aus Sankt Petersburg gefunden wurde, aber auch, wie sich die Autorin einen Apfel am Gemüsemarkt kauft und genießt.
In vielen Interviews wurden Menschengeschichten eingefangen. So etwa die eines Aktivisten oder einer Schamanin oder Hexe. Man kann zusammenfassend sagen: „Kasachstan in Zahlen, Fakten, persönlichen Eindrücken und durch Menschenbilder.“
Tadschikistan
Tadschikistan ist das ärmste Land unter den ehemaligen Sowjetstaaten. Die meisten Einwohner verdienen weniger als 80 Dollar im Monat und ein Drittel ist unterernährt. Es gibt keine Öl- oder Gasvorkommen, wie in den Nachbarstaaten. Neunzig Prozent des Landes besteht aus Bergen und nur sieben Prozent sind landwirtschaftlich genutzt. Im Gebirge kann es im Winter über 50 Grad minus bekommen. Tadschikistan ist dem Persischen sehr ähnlich. Obwohl Tadschikisch in kyrillischen Buchstaben geschrieben wird und Persisch in arabischen, haben sie vieles gemeinsam. Bevor das Land eine sowjetische Republik wurde, hatte die heutige Hauptstadt Duschambe nur 3.000 Einwohner. Heute wohnen hier 700.000 Menschen. Trotz Armut will die Hauptstadt, wie ihre Nachbarn, protzen. Ein pompöser Präsidentenpalast und lange Zeit der höchste Fahnenmast sind nur zwei dieser Faktoren. Präsident Rahmons studierte, wie sein Kollege Nasarbajew aus Kasachstan, Wirtschaftswissenschaften. Aus einfachen Verhältnissen kommend machte er Karriere und wurde oberster Repräsentant der Sowjetrepublik und späterer Präsident.
Die Autorin besuchte wieder entlegene Gebiete, in den noch die letzten Ureinwohner, die Jaghnoben wohnen. Als die UdSSR Baumwollplantagen aufzogen, wurden die Bergbewohner in die Ebenen deportiert, um dort zu arbeiten. Die Gegend war ohne Straßenverbindung völlig isoliert. Die Deportierten wurden mit Hubschraubern ausgeflogen. Viele kamen immer wieder zurück, aber viele blieben im klimatisch besseren Gebiet, vermischten sich mit einheimischen Tadschiken. Verschiedene Menschenschicksale kann man im Buch nachlesen. Bei Beerdigungen und Hochzeiten hatte Fatland Kontakt mit der Bevölkerung und schrieb das Erzählte nieder. Ein Mann sagte zu ihr „Hier im Tal leben wir wie im 19. Jahrhundert. Es ist ein hartes Leben, aber wir sind glücklich.“ (Seite 273) Um überleben zu können gehen viele Männer ins Ausland zum Geldverdienen. Die meisten nach Russland. Ihre Frauen bleiben bei den Kindern im Dorf. Einmal im Jahr kommen die Männer heim, schwängern die Frau und oft heiraten sie dann in der Fremde eine andere Frau. Aber sie schicken Geld nach Hause. Die Hälfte des Bruttonationalprodukts besteht aus diesen Überweisungen. In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts wüteten Bürgerkriege und viele flüchteten. Die Gesellschaft ist von Klans dominiert. Diese Zusammengehörigkeit ließ nach dem Krieg viele wieder zurückkommen.
Erika Fatland ist eine Abenteuerin. Nur so ist es möglich, so ein Buch zu schreiben. Wenn sie etwa mit einem Hubschrauber in das Pamirgebirge fliegt. Die Passagiere sitzen auf Bänken. Der Kapitän allein im Cockpit. Der Copilot hatte dort keinen Platz mehr und musste bei den Passagieren sitzen. Die Tür zum Cockpit stand offen, damit die beiden miteinander kommunizieren konnten. Auf der drei- bis fünftausend Meter hohen Pamir Ebene zeigt sich die Wichtigkeit von Grenzen. Lange wurde hier gekämpft. Die beiden Großmächte Russland und das britische Empire standen sich gegenüber und eroberten diese zentralasiatischen Gebiete für sich. Man einigte sich auf Grenzen, die aber immer wieder vom Gegner überschritten wurden. Grenzen wurden auch willkürlich gezogen und sind heute noch ein Problem. Bis in die Jetztzeit wird um Gebiete um Afghanistan gekämpft. Obwohl Tadschikistan ein selbstständiger Staat war, waren russische Soldaten bis 2005 noch in Tadschikistan stationiert, um die Grenzen unter Beobachtung zu haben.
Kirgisistan
„Kirgisistan ist das freieste und demokratischste Land Zentralasiens, die Presse ist die freieste in der Region und auch mit Blick auf die wirtschaftlichen Freiheiten landet das arme kleine Bergland unter den hundert fortschrittlichsten Ländern der Welt.“ (Seite 337) Bischkek ist die Hauptstadt und nach dem Bericht in diesem Buch die „grünste“ Stadt Zentralasiens. Es ist das einzige Land der Sowjetistan-Länder, die keinen neuen und protzigen Präsidentenpalast besitzen. Der Präsident residiert im Weißen Haus, das noch aus der Sowjetunions-Zeit stammt. Präsidenten haben sich nicht lange gehalten. Demokratische Bestrebungen haben sie bei Fehlverhalten vertrieben und durch neu gewählte ersetzt. Die alten fanden Asyl in Weißrussland oder Russland. Es ist das ärmste Land der Region. In der Zeit der UdSSR gab Moskau finanzielle Unterstützung. Drei Viertel des Staatshaushalts kam von dort. Heute lebt ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Damit nicht alles zum Stillstand kommt arbeiten vor allem junge Männer im Ausland und schicken Geld nach Hause. Die meisten von ihnen finden in Russland einen Job; allerdings zu sehr schlechten Bedingungen. Sie wohnen zu Dutzenden in einem gemieteten Zimmer. Durch die Armut im Land und unter den Fremdarbeitern ist wieder Tuberkulose ausgebrochen, die zu bekämpfen schwierig ist. Man schätzt, dass zehn Prozent von dieser Krankheit betroffen sind. So wie arbeitsfähige Männer ins Ausland abwandern, verlassen auch viele Ärzte das Land. Sie verdienen im Ausland mehr und zu Hause bricht das Gesundheitswesen zusammen.
Soweit zu den Fakten. Fatland schreibt auch über persönliche Erfahrungen. So etwa sprach sie mit Frauen, die entführt und Zwangsverheiratet wurden. Brautraub ist immer noch üblich. Auch eine russische Frau, mit der die Autorin sprach, blieb davon nicht verschont. Nach einer Studie sind etwa ein Drittel aller geschlossenen Ehen nicht freiwillig, sondern durch Brautraub entstanden. Am Land sind es oft mehr als 50 Prozent. Sie machte auch Bekanntschaft mit Adlermännern, die die Kunst des Jagens mit einem Greifvogel aufrechterhalten. „Unsere Vorfahren hatten keine Waffen und nützten die Vögel zur Jagd“ (Seite 364) Kirgisen waren Nomaden. Unter Stalin wurden sie „umerzogen“, um sesshaft zu werden. Heute sind nur mehr zehn Prozent der Einwohner Nomaden. Stalin war es, der viele Menschen während des Zweiten Weltkriegs nach Zentralasien übersiedelte. So kamen 230.000 Krim-Tataren, 17.000 Koreaner aus Wladiwostok, 19.000 Aserbaidschaner aus dem Kaukasus und 8.500 Deutsche aus dem Wolga-Gebiet. Letztlich lebte eine Million Deutscher in der Region. 1989 wurde ihre Auswanderung zugelassen und die Zahl verkleinerte sich. Erika Fatland reiste – trotz Warnung – in so ein Dorf, das sich „Rot-Front“ nennt. Zwar konnte sie mit einem deutschen Mann reden, als sie dann einen Gottesdienst besuchte und der Gemeindevorstand gegen ausländische Journalisten predigte musste sie das Dorf verlassen.
Die Russen hatten willkürliche Grenzen gezogen und Stämme und Völker teilweise getrennt. Dies führt bis heute zu Konflikten. In Kirgisistan leben viele Usbeken. In den 1990er Jahren und im Juni 2010 kam es zu blutigen Ausschreitungen. 2010 kamen über 400 Menschen ums Leben, 2.000 wurden verletzt und mehrere hunderttausend flüchteten nach Usbekistan und in Grenzregionen.
Usbekistan
Beim Grenzübertritt nach Usbekistan hatte sie Glück, dass sie während der Baumwollerntezeit reiste. In dieser Zeit werden die Grenzen für die Einheimischen gesperrt, denn alle werden für die Baumwollernte gebraucht. „Jedes Jahr werden Hunderttausende Ärzte, Lehrer, Krankenschwestern, Beamte und andere öffentliche Angestellte sowie Studenten des Landes einberufen, um Baumwolle zu pflücken - eine alte Tradition aus der Sowjetzeit, die noch immer praktiziert wird.“ (Seite 398) Damit sich die Bewohner vor dieser Arbeit nicht ins Ausland flüchten können, wird die Grenze für sie gesperrt. Für Erika Fatland wurde es so ein schneller Grenzübertritt.
So wie in all diesen STAN-Ländern ist der russische Vergangenheitseinfluss nicht zu übersehen. Zwar haben nach der Verselbstständigung Usbekistans die Hälfte der russischen Einwohner das Land verlassen, aber eine Million ist geblieben und die Abhängigkeit von Russland ist geblieben. Das religiöse Leben blühte wieder auf. Wie in den Nachbarländern wird das Land von einem Diktator nach sowjetischem Muster regiert. Karimow, der Präsident der ersten Stunde, war ein Alleinregent, dessen Familienmitglieder sich bereicherten. Unruhen im Jahr 2005 bescherten viele Tote, aber der Aufstand wurde niedergeschlagen.
Sehr detailliert wird im Kapitel „Der Stoff, aus dem Träume sind“ die Produktion von Seide beschrieben.
An der Grenze zu Turkmenistan liegt die kleine Stadt Nukus. Sie ist die wichtigste Stadt der Region Karakalpakstan, die etwa ein Drittel der Fläche Usbekistans besitzt, aber nur 1,7 Millionen Einwohner hat. Nur mehr ein Viertel sind Einheimische, aber auch die werden jedes Jahr weniger. Es herrscht ungastliches Klima. Im Sommer hat es oft mehr als 50 Grad und im Winter Kälte. In dieser entlegenen Gegend hatten die Sowjets ihre biologischen Waffen getestet. In den 1960er Jahren waren etwa 50.000 Menschen an diesen geheimen Versuchen beteiligt. Bedingt durch die Militäranlagen war es Sperrgebiet für Ausländer und Außenstehende. In dieser Stadt gründete der Ukrainer Igor Sawitzki, der selbst Maler war, ein Museum. Er war ein Sammler und trug Handarbeiten, Schmuck und Stickereien der Einheimischen zusammen. Aber das Besondere sind die tausenden expressionistischen Bilder, die er gesammelt hat. Bilder, die in der naturalistischen, kommunistischen Kunstauffassung nicht erlaubt waren. In der zentralasiatisch entlegenen Kleinstadt war die Moskauer Kontrolle weit weg. Heute hat dieses Museum einen internationalen Stellenwert. Fatland besuchte dieses außergewöhnliche Museum.
Ein Kapitel widmet sie auch der Baumwollproduktion, demzufolge der Aralsee zum Großteil ausgetrocknet ist, weil man das Wasser für die Baumwollplantagen brauchte. Neunzig Prozent des Sees sind in den letzten fünfzig Jahren verschwunden. Baumwolle wurde in Usbekistan schon seit 2000 Jahren angebaut, aber in bescheidenem Umfang. Die russischen Machthaber erhöhten dies, wodurch andere landwirtschaftliche Produkte wie Milch, Getreide, Obst und Gemüse zurückgedrängt wurden. Usbekistan musste diese, früher selbst produzierten Waren importieren. Das Land verarmte noch mehr. Die meisten Bauernhöfe gehören heute dem Staat und so bestimmt der usbekische Staat was angebaut wird und wie die Preise zu gestalten sind. Baumwolle ist weiterhin die Basis der usbekischen Wirtschaft.
Neben der Hauptstadt sind Buchara und Samarkand wichtige Städte. Ursprünglich war hier ein Zentrum der Wissenschaften, wo unter anderem der Mathematiker Abu Dscha´far Muhammad ibn Musa al-Chwarizimi schon im 7. Jahrhundert als Vater der Algebra angesehen wurde. Der Algorithmus war Teil seiner Forschungen und Publikationen. Ein anderer löste das Problem, wenn man auf ein Schachbrett ein Weizenkorn legt und auf das nächste die doppelte Menge und sofort, bis letztlich am letzten Schachbrettfeld über 18 Trillionen liegen müssten. Das intellektuelle Leben in Zentralasien war vor eintausend Jahren hochstehend. Als die Araber die Region eroberten, verfiel all dieses Wissen. Bibliotheken wurden verbrannt und Wissen ausgelöscht. Auch Andersgläubige wurden verfolgt und allein in Usbekistan tausende Christen ermordet.
Mit der transkaspischen Eisenbahn, die auf usbekischem Gebiet mit Hochgeschwindigkeitszügen fährt, kam die Autorin in die Hauptstadt Taschkent. Von der ursprünglichen Stadt ist durch ein Erdbeben im Jahr 1966 nichts übriggeblieben. Die UdSSR errichtete eine sowjetische Musterstadt. Da aber Usbekistan auch große Gas- und Erdölvorkommen hat, konnte eine moderne Stadt aufgebaut werden. Wie in den Nachbarstaaten herrscht ein Diktator. Interviewpartner waren nur schwer zu finden. Man hatte Angst. Aber bei Taxifahrten wurden die Menschen gesprächig und lieferten Eindrücke für den Leser des vorliegenden Buchs. Ausführlich widmet sie sich dem Klan des usbekischen Präsidenten. Einer der Taxifahrer brachte es auf den Punkt: „Die Sowjetgeneration ist, wie sie ist. Sie macht alles auf die gleiche, alte Art und Weise. Ich setzte meine Hoffnung auf die jetzt aufwachsende Generation. Viele von ihnen sind gereist und haben die Welt gesehen. Nur sie können etwas Neues schaffen.“ (Seite 495)
Wie sieht die Zukunft der Region aus? In einem Nachwort aus dem Jahr 2014 versucht es Fatland zu definieren:
Die Russen eroberten im 19. Jahrhundert diese zentralasiatischen Gebiete, konnten sie aber nur schwer abgrenzen. Sie nannten die Region „Turkestan“, weil die meisten Völker türkischstämmig waren. Die fünf postsowjetischen Republiken existierten bis 1991 nicht als Nationen. „Bis heute unterhalten die Stans sowohl wirtschaftlich wie politisch enge Bande zu Russland als miteinander.“ (Seite 386)
Viele Gesprächspartner trauern immer noch der Sowjetunion nach. Sowie es Boris, einer ihrer Führer ausdrückte: „Alles war besser in der Sowjetunion. Speiseöl war billig, das Brot kostete nichts und ein Flugticket nach Moskau war auch nicht besonders teuer. Wir bekamen genügend Lohn für eine ganze Familie. Jetzt reicht das Geld nie, und viele von uns sind krank.“ (Seite 449)
Das Buch erschien 2014. Vom Ende der Sowjetunion weg war viel passiert. Inzwischen sind weitere Jahre ins Land gegangen. Wie sieht es heute dort aus? Das Interesse ist geweckt. Frau Fatland: was wäre mit einer Fortsetzung?
SCHMITT, Eric-Emmanuel
Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran Buch
2022.
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title = {Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran},
author = {Eric-Emmanuel SCHMITT},
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abstract = {SCHMITT, Eric-Emmanuel: „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“, Frankfurt 2012
Ursprünglich war es ein Theaterstück, das 2004 mit Omar Sharif verfilmt wurde. Als Erzählung erschien es 2001 und die erste deutsche Version 2003. Lange lag es auf der Spiegel-Bestsellerliste auf Platz 1. Es ist das zweite Buch in der Reihe „Cycle de l’invisible“ und ist nicht nur mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, es ist auch zu einer Standardlektüre im Französischunterricht geworden. Eine wunderbare Geschichte, die man auch als Märchen für Erwachsene bezeichnen könnte.
Die beiden Proponenten sind Moses, ein jüdischer Bub und Ibrahim ein türkischer Greißler in einem Pariser Bezirk. Moses lebt allein mit seinem Vater, einem Rechtsanwalt. Er führt schon als Bub den Haushalt des Vaters und lernt so den Lebensmittelhändler Ibrahim kennen, den er bestiehlt, um sich mit dem Ersparten seine ersten Freudenhausbesuche finanzieren zu können. Ibrahim und Moses freunden sich an und der alte Mann wird zum Vaterersatz, denn dieser verliert seinen Job und begeht Selbstmord. Als er noch ein Kleinkind war, hat seine Mutter die Familie verlassen. Erst später sucht sie ihr Kind, aber Moses gibt sich als ein anderer aus. In diesen zerrütteten Verhältnissen adoptiert Ibrahim Moses. Sie kaufen ein Auto und fahren in Ibrahims Heimat, ans Meer in der Türkei, wo dieser verstirbt. Moses wird Lebensmittelhändler in Paris.
Damit habe ich vielleicht viel verraten und die Geschichte nacherzählt. Dem ist aber nicht so, denn in dieser Erzählung stecken viele schöne Details, die man selbst lesen und genießen muss.
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Ursprünglich war es ein Theaterstück, das 2004 mit Omar Sharif verfilmt wurde. Als Erzählung erschien es 2001 und die erste deutsche Version 2003. Lange lag es auf der Spiegel-Bestsellerliste auf Platz 1. Es ist das zweite Buch in der Reihe „Cycle de l’invisible“ und ist nicht nur mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, es ist auch zu einer Standardlektüre im Französischunterricht geworden. Eine wunderbare Geschichte, die man auch als Märchen für Erwachsene bezeichnen könnte.
Die beiden Proponenten sind Moses, ein jüdischer Bub und Ibrahim ein türkischer Greißler in einem Pariser Bezirk. Moses lebt allein mit seinem Vater, einem Rechtsanwalt. Er führt schon als Bub den Haushalt des Vaters und lernt so den Lebensmittelhändler Ibrahim kennen, den er bestiehlt, um sich mit dem Ersparten seine ersten Freudenhausbesuche finanzieren zu können. Ibrahim und Moses freunden sich an und der alte Mann wird zum Vaterersatz, denn dieser verliert seinen Job und begeht Selbstmord. Als er noch ein Kleinkind war, hat seine Mutter die Familie verlassen. Erst später sucht sie ihr Kind, aber Moses gibt sich als ein anderer aus. In diesen zerrütteten Verhältnissen adoptiert Ibrahim Moses. Sie kaufen ein Auto und fahren in Ibrahims Heimat, ans Meer in der Türkei, wo dieser verstirbt. Moses wird Lebensmittelhändler in Paris.
Damit habe ich vielleicht viel verraten und die Geschichte nacherzählt. Dem ist aber nicht so, denn in dieser Erzählung stecken viele schöne Details, die man selbst lesen und genießen muss.
TRAWÖGER, Norbert
Spiel Buch
2022.
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Der Autor meint, wir sollten als Erwachsene von den Kindern lernen und mehr spielerisch betrachten. Was er mit dem vorliegenden Buch sagen will habe ich leider nicht verstanden. Da gibt es Abhandlungen über verschiedene Arten des Spielens. „Spielen“ sei in der deutschen Sprache nicht so leicht abgrenzbar. Im Englischen sei dies mit „play“ und „game“ besser unterscheidbar. Er nimmt Bezug auf sein Kind und in welchem Alter welcher Zugang zum Spielen bestand. Er selbst „spielt“ Flöte. So wie sein Vater. Schon der Großvater war Musiker und er selbst ist künstlerischer Leiter des Brucknerorchesters in Linz. Als ehemaliger Lehrer besitzt er einen Zugang zu Jugendlichen und deren Denkweise, die sich im Buch niederschlägt: Als er sich 2017 aus dem Lehrberuf zurückzieht schreibt er nicht ein Plädoyer, sondern einen Abschiedsbrief an seine Schüler und Schülerinnen.
Der Autor setzt sich in diesem Buch mit verschiedenen Themen auseinander. So auch mit Künstlicher Intelligenz und Musik. Letztere ist ja sein Aufgabengebiet. Dementsprechend kommt der Computer nicht gut weg. Auch „Kultur“ nimmt er unter die Lupe und streicht ihre Wichtigkeit für Veränderungen und die Gestaltung der Gesellschaft hervor.
Letztlich kommen auch tagesaktuelle Themen zur Besprechung: die Chatprotokolle der letzten österreichischen Regierung und der Umgang der Politik mit der Pandemie COVID19.
Worin der Sinn des Buches sein soll, habe ich als Leser nicht herausgefunden. Am Ende wird nochmals ein Bezug auf das „Spielen“ hergestellt:
„Spielt keine Rolle, spielt nicht mit, wenn es keine Rolle spielt und spielt was das Zeug hält. Lasst nicht mit euch spielen, bleibt spielerisch und vor allem: Nehmt euch und das Spiel ernst. Es darf um nichts gehen, aber um nicht weniger.“ (Seite 105)
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Der Autor meint, wir sollten als Erwachsene von den Kindern lernen und mehr spielerisch betrachten. Was er mit dem vorliegenden Buch sagen will habe ich leider nicht verstanden. Da gibt es Abhandlungen über verschiedene Arten des Spielens. „Spielen“ sei in der deutschen Sprache nicht so leicht abgrenzbar. Im Englischen sei dies mit „play“ und „game“ besser unterscheidbar. Er nimmt Bezug auf sein Kind und in welchem Alter welcher Zugang zum Spielen bestand. Er selbst „spielt“ Flöte. So wie sein Vater. Schon der Großvater war Musiker und er selbst ist künstlerischer Leiter des Brucknerorchesters in Linz. Als ehemaliger Lehrer besitzt er einen Zugang zu Jugendlichen und deren Denkweise, die sich im Buch niederschlägt: Als er sich 2017 aus dem Lehrberuf zurückzieht schreibt er nicht ein Plädoyer, sondern einen Abschiedsbrief an seine Schüler und Schülerinnen.
Der Autor setzt sich in diesem Buch mit verschiedenen Themen auseinander. So auch mit Künstlicher Intelligenz und Musik. Letztere ist ja sein Aufgabengebiet. Dementsprechend kommt der Computer nicht gut weg. Auch „Kultur“ nimmt er unter die Lupe und streicht ihre Wichtigkeit für Veränderungen und die Gestaltung der Gesellschaft hervor.
Letztlich kommen auch tagesaktuelle Themen zur Besprechung: die Chatprotokolle der letzten österreichischen Regierung und der Umgang der Politik mit der Pandemie COVID19.
Worin der Sinn des Buches sein soll, habe ich als Leser nicht herausgefunden. Am Ende wird nochmals ein Bezug auf das „Spielen“ hergestellt:
„Spielt keine Rolle, spielt nicht mit, wenn es keine Rolle spielt und spielt was das Zeug hält. Lasst nicht mit euch spielen, bleibt spielerisch und vor allem: Nehmt euch und das Spiel ernst. Es darf um nichts gehen, aber um nicht weniger.“ (Seite 105)
WINKLER, Josef
Der Leibeigene Buch
2022.
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author = {Josef WINKLER},
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Wie der in Kärnten lebende Schriftsteller Alois Brandstetter, widmet sich auch Josef Winkler der Erzählung des ländlichen Lebens. Bei Winkler ist es aber nicht nur eine Schilderung der Situationen, sondern ein authentisches Niederschreiben von selbst Erlebtem. Auch stilistisch ist ein großer Unterschied. Brandstetter ist ein ausgezeichneter Erzähler. Winkler dagegen ein literarischer Dichter, der die Realitäten in irreale Texte einbettet. Die Texte springen zusammenhanglos von einer Szene in eine ganz andere.
Es wird das Leben des Sohnes eines tyrannischen Bauern beschrieben. Vom Vater wurde er eingeschüchtert und immer wieder als unfähig hingestellt. „Meine Seele war auf die Größe zweier Bohnen zusammengeschrumpft.“ (Seite 75) Trost findet er, wenn er am Friedhof zwei Freunde, die sich erhängt hatten, besucht. Auch selbst denkt er oft an Selbstmord.
Bäuerliche Arbeit wird detailliert beschrieben, wie etwa das Ziehen eines Kalbes aus dem Bauch der trächtigen Mutterkuh. Das bäuerliche Leben ist hart und brutal zugleich. Als die Nachbarn viele Katzen hatten und diese zum Milch trinken in seinen Stall kamen, tötete sie der Vater, indem er ihnen mit einer Hacke den Kopf abschlug.
Später – er lebte teilweise in Rom – kommt er wieder nach Hause in den elterlichen Bauernhof. Der Vater ist 80 Jahre alt. Keiner der fünf Söhne hat seine Nachfolge angetreten. Mit hohem Alter bearbeitet er noch den Hof. Der Sohn, ein Schriftsteller, will den Vater beschreiben und hofft, dass er ihm aus seinem Leben erzählt. Wie es ihm als Jungbauern ergangen ist. Wie er den Krieg erlebte und dann seine eigenen Kinder. Das Leben eines Bauern hat sich generell verändert. „“… nach dem Krieg wurde der Bauer höher eingeschätzt als der Arbeiter. Was ist den heute der Bauer in diesem Land? Ein Schinder, der für einen Hungerlohn arbeitet. Heute muss ich mich in einem Amt regelrecht schämen, wenn ich sagen muss, dass ich ein Altbauer bin …“ (Seite 34) Dem schriftstellerischen Sohn erzählt er, dass es ihm als Kind „dreckig“ ergangen sei, dass er aber im Krieg viel erlebt habe. „Wenn nicht der Krieg gewesen wäre, hätte ich niemals Holland, England, Deutschland oder das Meer gesehen, gar nichts hätte ich von Europa gesehen. Der Krieg war das einzige Erlebnis meines Lebens.“ (Seite161/162)
Dieses Buch wurde vor 1990 geschrieben. Da war Homosexualität noch ein sensibleres Thema als heute im 21. Jahrhundert. Winkler setzt sich mit den Gefühlen und den Aktivitäten von Jugendlichen auseinander. „Das Gefühl, wenn ich einen Knaben berührte, etwas Schäbiges und Schreckliches getan zu haben – denn auch in meinem Kopf gingen damals, als ich noch achtzehn war, die moralischen Uhrzeiger des Volkes im Kreis – verließ mich vollkommen ….“ (Seite 254) Das schlechte Gewissen wurde aus der ländlichen Gesellschaft heraus entwickelt. „Der Hass des Kärntner Dorfvolkes auf die Homosexualität war mir genauso geläufig wie der Hass auf die Juden, Russen und die Slowenen, die in Kärnten von Politik und Gesellschaft noch heute unterdrückt werden.“
Die schlüpfrigen und gotteslästernden Texte machen ihn im Dorf unbeliebt. Die Eltern genieren sich für ihren Sohn. Vieles hat er über sie geschrieben. Der Pfarrer des Dorfs meinte „Er ist ein Gotteslästerer! Man sollte ihm das Handwerk legen.“ (Seite 217) Der Vater meinte sogar, er solle nicht alleine im Dunklen durch den Wald gehen, denn er könnte überfallen und geschlagen werden.
Viel wird über den Tod und das Sterben geschrieben. Als er im Traum unzählige Hostien gegessen hatte, fand er, dass er viele Leiber Christi in sich trage. Letztlich betete er den Teufel an: „Ich bete zur Sichelfrau und zum Sichelmann, zum Tod und zur Tödin, dass sie kommen und mir helfen, die Gebeine der vielen Leiber Christi wegzuräumen.“ (Seite 311) Und so endet das Buch auch mit dem Satz „Als Wegzehrung nehme ich mein eigenes Fleisch mit“ (Seite 312)
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Wie der in Kärnten lebende Schriftsteller Alois Brandstetter, widmet sich auch Josef Winkler der Erzählung des ländlichen Lebens. Bei Winkler ist es aber nicht nur eine Schilderung der Situationen, sondern ein authentisches Niederschreiben von selbst Erlebtem. Auch stilistisch ist ein großer Unterschied. Brandstetter ist ein ausgezeichneter Erzähler. Winkler dagegen ein literarischer Dichter, der die Realitäten in irreale Texte einbettet. Die Texte springen zusammenhanglos von einer Szene in eine ganz andere.
Es wird das Leben des Sohnes eines tyrannischen Bauern beschrieben. Vom Vater wurde er eingeschüchtert und immer wieder als unfähig hingestellt. „Meine Seele war auf die Größe zweier Bohnen zusammengeschrumpft.“ (Seite 75) Trost findet er, wenn er am Friedhof zwei Freunde, die sich erhängt hatten, besucht. Auch selbst denkt er oft an Selbstmord.
Bäuerliche Arbeit wird detailliert beschrieben, wie etwa das Ziehen eines Kalbes aus dem Bauch der trächtigen Mutterkuh. Das bäuerliche Leben ist hart und brutal zugleich. Als die Nachbarn viele Katzen hatten und diese zum Milch trinken in seinen Stall kamen, tötete sie der Vater, indem er ihnen mit einer Hacke den Kopf abschlug.
Später – er lebte teilweise in Rom – kommt er wieder nach Hause in den elterlichen Bauernhof. Der Vater ist 80 Jahre alt. Keiner der fünf Söhne hat seine Nachfolge angetreten. Mit hohem Alter bearbeitet er noch den Hof. Der Sohn, ein Schriftsteller, will den Vater beschreiben und hofft, dass er ihm aus seinem Leben erzählt. Wie es ihm als Jungbauern ergangen ist. Wie er den Krieg erlebte und dann seine eigenen Kinder. Das Leben eines Bauern hat sich generell verändert. „“… nach dem Krieg wurde der Bauer höher eingeschätzt als der Arbeiter. Was ist den heute der Bauer in diesem Land? Ein Schinder, der für einen Hungerlohn arbeitet. Heute muss ich mich in einem Amt regelrecht schämen, wenn ich sagen muss, dass ich ein Altbauer bin …“ (Seite 34) Dem schriftstellerischen Sohn erzählt er, dass es ihm als Kind „dreckig“ ergangen sei, dass er aber im Krieg viel erlebt habe. „Wenn nicht der Krieg gewesen wäre, hätte ich niemals Holland, England, Deutschland oder das Meer gesehen, gar nichts hätte ich von Europa gesehen. Der Krieg war das einzige Erlebnis meines Lebens.“ (Seite161/162)
Dieses Buch wurde vor 1990 geschrieben. Da war Homosexualität noch ein sensibleres Thema als heute im 21. Jahrhundert. Winkler setzt sich mit den Gefühlen und den Aktivitäten von Jugendlichen auseinander. „Das Gefühl, wenn ich einen Knaben berührte, etwas Schäbiges und Schreckliches getan zu haben – denn auch in meinem Kopf gingen damals, als ich noch achtzehn war, die moralischen Uhrzeiger des Volkes im Kreis – verließ mich vollkommen ….“ (Seite 254) Das schlechte Gewissen wurde aus der ländlichen Gesellschaft heraus entwickelt. „Der Hass des Kärntner Dorfvolkes auf die Homosexualität war mir genauso geläufig wie der Hass auf die Juden, Russen und die Slowenen, die in Kärnten von Politik und Gesellschaft noch heute unterdrückt werden.“
Die schlüpfrigen und gotteslästernden Texte machen ihn im Dorf unbeliebt. Die Eltern genieren sich für ihren Sohn. Vieles hat er über sie geschrieben. Der Pfarrer des Dorfs meinte „Er ist ein Gotteslästerer! Man sollte ihm das Handwerk legen.“ (Seite 217) Der Vater meinte sogar, er solle nicht alleine im Dunklen durch den Wald gehen, denn er könnte überfallen und geschlagen werden.
Viel wird über den Tod und das Sterben geschrieben. Als er im Traum unzählige Hostien gegessen hatte, fand er, dass er viele Leiber Christi in sich trage. Letztlich betete er den Teufel an: „Ich bete zur Sichelfrau und zum Sichelmann, zum Tod und zur Tödin, dass sie kommen und mir helfen, die Gebeine der vielen Leiber Christi wegzuräumen.“ (Seite 311) Und so endet das Buch auch mit dem Satz „Als Wegzehrung nehme ich mein eigenes Fleisch mit“ (Seite 312)
von HOFMANNSTHAL, Hugo
Der Unbestechliche. Lustspiel in fünf Akten Buch
2022.
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title = {Der Unbestechliche. Lustspiel in fünf Akten},
author = {Hugo von HOFMANNSTHAL},
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date = {2022-01-25},
abstract = {HOFMANNSTHAL, Hugo von: „Der Unbestechliche. Lustspiel in fünf Akten“, Berlin 1922
Ein Lustspiel in fünf Akten, dass der, durch das Stück „Jedermann“ bekannt gewordene Schriftsteller im Alter von 50 Jahren geschrieben hat. Er war schon ein anerkannter und berühmter Autor und widmete sich mit dem vorliegenden Stück der Beschreibung der „besseren Gesellschaft“.
Das Stück entstand vor 100 Jahren. Da war die Welt noch eine andere. Eine adlige und reiche Familie empfängt Gäste. Man hat viel Personal: einen Diener, Kutscher, Stubenmädchen etc.
Das Menschliche dieser Gesellschaft ist aber so wie heute. Der Sohn der Baronin ist jung verheiratet und hat zwei kleine Kinder. Daneben hat er zwei Freundinnen, die beide einer Einladung folgen. Der Diener Theodor war ursprünglich der Diener des Sohnes. Er war mit der Vorgangsweise des jungen Mannes nicht einverstanden und wechselte in seiner Dienerschaft zur Mutter, der Baronin. Die vielen Verhältnisse und der Umgang des jungen Mannes stören ihn aber und er will sich rächen. Er kündigt auch seine Stellung bei der Baronin, die im Zuge des bevorstehenden Festes in Probleme kommt und um ihren Diener wirbt, damit er seine Kündigung zurückzieht. Dieser macht aus dem Notstand der Herrin einen Vorteil für sich und verlangt, dass sie ihm – sollte er wieder in seine Dienste eintreten – freie Hand in seinem Handeln bekomme. Sie stimmt zu. Sie müsse vor versammelter Mannschaft sagen „Und sie, lieber Theodor, übernehmen jetzt wieder die Aufsicht über das Ganze.“
Mit diesem Satz lässt Theodor allen seine Macht spüren und macht sich an die Auflösung der Beziehungen seines Ex-Chefs, dem Sohn der Baronin.
Das Stück endet sehr kitschig: die beiden Liebhaberinnen reisen auf geheiß des Dieners ab und das junge Ehepaar findet sich wieder. Eine populistisch romantisch kitschige Geschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts, wie sie von einem populistischen Modeschriftsteller geschrieben wurde.
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Ein Lustspiel in fünf Akten, dass der, durch das Stück „Jedermann“ bekannt gewordene Schriftsteller im Alter von 50 Jahren geschrieben hat. Er war schon ein anerkannter und berühmter Autor und widmete sich mit dem vorliegenden Stück der Beschreibung der „besseren Gesellschaft“.
Das Stück entstand vor 100 Jahren. Da war die Welt noch eine andere. Eine adlige und reiche Familie empfängt Gäste. Man hat viel Personal: einen Diener, Kutscher, Stubenmädchen etc.
Das Menschliche dieser Gesellschaft ist aber so wie heute. Der Sohn der Baronin ist jung verheiratet und hat zwei kleine Kinder. Daneben hat er zwei Freundinnen, die beide einer Einladung folgen. Der Diener Theodor war ursprünglich der Diener des Sohnes. Er war mit der Vorgangsweise des jungen Mannes nicht einverstanden und wechselte in seiner Dienerschaft zur Mutter, der Baronin. Die vielen Verhältnisse und der Umgang des jungen Mannes stören ihn aber und er will sich rächen. Er kündigt auch seine Stellung bei der Baronin, die im Zuge des bevorstehenden Festes in Probleme kommt und um ihren Diener wirbt, damit er seine Kündigung zurückzieht. Dieser macht aus dem Notstand der Herrin einen Vorteil für sich und verlangt, dass sie ihm – sollte er wieder in seine Dienste eintreten – freie Hand in seinem Handeln bekomme. Sie stimmt zu. Sie müsse vor versammelter Mannschaft sagen „Und sie, lieber Theodor, übernehmen jetzt wieder die Aufsicht über das Ganze.“
Mit diesem Satz lässt Theodor allen seine Macht spüren und macht sich an die Auflösung der Beziehungen seines Ex-Chefs, dem Sohn der Baronin.
Das Stück endet sehr kitschig: die beiden Liebhaberinnen reisen auf geheiß des Dieners ab und das junge Ehepaar findet sich wieder. Eine populistisch romantisch kitschige Geschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts, wie sie von einem populistischen Modeschriftsteller geschrieben wurde.
SARGNAGEL, Stefanie
Dicht - Aufzeichnungen einer Tagesdiebin Buch
2022.
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title = {Dicht - Aufzeichnungen einer Tagesdiebin},
author = {Stefanie SARGNAGEL},
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abstract = {SARGNAGEL, Stefanie: „Dicht – Aufzeichnungen einer Tagediebin“, Hamburg 2022
Schon länger habe ich mir vorgenommen ein Buch von dieser aufstrebenden österreichischen Schriftstellerin zu lesen. „Dicht – Aufzeichnungen einer Tagediebin“ ist ihr erster Roman, der im Jahr 2020 erschien. Hier stellt sie – sehr autofiktional – ihr eigenes Leben während ihrer Gymnasialzeit im Wiener Bezirk Währing dar. Als Leser betritt man beim Lesen eine Welt, die viele nicht kennen. Die Autorin trifft mit Drogenabhängigen, Unterstandslosen, AIDS-Infizierten und Menschen aus der untersten Gesellschaftsschicht zusammen. Sie öffnet damit ein Fenster zu einer Welt, zu der viele Leser im realen Leben keinen Zugang haben. Anhand von Einzelpersonen zeigt sie Gesellschaftsschichten auf. Hier erinnert sie mich an den schwedischen Dichter Henning Mankel, der sagte „Die Gesellschaft wird durch Millionen von Gesprächen gebildet. Wenn ein Mensch seine Geschichte erzählen kann, wird er Teil einer Gesellschaft. Wem man nicht zuhört, der existiert nicht.“
Die erzählende Person des Buches ist Stefanie, die Autorin selbst. Die Ankerperson, um die sich die anderen handelnden Personen ranken ist Michi. Alle treffen sich in dessen Wohnung. Er sorgt sich um alle. Im Buch wird seine Werdegang von der Selbstständigkeit hin zum Bewohner eines jüdischen Altersheims und bis zum Tod beschrieben. Michi war für Stefanie ein prägender Mensch. Das spürt man beim Lesen.
Von vielen Experten wird der Schriftstellerin eine große Zukunft prophezeit. So auch von Elfriede Jelinek, die da sagte „Das es so was noch gibt, ich glaub´s nicht! Ein wirklich neuer Ton in der Literatur. Hier ist er.“
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Schon länger habe ich mir vorgenommen ein Buch von dieser aufstrebenden österreichischen Schriftstellerin zu lesen. „Dicht – Aufzeichnungen einer Tagediebin“ ist ihr erster Roman, der im Jahr 2020 erschien. Hier stellt sie – sehr autofiktional – ihr eigenes Leben während ihrer Gymnasialzeit im Wiener Bezirk Währing dar. Als Leser betritt man beim Lesen eine Welt, die viele nicht kennen. Die Autorin trifft mit Drogenabhängigen, Unterstandslosen, AIDS-Infizierten und Menschen aus der untersten Gesellschaftsschicht zusammen. Sie öffnet damit ein Fenster zu einer Welt, zu der viele Leser im realen Leben keinen Zugang haben. Anhand von Einzelpersonen zeigt sie Gesellschaftsschichten auf. Hier erinnert sie mich an den schwedischen Dichter Henning Mankel, der sagte „Die Gesellschaft wird durch Millionen von Gesprächen gebildet. Wenn ein Mensch seine Geschichte erzählen kann, wird er Teil einer Gesellschaft. Wem man nicht zuhört, der existiert nicht.“
Die erzählende Person des Buches ist Stefanie, die Autorin selbst. Die Ankerperson, um die sich die anderen handelnden Personen ranken ist Michi. Alle treffen sich in dessen Wohnung. Er sorgt sich um alle. Im Buch wird seine Werdegang von der Selbstständigkeit hin zum Bewohner eines jüdischen Altersheims und bis zum Tod beschrieben. Michi war für Stefanie ein prägender Mensch. Das spürt man beim Lesen.
Von vielen Experten wird der Schriftstellerin eine große Zukunft prophezeit. So auch von Elfriede Jelinek, die da sagte „Das es so was noch gibt, ich glaub´s nicht! Ein wirklich neuer Ton in der Literatur. Hier ist er.“
CUKIER, Kenneth; MAYER-SCHÖNBERGER, Viktor; de VERICOURT, Francis
2022.
@book{CUKIER2022,
title = {FRAMERS – Wie wir bessere Entscheidungen treffen und warum uns Maschinen um diese Stärke immer beneiden werden},
author = {Kenneth CUKIER and Viktor MAYER-SCHÖNBERGER and Francis de VERICOURT},
year = {2022},
date = {2022-01-14},
abstract = {CUKIER, Kenneth; MAYER-SCHÖNBERGER, Viktor; VERICOURT, Francis de: „FRAMERS – Wie wir bessere Entscheidungen treffen und warum uns Maschinen um diese Stärke immer beneiden werden“, München 2022
Eine, im Untertitel gewagte Aussage. Der Chef von IBM sagte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, dass unsere Welt maximal 3 Computer benötigt. Das erscheint heute lächerlich. Ob es diesem Buch auch einmal so gehen wird? Die Autoren liefern aber interessante Ansätze zum Nachdenken.
Frames werden mit drei Dimensionen definiert:
• kausales Schlussfolgern
• kontrafaktisches Träumen
• Fokusierung der Vorstellungen
Jeder Mensch hat „Frames“ im Kopf. Sie können vorgefertigte, oft verwendete oder neu definierte, erfundene sein.
Dem Computer und der künstlichen Intelligenz wird eine Abfuhr erteilt: „Wir Menschen werden schlauer, weil wir es verstehen, von den Errungenschaften der künstlichen Intelligenz zu lernen. Die Bedeutung des Lernens zu ermessen und das Gelernte entsprechend anzuwenden, ist etwas, wozu künstliche Intelligenz selbst nicht in der Lage ist.“ (Seite 27)
Im Grunde genommen beschreiben die Autoren mit „Frames“ etwas, was es immer schon gab und immer schon angewendet wurde, nur hatte es andere Namen wie „Modelle“, „vorgefertigte Denkmuster“. Diese basierten auf eigenen Erfahrungen oder waren in die Zukunft gerichtete neue Ideen. Bei diesen Vorgangsweisen werden auch der österreichische Bergsteiger Messner und Habeler vorgestellt, die den Stil des Klettern verändert haben. Sie waren die ersten, die den höchsten Berg der Welt ohne Sauerstoffflaschen bestiegen haben.
Nun, „die Bereitschafft, Althergebrachtes infrage zu stellen und neue kognitive Wege zu gehen“ (Seite 146) war immer schon eine wichtige Prämisse, auch wenn sie noch nicht „Frame“ genannt wurde.
Veränderungen gab es auch in Zyklen, wie etwa nach den „ausgelassenen“ 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, die sehr viel Neues hervorbrachten, folgten in vielen Ländern zentralistische Diktaturen. Der Pluralismus der Gesellschaft wurde zurückgedrängt und vieles gleichgeschalten.
Das Buch beschäftigt sich mit Situationen aus der Vergangenheit, anhand derer die Funktion der „Frames“ beschrieben wurden. So greifen die Autoren auf den Mediziner Semmelweis oder die israelische Armee bei der Befreiung von Geiseln in Mogadischu zurück. Auch der österreichische Weinskandal und die darauffolgende Veränderung auf Qualitätswein kamen ins Buch, weil die Weinbauern ihre Frames verändert haben und von Quantität auf Qualität umgeschwenkt sind.
In die Zukunft wird ganz am Schluss geblickt. Wie soll ein Framer des 21. Jahrhunderts aussehen? „Gepflegt und gefördert werden muss die geistige Beweglichkeit, die uns die unausgesprochene Idee, das unartikulierte Ideal die latente Vorstellung und potenzielle neue Wirklichkeit begreifen lässt. Damit Framing erfolgreich ist, brauchen wir Agilität im Kopf.“ (Seite 223) Viele Schwierigkeiten, wie der Klimakonflikt, wirtschaftliche Ungleichheit, Pandemien, Populismus, algorithmischer Autoritarismus lägen noch vor uns. Nach einem halben Jahrhundert des bequemlichen Lebens mit Stabilität geht die Menschheit neuen Zielen entgegen.
Zum Schluss bieten die Autoren eine „Anleitung zum Arbeiten mit Frames“.
Es ist kein wissenschaftliches Buch, sondern ein populärwissenschaftliches, das aber leicht zu lesen und gut verständlich ist.
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Eine, im Untertitel gewagte Aussage. Der Chef von IBM sagte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, dass unsere Welt maximal 3 Computer benötigt. Das erscheint heute lächerlich. Ob es diesem Buch auch einmal so gehen wird? Die Autoren liefern aber interessante Ansätze zum Nachdenken.
Frames werden mit drei Dimensionen definiert:
• kausales Schlussfolgern
• kontrafaktisches Träumen
• Fokusierung der Vorstellungen
Jeder Mensch hat „Frames“ im Kopf. Sie können vorgefertigte, oft verwendete oder neu definierte, erfundene sein.
Dem Computer und der künstlichen Intelligenz wird eine Abfuhr erteilt: „Wir Menschen werden schlauer, weil wir es verstehen, von den Errungenschaften der künstlichen Intelligenz zu lernen. Die Bedeutung des Lernens zu ermessen und das Gelernte entsprechend anzuwenden, ist etwas, wozu künstliche Intelligenz selbst nicht in der Lage ist.“ (Seite 27)
Im Grunde genommen beschreiben die Autoren mit „Frames“ etwas, was es immer schon gab und immer schon angewendet wurde, nur hatte es andere Namen wie „Modelle“, „vorgefertigte Denkmuster“. Diese basierten auf eigenen Erfahrungen oder waren in die Zukunft gerichtete neue Ideen. Bei diesen Vorgangsweisen werden auch der österreichische Bergsteiger Messner und Habeler vorgestellt, die den Stil des Klettern verändert haben. Sie waren die ersten, die den höchsten Berg der Welt ohne Sauerstoffflaschen bestiegen haben.
Nun, „die Bereitschafft, Althergebrachtes infrage zu stellen und neue kognitive Wege zu gehen“ (Seite 146) war immer schon eine wichtige Prämisse, auch wenn sie noch nicht „Frame“ genannt wurde.
Veränderungen gab es auch in Zyklen, wie etwa nach den „ausgelassenen“ 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, die sehr viel Neues hervorbrachten, folgten in vielen Ländern zentralistische Diktaturen. Der Pluralismus der Gesellschaft wurde zurückgedrängt und vieles gleichgeschalten.
Das Buch beschäftigt sich mit Situationen aus der Vergangenheit, anhand derer die Funktion der „Frames“ beschrieben wurden. So greifen die Autoren auf den Mediziner Semmelweis oder die israelische Armee bei der Befreiung von Geiseln in Mogadischu zurück. Auch der österreichische Weinskandal und die darauffolgende Veränderung auf Qualitätswein kamen ins Buch, weil die Weinbauern ihre Frames verändert haben und von Quantität auf Qualität umgeschwenkt sind.
In die Zukunft wird ganz am Schluss geblickt. Wie soll ein Framer des 21. Jahrhunderts aussehen? „Gepflegt und gefördert werden muss die geistige Beweglichkeit, die uns die unausgesprochene Idee, das unartikulierte Ideal die latente Vorstellung und potenzielle neue Wirklichkeit begreifen lässt. Damit Framing erfolgreich ist, brauchen wir Agilität im Kopf.“ (Seite 223) Viele Schwierigkeiten, wie der Klimakonflikt, wirtschaftliche Ungleichheit, Pandemien, Populismus, algorithmischer Autoritarismus lägen noch vor uns. Nach einem halben Jahrhundert des bequemlichen Lebens mit Stabilität geht die Menschheit neuen Zielen entgegen.
Zum Schluss bieten die Autoren eine „Anleitung zum Arbeiten mit Frames“.
Es ist kein wissenschaftliches Buch, sondern ein populärwissenschaftliches, das aber leicht zu lesen und gut verständlich ist.
SCHLINK, Bernhard
Die Enkelin Buch
2022.
@book{SCHLINK2022,
title = {Die Enkelin},
author = {Bernhard SCHLINK},
year = {2022},
date = {2022-01-07},
abstract = {SCHLINK, Bernhard: „Die Enkelin“, Zürich 2021
Eine Geschichte, die zwischen Ost- und Westberlin spielt. Der in Westberlin studierende Kaspar lernt ein Mädchen in Ostberlin kennen, verliebt sich in sie und verhilft ihr zur Flucht in den Westen. Er bricht sein Studium ab, um einen Lebensunterhalt für seine Ehe zu verdienen und wird Buchhändler. Später kaufen sie eine eigene Buchhandlung und eine schöne Wohnung. Die Frau aus dem Osten schafft es nicht in der westlichen Gesellschaft richtig Fuß zu fassen. Sie bricht ihr Studium ab, versucht verschiedene Berufe, nimmt sich eine Auszeit in Indien und lebt zurückgezogen in ihrem Zimmer, wo sie an einem Roman schreibt, von dem ihr Mann erst nach deren Tod Kenntnis bekommt. Darin offenbart sie sich und ihre Probleme. Sie hatte vor ihrem Ehemann eine Freundschaft in Ostberlin und bekam ein Kind, das sie weglegen ließ. Sie wollte es finden, war sich aber nicht sicher und hatte Angst. Im Alter von 70 Jahren übernimmt dann der Witwer diese Rolle und sucht nach der verlorenen Tochter. Über Umwege findet er sie. Sie wurde als Neugeborene von der Freundin der Frau beim leiblichen Vater abgegeben und aufgezogen. Aus dieser Familie bricht sie aus und taucht in zwielichtigen Verhältnissen unter. Sie heiratet einen aus der Gang und gründen einen Bauernhof im Sinne einer völkischen Gemeinschaft. Ihre Tochter – die Stief-Enkelin – wird nationalsozialistisch erzogen. Ihr widmet der Roman einen wesentlichen Teil. Als Kaspar die Familie seiner Stieftochter gefunden hat, täuscht er ein Testament seiner Frau vor; nennt Zahlungen (die er auch erfüllt) und den daran geknüpften Wunsch, dass das Enkelkind beim Stiefopa mehrmals im Jahr Zeit verbringen muss. Zum Aufbau des Bauernhofs braucht die junge Familie das Geld und stimmt zu. Da kamen zwei Welten zusammen, die nicht verschiedener sein könnten: das nationaldeutsch erzogene Mädchen und der bürgerliche Buchhändler. Der „Opa“ versucht sie zu verändern, schenkt ihr ein Klavier und organisiert Unterricht dafür. Auch literarisch wird sie beeinflusst und beginnt die, für sie neue Welt mit Konzert- und Museumsbesuchen zu geniessen. Das war aber nicht im Sinne des völkischen Vaters und dieser bricht die Beziehung. Die Tochter macht sich aber selbstständig und taucht in revolutionären Gruppen – wie seinerzeit ihre Mutter – unter. Als in diesem Kreis ein Mord verübt wird, kehrt sie zum Opa zurück, der auch bereit ist zu helfen. Sie aber verlässt in der Nacht die Wohnung des Großvaters mit dessen Kreditkarte. Wohin und wie ihr Leben weitergeht, muss aber jeder Leser, jede Leserin selbst lesen. Auch bei einem Kriminalroman wird der Mörder nicht vorab verraten.
Ein großartiger Roman, der sich in verschiedenen gesellschaftlichen Szenen bewegt:
• Das bürgerliche Buchhandlungsehepaar
• Der gesellschaftliche Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland
• Die Flucht der Frau, die aber die Verschiedenheit nicht löst
• Die völkisch Nationaldeutschen
• Die radikalen Jugendlichen
Alle Situationen werden von Schlink sachlich und am Beispiel von handelnden Personen dargestellt.
PS: Im erfundenen Testament verlangt Klaus nach Urlauben der Stiefenkelin bei ihm. Aber die Ehefrau konnte gar nicht wissen, dass es ein Enkelkind gab. Da hat der Dichter eine Lücke nicht geschlossen.
Aber trotz allem ein wunderbares Buch.
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Eine Geschichte, die zwischen Ost- und Westberlin spielt. Der in Westberlin studierende Kaspar lernt ein Mädchen in Ostberlin kennen, verliebt sich in sie und verhilft ihr zur Flucht in den Westen. Er bricht sein Studium ab, um einen Lebensunterhalt für seine Ehe zu verdienen und wird Buchhändler. Später kaufen sie eine eigene Buchhandlung und eine schöne Wohnung. Die Frau aus dem Osten schafft es nicht in der westlichen Gesellschaft richtig Fuß zu fassen. Sie bricht ihr Studium ab, versucht verschiedene Berufe, nimmt sich eine Auszeit in Indien und lebt zurückgezogen in ihrem Zimmer, wo sie an einem Roman schreibt, von dem ihr Mann erst nach deren Tod Kenntnis bekommt. Darin offenbart sie sich und ihre Probleme. Sie hatte vor ihrem Ehemann eine Freundschaft in Ostberlin und bekam ein Kind, das sie weglegen ließ. Sie wollte es finden, war sich aber nicht sicher und hatte Angst. Im Alter von 70 Jahren übernimmt dann der Witwer diese Rolle und sucht nach der verlorenen Tochter. Über Umwege findet er sie. Sie wurde als Neugeborene von der Freundin der Frau beim leiblichen Vater abgegeben und aufgezogen. Aus dieser Familie bricht sie aus und taucht in zwielichtigen Verhältnissen unter. Sie heiratet einen aus der Gang und gründen einen Bauernhof im Sinne einer völkischen Gemeinschaft. Ihre Tochter – die Stief-Enkelin – wird nationalsozialistisch erzogen. Ihr widmet der Roman einen wesentlichen Teil. Als Kaspar die Familie seiner Stieftochter gefunden hat, täuscht er ein Testament seiner Frau vor; nennt Zahlungen (die er auch erfüllt) und den daran geknüpften Wunsch, dass das Enkelkind beim Stiefopa mehrmals im Jahr Zeit verbringen muss. Zum Aufbau des Bauernhofs braucht die junge Familie das Geld und stimmt zu. Da kamen zwei Welten zusammen, die nicht verschiedener sein könnten: das nationaldeutsch erzogene Mädchen und der bürgerliche Buchhändler. Der „Opa“ versucht sie zu verändern, schenkt ihr ein Klavier und organisiert Unterricht dafür. Auch literarisch wird sie beeinflusst und beginnt die, für sie neue Welt mit Konzert- und Museumsbesuchen zu geniessen. Das war aber nicht im Sinne des völkischen Vaters und dieser bricht die Beziehung. Die Tochter macht sich aber selbstständig und taucht in revolutionären Gruppen – wie seinerzeit ihre Mutter – unter. Als in diesem Kreis ein Mord verübt wird, kehrt sie zum Opa zurück, der auch bereit ist zu helfen. Sie aber verlässt in der Nacht die Wohnung des Großvaters mit dessen Kreditkarte. Wohin und wie ihr Leben weitergeht, muss aber jeder Leser, jede Leserin selbst lesen. Auch bei einem Kriminalroman wird der Mörder nicht vorab verraten.
Ein großartiger Roman, der sich in verschiedenen gesellschaftlichen Szenen bewegt:
• Das bürgerliche Buchhandlungsehepaar
• Der gesellschaftliche Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland
• Die Flucht der Frau, die aber die Verschiedenheit nicht löst
• Die völkisch Nationaldeutschen
• Die radikalen Jugendlichen
Alle Situationen werden von Schlink sachlich und am Beispiel von handelnden Personen dargestellt.
PS: Im erfundenen Testament verlangt Klaus nach Urlauben der Stiefenkelin bei ihm. Aber die Ehefrau konnte gar nicht wissen, dass es ein Enkelkind gab. Da hat der Dichter eine Lücke nicht geschlossen.
Aber trotz allem ein wunderbares Buch.
STOLLEIS, Michael
Was ist ein Name? Buch
2022.
@book{STOLLEIS2022,
title = {Was ist ein Name?},
author = {Michael STOLLEIS},
year = {2022},
date = {2022-01-01},
abstract = {STOLLEIS, Michael: „Was ist ein Name?“, Zürich 2021
Es begann in der Frühzeit, dass der Mensch alles mit einem Namen versehen hat. Historisch finde man schon im Alten Testament, dass die Schöpfung benannt wurde: Erde und Meer. „Indem die Menschen seit unvordenklichen Zeiten ihre Welt benannt, klassifiziert und geordnet haben, haben sie sich die Welt „untertan gemacht“. Benennen wird so auch faktisches beherrschen.“ (Seite 10) Ausgehend vom 16. Jahrhundert bis in unsere heutige Zeit wird – nicht nur in Diktaturen – über Namensgebung die Staatsgewalt ausgeweitet und konzentriert. Herrscher wie Maria Theresia von Österreich erkannten dies und nützten es. Zunehmend wurde neben dem Namen auch die Bezifferung, die Vernummerung wichtig, um mehr Details zu besitzen. Unter diesem Motto führte diese österreichische Herrscherin das Grundbuch und die Meldepflicht der Menschen ein. Menschen änderten so ihre Zugehörigkeit; waren sie vor diesen Maßnahmen Untertanen von Klöstern oder Adeligen, wurden sie Staatsbürger, Untertanen des Staates. Das Kunstgebilde „Staat“ wurde immer perfekter und das Bedürfnis nach Ordnung, Klassifizierung und Nummern (Steuernummern, Krankenkassennummern, Rentenversicherungen etc) wurde größer. Namen werden mit Daten verknüpft und das benannte Objekt noch detaillierter aussagefähig. Aber auch „Nichtwissen“ wird durch Medien und wissenschaftlichen Institutionen verbreitet.
Speziell in revolutionären Zeiten wurden Dinge und Menschen umbenannt und oft für die Zukunft nicht mehr zugänglich. Neue Zeitrechnungen, Gewichtsmasse und die Existenz von Menschen wird so ausgelöscht oder verändert. „Politische Erst- und Umbenennungen ordnen die Welt immer wieder neu. Das gehört zum Wechsel der Generationen, ist ein Thema der modisch gewordenen political correctness oder auch einfach des Zeitgeistes.“ (Seite 20) Historische Ereignisse werden für die Zukunft erst durch Namensgebung und Vernummerung zu Fakten, die nicht immer den tatsächlichen Ereignissen entsprechen. Manche Dinge sind auch verkommen, wie etwa die Unterschrift. Musste diese in der Vergangenheit noch zusätzlich von einer dritten Person legitimiert werden, so ist sie zunehmend zu Ziffern verkümmert. Der Schwur vor Zeugen wurde zu einer publikumswirksamen Demonstration, wenn etwa Politiker ein Amt antreten.
Der Autor zeigt sehr strukturiert die Benennung unserer Welt auf. Einerseits mit Namensgebung und andererseits durch Bezifferung. Auch die Veränderungen und Umbenennungen haben historisch betrachtet eine große Bedeutung. Der Einfluss durch die Macht des Staats ist im Zunehmen. Demokratien versprachen die Freiheit und brachten eine neue Bindung an „gewählte“ Machthaber.
Abschließend möchte ich den Autor noch selbst zu Wort kommen lassen, wenn er da schreibt: „Ob der Mensch seine Identität durch eine (fälschbare) Unterschrift, durch das (unzuverlässige) Passbild, durch den Maschinenblick in die Iris, durch Spracherkennung oder durch einen unter die Haut gepflanzten Chip nachzuweisen hat: Der enorm technische Aufwand, den wir heute treiben, um uns zu vergewissern, wer derjenige ist, mit dem wir kommunizieren, ist mit der Komplexität unserer Lebensverhältnisse und der Vervielfältigung technischer Möglichkeiten gewachsen. Die reale Person, die man kennt und auf deren Unterschrift man sich verlässt wird zum blassen Schemen. Die eigentliche Identität vermittelt nun der mit Zertifikat gesicherte Datenschlüssel oder die maschinelle Prüfung. Die Entzauberung scheint kein Ende zu haben.“ (Seite 52)
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Es begann in der Frühzeit, dass der Mensch alles mit einem Namen versehen hat. Historisch finde man schon im Alten Testament, dass die Schöpfung benannt wurde: Erde und Meer. „Indem die Menschen seit unvordenklichen Zeiten ihre Welt benannt, klassifiziert und geordnet haben, haben sie sich die Welt „untertan gemacht“. Benennen wird so auch faktisches beherrschen.“ (Seite 10) Ausgehend vom 16. Jahrhundert bis in unsere heutige Zeit wird – nicht nur in Diktaturen – über Namensgebung die Staatsgewalt ausgeweitet und konzentriert. Herrscher wie Maria Theresia von Österreich erkannten dies und nützten es. Zunehmend wurde neben dem Namen auch die Bezifferung, die Vernummerung wichtig, um mehr Details zu besitzen. Unter diesem Motto führte diese österreichische Herrscherin das Grundbuch und die Meldepflicht der Menschen ein. Menschen änderten so ihre Zugehörigkeit; waren sie vor diesen Maßnahmen Untertanen von Klöstern oder Adeligen, wurden sie Staatsbürger, Untertanen des Staates. Das Kunstgebilde „Staat“ wurde immer perfekter und das Bedürfnis nach Ordnung, Klassifizierung und Nummern (Steuernummern, Krankenkassennummern, Rentenversicherungen etc) wurde größer. Namen werden mit Daten verknüpft und das benannte Objekt noch detaillierter aussagefähig. Aber auch „Nichtwissen“ wird durch Medien und wissenschaftlichen Institutionen verbreitet.
Speziell in revolutionären Zeiten wurden Dinge und Menschen umbenannt und oft für die Zukunft nicht mehr zugänglich. Neue Zeitrechnungen, Gewichtsmasse und die Existenz von Menschen wird so ausgelöscht oder verändert. „Politische Erst- und Umbenennungen ordnen die Welt immer wieder neu. Das gehört zum Wechsel der Generationen, ist ein Thema der modisch gewordenen political correctness oder auch einfach des Zeitgeistes.“ (Seite 20) Historische Ereignisse werden für die Zukunft erst durch Namensgebung und Vernummerung zu Fakten, die nicht immer den tatsächlichen Ereignissen entsprechen. Manche Dinge sind auch verkommen, wie etwa die Unterschrift. Musste diese in der Vergangenheit noch zusätzlich von einer dritten Person legitimiert werden, so ist sie zunehmend zu Ziffern verkümmert. Der Schwur vor Zeugen wurde zu einer publikumswirksamen Demonstration, wenn etwa Politiker ein Amt antreten.
Der Autor zeigt sehr strukturiert die Benennung unserer Welt auf. Einerseits mit Namensgebung und andererseits durch Bezifferung. Auch die Veränderungen und Umbenennungen haben historisch betrachtet eine große Bedeutung. Der Einfluss durch die Macht des Staats ist im Zunehmen. Demokratien versprachen die Freiheit und brachten eine neue Bindung an „gewählte“ Machthaber.
Abschließend möchte ich den Autor noch selbst zu Wort kommen lassen, wenn er da schreibt: „Ob der Mensch seine Identität durch eine (fälschbare) Unterschrift, durch das (unzuverlässige) Passbild, durch den Maschinenblick in die Iris, durch Spracherkennung oder durch einen unter die Haut gepflanzten Chip nachzuweisen hat: Der enorm technische Aufwand, den wir heute treiben, um uns zu vergewissern, wer derjenige ist, mit dem wir kommunizieren, ist mit der Komplexität unserer Lebensverhältnisse und der Vervielfältigung technischer Möglichkeiten gewachsen. Die reale Person, die man kennt und auf deren Unterschrift man sich verlässt wird zum blassen Schemen. Die eigentliche Identität vermittelt nun der mit Zertifikat gesicherte Datenschlüssel oder die maschinelle Prüfung. Die Entzauberung scheint kein Ende zu haben.“ (Seite 52)
2021
SCHMITT, Eric Emmanuel (Hrsg.)
Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin Buch
2021.
@book{SCHMITT2021,
title = {Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin},
editor = {Eric Emmanuel SCHMITT},
year = {2021},
date = {2021-12-29},
abstract = {SCHMITT, Eric Emmanuel: „Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin“, München 2021
Ein Buch, das Chopin und seine Musik näher bringt. Aber es ist kein historisches und kein musikwissenschaftliches Buch, sondern ist in die heutige Zeit gesetzt. Im Haushalt der Familie von Eric steht ein Klavier. Es ist praktisch nicht benützt, bis eine Großtante zu Besuch kommt und auf diesem Klavier Chopin spielt. Der damals 11-jährige ist begeistert und beginnt Klavierunterricht zu nehmen. Er will so spielen können wie die Großtante. Es gelingt aber nicht. Als er nach Paris zum Studium übersiedelt nimmt er einen neuen Anlauf. Er bekommt Klavierunterricht bei der Polin Pylinska. Gleich nach Beginn fragt sie ihn, ob er „Polytheist“ sei. Sie selbst sei nur „Monotheistin“, weil sie nur Chopin spiele. Es wird ein ungewöhnlicher Unterricht, der über das reine Klavierspiel hinaus geht. Sie bringt ihm Chopin näher, ordnet aber auch sein Leben. Liebevoll erklärt sie, was Chopin ausdrücken wollte. Wenn es um den internationalen Chopinwettbewerb geht ist sie kritisch „… nichts als lauter Möchtegernchopins, müder Abklatsch, Chopiniewskys!“ (Seite 58) Sie definiert dann auch die verschiedenen Typen von Chopin-Interpreten. Aber auch die Komponisten stellt sie sehr anschaulich dar. Bei Bach meint sie „Bach war ein Zeichner. Chopin ein Maler. … Bach bietet Bleistiftzeichnungen, die man kolorieren kann. Chopin nicht. Im Grunde hat seine Technik etwas Aquarellartiges“ (Seite 19)
Der Autor des Buchs schafft es das Verhältnis Chopins zu Polen in wenigen Sätzen zu beschreiben: „Chopin ist 1830 aus Polen geflohen, unmittelbar vor dem Aufstand gegen Russland. Weil es Polen seit 1795, als sein Terretorium zwischen drei Ländern aufgeteilt worden war, nicht mehr auf der Karte gab, hat Chopins Musik die polnische Nation verkörpert. Polen, das war ein Jahrhundert lang Chopin. Er hielt die Flamme aus der Ferne am Brennen, indem er ihr in seinen Mazurken oder Polonaisen ein ruhmreiches ewiges Leben schenkte. 1918 ist Polen wieder Polen geworden, aber nicht für lange, denn die Nazis haben es besetzt und Chopin verboten. Man riskierte Gefängnis, wenn man ein Nocturne anhörte; man kam sonntagnachmittags heimlich in Wohnungen zusammen, um über seine Töne das gedemütigte Vaterland zurückzuerobern. Danach ist der Kommunismus herangebrandet, eine neue russische Geisel deutschen Ursprungs … „ (Seite 86) Als die Klavierlehrerin Frankreich verlässt, um in ihre polnische Heimat zurückzukehren, endet der Unterricht. Jahrzehnte später – Eric ist ein anerkannter Schriftsteller geworden – trifft er sie bei einer Lesung in Polen wieder. Reporter befragen die Dame über das Klavierspiel des Schriftstellers. Sie aber bleibt diplomatisch und er spielt weiter Klavier.
Es ist ein kleines Buch, das leicht und angenehm zu lesen ist. Der Autor – Eric Emmanuel Schmitt - ist ein international anerkannter französischer Schriftsteller. 2004 erhielt er unter anderem den Deutschen Bücherpreis. Er ist es, der die Brücke Chopins zwischen Polen und Frankreich schlägt.
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Ein Buch, das Chopin und seine Musik näher bringt. Aber es ist kein historisches und kein musikwissenschaftliches Buch, sondern ist in die heutige Zeit gesetzt. Im Haushalt der Familie von Eric steht ein Klavier. Es ist praktisch nicht benützt, bis eine Großtante zu Besuch kommt und auf diesem Klavier Chopin spielt. Der damals 11-jährige ist begeistert und beginnt Klavierunterricht zu nehmen. Er will so spielen können wie die Großtante. Es gelingt aber nicht. Als er nach Paris zum Studium übersiedelt nimmt er einen neuen Anlauf. Er bekommt Klavierunterricht bei der Polin Pylinska. Gleich nach Beginn fragt sie ihn, ob er „Polytheist“ sei. Sie selbst sei nur „Monotheistin“, weil sie nur Chopin spiele. Es wird ein ungewöhnlicher Unterricht, der über das reine Klavierspiel hinaus geht. Sie bringt ihm Chopin näher, ordnet aber auch sein Leben. Liebevoll erklärt sie, was Chopin ausdrücken wollte. Wenn es um den internationalen Chopinwettbewerb geht ist sie kritisch „… nichts als lauter Möchtegernchopins, müder Abklatsch, Chopiniewskys!“ (Seite 58) Sie definiert dann auch die verschiedenen Typen von Chopin-Interpreten. Aber auch die Komponisten stellt sie sehr anschaulich dar. Bei Bach meint sie „Bach war ein Zeichner. Chopin ein Maler. … Bach bietet Bleistiftzeichnungen, die man kolorieren kann. Chopin nicht. Im Grunde hat seine Technik etwas Aquarellartiges“ (Seite 19)
Der Autor des Buchs schafft es das Verhältnis Chopins zu Polen in wenigen Sätzen zu beschreiben: „Chopin ist 1830 aus Polen geflohen, unmittelbar vor dem Aufstand gegen Russland. Weil es Polen seit 1795, als sein Terretorium zwischen drei Ländern aufgeteilt worden war, nicht mehr auf der Karte gab, hat Chopins Musik die polnische Nation verkörpert. Polen, das war ein Jahrhundert lang Chopin. Er hielt die Flamme aus der Ferne am Brennen, indem er ihr in seinen Mazurken oder Polonaisen ein ruhmreiches ewiges Leben schenkte. 1918 ist Polen wieder Polen geworden, aber nicht für lange, denn die Nazis haben es besetzt und Chopin verboten. Man riskierte Gefängnis, wenn man ein Nocturne anhörte; man kam sonntagnachmittags heimlich in Wohnungen zusammen, um über seine Töne das gedemütigte Vaterland zurückzuerobern. Danach ist der Kommunismus herangebrandet, eine neue russische Geisel deutschen Ursprungs … „ (Seite 86) Als die Klavierlehrerin Frankreich verlässt, um in ihre polnische Heimat zurückzukehren, endet der Unterricht. Jahrzehnte später – Eric ist ein anerkannter Schriftsteller geworden – trifft er sie bei einer Lesung in Polen wieder. Reporter befragen die Dame über das Klavierspiel des Schriftstellers. Sie aber bleibt diplomatisch und er spielt weiter Klavier.
Es ist ein kleines Buch, das leicht und angenehm zu lesen ist. Der Autor – Eric Emmanuel Schmitt - ist ein international anerkannter französischer Schriftsteller. 2004 erhielt er unter anderem den Deutschen Bücherpreis. Er ist es, der die Brücke Chopins zwischen Polen und Frankreich schlägt.
HOPPE, Felicitas
Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm Buch
2021.
@book{HOPPE2021,
title = {Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm},
author = {Felicitas HOPPE},
year = {2021},
date = {2021-12-28},
abstract = {HOPPE, Felicitas: „Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm“, Frankfurt 2021
Im Rahmen der „Europäischen Literaturtage“ in Krems hatte die Autorin aus ihrem Buch gelesen. Es klang spannend und neu. Beim Selbstlesen wurde es aber schwieriger. Es ist ein schwieriger Text. Er setzt die Kenntnis des Original-Nibelungenliedes voraus. Auch stilistisch ist es aus der Zeit gefallen, aber literarisch sicher neu und gut. Das Stück ist, wie die Beschreibung einer Theateraufführung aufgebaut. In den einzelnen Akten wird der Hergang beschrieben, wobei eben auf die neuzeitliche Aufführung auf einer Freilichtbühne Bezug genommen wird.
Der erste Akt, der sich „Der Rhein“ nennt , spielt in Worm. Es geht um Differenzen und Konflikte, wie etwa zwischen Brunhild und Kriemhild; zwischen den Männern Hagen und Siegfried, ja auch um die Unterschiede der Flüsse Rhein und Donau.
Wie bei einer Fernsehübertragung werden in der Pause Interviews mit den Schauspielern geführt. Dabei wird ein Bezug zwischen der Rolle des jeweiligen Schauspielers/Schauspielerin zu ihrer Person hergestellt. Brunhild wird etwa nicht nur nach ihrer Rolle der starken Frau beschrieben, sondern auch als atheltische und sportliche Person.
Spielt der erste Akt am Rhein, so ist der zweite an der Donau. Nach der zweiten Pause, in der wieder Schauspieler befragt werden, kommt ein Akt, der sich „Die Klage“ nennt. Nach dem vorangegangenen Gemetzel, bei dem die meisten Darsteller sterben, hält König Etzel Gericht. Der Berichterstatter für dieses Buch wird zur Rede gestellt. Er war verliebt und es wurde ihm „der größte Auftrag erteilt: die Geschichte der Nibelungen niederzuschreiben.“ (Seite 243) Nur Brunhild ist dem Gemetzel entgangen „Denn während alle anderen unterwegs in den Untergang waren, ist Brunhild einfach zu Hause geblieben.“ (Seite 246)
Indirekt kritisiert die Autorin ihre Arbeit, indem sie schreibt „Und weil in der Nibelungenwerkstatt diese fadenscheinigen Schriftsteller sitzen, die immer noch glauben, das Original reiche nicht aus und müsse für die Festspiele auf neuesten Stand gebracht werden. Dabei sind wir uns schon seit Jahren einig darüber, dass das Original nicht tu toppen ist.“ (Seite 100) Vielleicht war es auch ein Anreiz dieses Stück zu schreiben, weil das Original viele nicht gelesen oder nicht verstanden haben. In den Pauseninterviews legt sie einem Schauspieler das in den Mund: „Kein Einziger von uns kann ihnen sagen, worum es in diesem Stück wirklich geht, aber wir lieben es alle. Wir leben davon, dass wir es nicht verstehen.“ (Seite 84)
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Im Rahmen der „Europäischen Literaturtage“ in Krems hatte die Autorin aus ihrem Buch gelesen. Es klang spannend und neu. Beim Selbstlesen wurde es aber schwieriger. Es ist ein schwieriger Text. Er setzt die Kenntnis des Original-Nibelungenliedes voraus. Auch stilistisch ist es aus der Zeit gefallen, aber literarisch sicher neu und gut. Das Stück ist, wie die Beschreibung einer Theateraufführung aufgebaut. In den einzelnen Akten wird der Hergang beschrieben, wobei eben auf die neuzeitliche Aufführung auf einer Freilichtbühne Bezug genommen wird.
Der erste Akt, der sich „Der Rhein“ nennt , spielt in Worm. Es geht um Differenzen und Konflikte, wie etwa zwischen Brunhild und Kriemhild; zwischen den Männern Hagen und Siegfried, ja auch um die Unterschiede der Flüsse Rhein und Donau.
Wie bei einer Fernsehübertragung werden in der Pause Interviews mit den Schauspielern geführt. Dabei wird ein Bezug zwischen der Rolle des jeweiligen Schauspielers/Schauspielerin zu ihrer Person hergestellt. Brunhild wird etwa nicht nur nach ihrer Rolle der starken Frau beschrieben, sondern auch als atheltische und sportliche Person.
Spielt der erste Akt am Rhein, so ist der zweite an der Donau. Nach der zweiten Pause, in der wieder Schauspieler befragt werden, kommt ein Akt, der sich „Die Klage“ nennt. Nach dem vorangegangenen Gemetzel, bei dem die meisten Darsteller sterben, hält König Etzel Gericht. Der Berichterstatter für dieses Buch wird zur Rede gestellt. Er war verliebt und es wurde ihm „der größte Auftrag erteilt: die Geschichte der Nibelungen niederzuschreiben.“ (Seite 243) Nur Brunhild ist dem Gemetzel entgangen „Denn während alle anderen unterwegs in den Untergang waren, ist Brunhild einfach zu Hause geblieben.“ (Seite 246)
Indirekt kritisiert die Autorin ihre Arbeit, indem sie schreibt „Und weil in der Nibelungenwerkstatt diese fadenscheinigen Schriftsteller sitzen, die immer noch glauben, das Original reiche nicht aus und müsse für die Festspiele auf neuesten Stand gebracht werden. Dabei sind wir uns schon seit Jahren einig darüber, dass das Original nicht tu toppen ist.“ (Seite 100) Vielleicht war es auch ein Anreiz dieses Stück zu schreiben, weil das Original viele nicht gelesen oder nicht verstanden haben. In den Pauseninterviews legt sie einem Schauspieler das in den Mund: „Kein Einziger von uns kann ihnen sagen, worum es in diesem Stück wirklich geht, aber wir lieben es alle. Wir leben davon, dass wir es nicht verstehen.“ (Seite 84)
Fatland, Erika
Hoch oben. Eine Reise durch den Himalaya Buch
2021.
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title = {Hoch oben. Eine Reise durch den Himalaya},
author = {Erika Fatland},
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abstract = {FATLAND, Erika: „Hoch oben. Eine Reise durch den Himalaya“, Berlin 2021
„Wenn Jemand eine Reise tut, dann hat er was zum Erzählen“. Dieses Sprichwort ist für die Autorin des vorliegenden Buches zu wenig. Sie reiste allein durch alle Länder entlang des Himlaya. Sie ist eine Abenteuerin. Als ich sie bei den Europäischen Literaturtagen kennenlernen durfte, stand mir eine bescheidene junge Frau gegenüber. Man würde nicht vermuten, was sie alles erlebt hat. Auch in ihren Erzählungen wirkt sie bescheiden, aber ihr Buch quillt über von Neuigkeiten, Abenteuern und Erlebnissen. Die Länge der Reise – sie war ein Jahr lang unterwegs – schlägt sich auch im Umfang des Buches nieder: über 600 Seiten, die auf den Leser aber nicht langweilig wirken. Packend führt sie durch die verschiedenen Länder und gibt persönliche Erlebnisse wieder. Man fällt beim Lesen von einer Überraschung in die nächste. Man erlebt verschiedene Welten. Faitland meinte, dass sie 5 Länder bereiste, aber viele Kulturen erlebte. In fast jedem Tal eröffnete sich eine andere Lebensweise.
Man kommt durch Teeplantagen und vergangene Königreiche, die in angrenzente Länder wie Indien, Pakistan oder China aufgegangen sind. Viele der Grenzen sind noch nicht geklärt und auf der Landkarte strichliert eingezeichnet. Wichtig sind der Autorin die Menschen. Mit vielen hat sie Kontakt. Jeder Kontakt ergibt eine schöne Geschichte. Ob es sich um eine Prinzessin, eine Chauffeur oder einen Manager einer Plantage handelt: sie erzählen, wie sie leben.
Auch in die abgelegenen Täler kommen die neuen Technologien. Es „bahnen sich neue Straßen ihren Weg wie Lindwürmer aus schwarzem Asphalt, auf deren Rücken die Modernität reitet. Ich hatte es gesehen. Ich hatte die Abwanderung der Menschen gesehen und die Mobiltelefone, die in den Bergdörfern des Himalaya mit demgleichen verlockenden, öden Schein in dunklen Abenden leuchten wie überall, wo sich Jugendliche treffen. Alles verändert sich, immer. Das Kleine wird vom Großen geschluckt, kleine Königreiche verschwinden, enge geschlossene Täler öffnen sich, und die Welt strömt hinein, hier wie überall. In einem solchen Tal stoßen die Interessen eines Weltimperiums brutal auf die Interessen eines anderen, und was geschieht dann mit den Menschen, die in diesem Tal leben? … Das Kleine wird vom Großen geschluckt, aber das Kleine lebt weiter.“ (Seite 628/629) Aber trotz allem Eindringen von Modernität konnte Erika Fatland in abgelegenen Tälern, wo keine normalen Touristen hinkommen, noch das Ursprüngliche erleben und sehen. Kathmandu war, als ich Anfang der 1970er Jahre dort war noch ein unterentwickeltes Dorf. Die Landebahn des Flughafens war noch eine Wiese. Heute ist es eine moderne Stadt. Die Autorin ist aber hinaus gegangen in die kleinen und entlegenen Dörfer, um noch die alte Tradition einzufangen, solange es sie noch gibt. Großartig! Es ist ein dickes Buch, aber keine Seite ist zu viel.
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„Wenn Jemand eine Reise tut, dann hat er was zum Erzählen“. Dieses Sprichwort ist für die Autorin des vorliegenden Buches zu wenig. Sie reiste allein durch alle Länder entlang des Himlaya. Sie ist eine Abenteuerin. Als ich sie bei den Europäischen Literaturtagen kennenlernen durfte, stand mir eine bescheidene junge Frau gegenüber. Man würde nicht vermuten, was sie alles erlebt hat. Auch in ihren Erzählungen wirkt sie bescheiden, aber ihr Buch quillt über von Neuigkeiten, Abenteuern und Erlebnissen. Die Länge der Reise – sie war ein Jahr lang unterwegs – schlägt sich auch im Umfang des Buches nieder: über 600 Seiten, die auf den Leser aber nicht langweilig wirken. Packend führt sie durch die verschiedenen Länder und gibt persönliche Erlebnisse wieder. Man fällt beim Lesen von einer Überraschung in die nächste. Man erlebt verschiedene Welten. Faitland meinte, dass sie 5 Länder bereiste, aber viele Kulturen erlebte. In fast jedem Tal eröffnete sich eine andere Lebensweise.
Man kommt durch Teeplantagen und vergangene Königreiche, die in angrenzente Länder wie Indien, Pakistan oder China aufgegangen sind. Viele der Grenzen sind noch nicht geklärt und auf der Landkarte strichliert eingezeichnet. Wichtig sind der Autorin die Menschen. Mit vielen hat sie Kontakt. Jeder Kontakt ergibt eine schöne Geschichte. Ob es sich um eine Prinzessin, eine Chauffeur oder einen Manager einer Plantage handelt: sie erzählen, wie sie leben.
Auch in die abgelegenen Täler kommen die neuen Technologien. Es „bahnen sich neue Straßen ihren Weg wie Lindwürmer aus schwarzem Asphalt, auf deren Rücken die Modernität reitet. Ich hatte es gesehen. Ich hatte die Abwanderung der Menschen gesehen und die Mobiltelefone, die in den Bergdörfern des Himalaya mit demgleichen verlockenden, öden Schein in dunklen Abenden leuchten wie überall, wo sich Jugendliche treffen. Alles verändert sich, immer. Das Kleine wird vom Großen geschluckt, kleine Königreiche verschwinden, enge geschlossene Täler öffnen sich, und die Welt strömt hinein, hier wie überall. In einem solchen Tal stoßen die Interessen eines Weltimperiums brutal auf die Interessen eines anderen, und was geschieht dann mit den Menschen, die in diesem Tal leben? … Das Kleine wird vom Großen geschluckt, aber das Kleine lebt weiter.“ (Seite 628/629) Aber trotz allem Eindringen von Modernität konnte Erika Fatland in abgelegenen Tälern, wo keine normalen Touristen hinkommen, noch das Ursprüngliche erleben und sehen. Kathmandu war, als ich Anfang der 1970er Jahre dort war noch ein unterentwickeltes Dorf. Die Landebahn des Flughafens war noch eine Wiese. Heute ist es eine moderne Stadt. Die Autorin ist aber hinaus gegangen in die kleinen und entlegenen Dörfer, um noch die alte Tradition einzufangen, solange es sie noch gibt. Großartig! Es ist ein dickes Buch, aber keine Seite ist zu viel.
GRIESSLER, Margareta
2021.
@book{GRIESSLER2021,
title = {China. Eine Annäherung},
author = { Margareta GRIESSLER},
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date = {2021-12-08},
abstract = {GRIESSLER, Margareta: „China. Eine Annäherung“, Wien 2007
Obwohl ich nun schon mehrere Jahrzehnte jährlich nach China fahre, habe ich mit diesem Buch wieder Neues gelernt. Sehr systematisch und emotionslos beschreibt die Autorin die Situation Chinas und stellt mit einer historischen Betrachtung ein Verständnis für die Kultur her. Sie versuchte eine gesamtheitliche Betrachtung herzustellen, indem sie Gegenwart und Vergangenheit genauso vereint, wie Wirtschaft, Politik, Kultur und Geographie. Klischees und Medienberichte sind hier ausgeschaltet. Gerade in der heutigen Zeit, wo Handelsrestriktionen kriegsähnlichen Einsatz bekommen ist eine sachliche Darstellung der großen Handelsnation China wichtig um Politik von Fakten zu trennen.
Ein sehr gutes Nachschlagwerk das ein besseres Verständnis für das Land und seine Bewohner bietet.
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Obwohl ich nun schon mehrere Jahrzehnte jährlich nach China fahre, habe ich mit diesem Buch wieder Neues gelernt. Sehr systematisch und emotionslos beschreibt die Autorin die Situation Chinas und stellt mit einer historischen Betrachtung ein Verständnis für die Kultur her. Sie versuchte eine gesamtheitliche Betrachtung herzustellen, indem sie Gegenwart und Vergangenheit genauso vereint, wie Wirtschaft, Politik, Kultur und Geographie. Klischees und Medienberichte sind hier ausgeschaltet. Gerade in der heutigen Zeit, wo Handelsrestriktionen kriegsähnlichen Einsatz bekommen ist eine sachliche Darstellung der großen Handelsnation China wichtig um Politik von Fakten zu trennen.
Ein sehr gutes Nachschlagwerk das ein besseres Verständnis für das Land und seine Bewohner bietet.
RANSMAYR, Christoph
Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten Buch
2021.
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title = {Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten},
author = {Christoph RANSMAYR},
year = {2021},
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abstract = {RANSMAYR, Christoph: „Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten“, Frankfurt 2021
Vielleicht hätte ich mir dieses Buch nicht gekauft, aber Ransmayr selbst regte mich bei einer Lesung im Rahmen der Europäischen Literaturtage in Krems dazu an. Noch vor Ort kaufte ich es und bat Ransmayr es zu signieren. Ich fragte ihn „Können sie ihren Namen schreiben?“ und zeigte auf das Buch. Die Leute um ihn und auch er selbst lachte. Meine Frage hätte auch bedeuten können „Können sie schreiben?“
Der Icherzähler dieser „kurzen Geschichte vom Töten“ ist ein Hydrotechniker, der in verschiedensten Ländern beim Bau von Wasserkraftwerken im Einsatz ist. Er selbst ist als Sohn eines „Fallmeisters“, das ist ein Mann, der für die Versorgung von Wasserkanälen verantwortlich ist, über die Boote einen Wasserfall umschiffen können. Er ist am Ufer des „Weißen Flusses“ aufgewachsen. Gemeinsam mit seiner Schwester hat er da das Flusswasser kennen und schätzen gelernt. Als er sich gerade in Südamerika auf Einsatz an einer Baustelle befindet, erfährt er von seiner Schwester, dass der Vater ertrunken sei; in einem Boot den Wasserfall hinunter gestürzt sei. Seine Frau, sie stammte von der Adria, hatte ihn schon vorher verlassen. Unter seiner Leitung fand schon vor seinem Unfall einer mit einer voll besetzten Zille statt, bei der alle Insassen, Bewohner des Dorfes, ums Leben kamen. Der Vater – so war die Meinung im Ort – habe alles versucht, um den Unfall zu verhindern. Bei seinen Hilfeversuchen hatte er sich selbst schwer verletzt und wurde zum Helden gekürt. Nach und nach glaubte der Sohn aber anderes herauszufinden. Der Vater ein Mörder?
Er hatte seine Familie verloren. War auf Arbeitseinsätzen. Zuerst in Lateinamerika und dann in Asien. Europa zerbröselte in Klein- und Kleinststaaten. Er, der in Rotterdam studiert hatte verlor durch die Ausrufung der Unabhängigkeit Rotterdams und den Gegenreaktionen der anderen Kleinstaaten sein Abschlussdiplom. Es war ungültig geworden und er kündigte seinen Job. Man bot ihm nach einer Übergangszeit von drei Monaten die Stelle seines Vaters als Fallmeister an. Die drei Monate nutzte er, um seine verlorene Familie wieder zu finden. Seine Schwester Mira war in Norddeutschland verheiratet. Elektronisch kündigte er sein Kommen an. Das Netz war überwacht und er wusste nicht, ob seine Nachrichten auch ankamen. Auch in Asien waren die Länder in Kleinstaaten zerfallen und so musste sein Flugzeug oft zwischenlanden. Man brauchte Visa und Genehmigungen. Für eine Strecke, die früher 12 Stunden dauerte, brauchte er fünf Tage. Nachdem er seine Schwester, die ihn als Jugendlichen verführt hatte, besucht hatte, musste er fluchtartig quer durch Europa reisen, um seine Mutter an der Adria zu finden.
Ransmayr hat mit diesem Buch großartige Literatur geliefert. Eine Romangeschichte, die sich auch mit Zukunftszenarien wie dem Klimawandel und dem Zerfall der Europäischen Union auseinandersetzt. Eingebettet wird das in eine Familiengeschichte, die – bei allem Weltunheil - einen versöhnlichen Ausgang hat. Einen Ausgang, wie man ihn nicht vermutet. Eine Geschichte, in der, der den Mörder Verfolgende selbst zum Mörder wird.
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Vielleicht hätte ich mir dieses Buch nicht gekauft, aber Ransmayr selbst regte mich bei einer Lesung im Rahmen der Europäischen Literaturtage in Krems dazu an. Noch vor Ort kaufte ich es und bat Ransmayr es zu signieren. Ich fragte ihn „Können sie ihren Namen schreiben?“ und zeigte auf das Buch. Die Leute um ihn und auch er selbst lachte. Meine Frage hätte auch bedeuten können „Können sie schreiben?“
Der Icherzähler dieser „kurzen Geschichte vom Töten“ ist ein Hydrotechniker, der in verschiedensten Ländern beim Bau von Wasserkraftwerken im Einsatz ist. Er selbst ist als Sohn eines „Fallmeisters“, das ist ein Mann, der für die Versorgung von Wasserkanälen verantwortlich ist, über die Boote einen Wasserfall umschiffen können. Er ist am Ufer des „Weißen Flusses“ aufgewachsen. Gemeinsam mit seiner Schwester hat er da das Flusswasser kennen und schätzen gelernt. Als er sich gerade in Südamerika auf Einsatz an einer Baustelle befindet, erfährt er von seiner Schwester, dass der Vater ertrunken sei; in einem Boot den Wasserfall hinunter gestürzt sei. Seine Frau, sie stammte von der Adria, hatte ihn schon vorher verlassen. Unter seiner Leitung fand schon vor seinem Unfall einer mit einer voll besetzten Zille statt, bei der alle Insassen, Bewohner des Dorfes, ums Leben kamen. Der Vater – so war die Meinung im Ort – habe alles versucht, um den Unfall zu verhindern. Bei seinen Hilfeversuchen hatte er sich selbst schwer verletzt und wurde zum Helden gekürt. Nach und nach glaubte der Sohn aber anderes herauszufinden. Der Vater ein Mörder?
Er hatte seine Familie verloren. War auf Arbeitseinsätzen. Zuerst in Lateinamerika und dann in Asien. Europa zerbröselte in Klein- und Kleinststaaten. Er, der in Rotterdam studiert hatte verlor durch die Ausrufung der Unabhängigkeit Rotterdams und den Gegenreaktionen der anderen Kleinstaaten sein Abschlussdiplom. Es war ungültig geworden und er kündigte seinen Job. Man bot ihm nach einer Übergangszeit von drei Monaten die Stelle seines Vaters als Fallmeister an. Die drei Monate nutzte er, um seine verlorene Familie wieder zu finden. Seine Schwester Mira war in Norddeutschland verheiratet. Elektronisch kündigte er sein Kommen an. Das Netz war überwacht und er wusste nicht, ob seine Nachrichten auch ankamen. Auch in Asien waren die Länder in Kleinstaaten zerfallen und so musste sein Flugzeug oft zwischenlanden. Man brauchte Visa und Genehmigungen. Für eine Strecke, die früher 12 Stunden dauerte, brauchte er fünf Tage. Nachdem er seine Schwester, die ihn als Jugendlichen verführt hatte, besucht hatte, musste er fluchtartig quer durch Europa reisen, um seine Mutter an der Adria zu finden.
Ransmayr hat mit diesem Buch großartige Literatur geliefert. Eine Romangeschichte, die sich auch mit Zukunftszenarien wie dem Klimawandel und dem Zerfall der Europäischen Union auseinandersetzt. Eingebettet wird das in eine Familiengeschichte, die – bei allem Weltunheil - einen versöhnlichen Ausgang hat. Einen Ausgang, wie man ihn nicht vermutet. Eine Geschichte, in der, der den Mörder Verfolgende selbst zum Mörder wird.
KASSABOVA, Kapka
Am See. Reise zu meinen Vorfahren in Krieg und Frieden Buch
2021.
@book{KASSABOVA2021,
title = {Am See. Reise zu meinen Vorfahren in Krieg und Frieden},
author = {Kapka KASSABOVA},
year = {2021},
date = {2021-12-01},
abstract = {KASSABOVA, Kapka: „Am See. Reise zu meinen Vorfahren in Krieg und Frieden“, Wien 2021
Während der „Europäischen Literaturtage 2021“ in Krems machten wir mit der Verfasserin dieses Buches Bekanntschaft. In den vier Jahren unseres Kosovoaufenthalts sind wir oft nach Mazedonien gefahren. Es war ein erster Schritt in westliche Zivilisation, wo man in den Geschäften (fast) alles bekam. Oft waren wir am Ochridsee und waren verliebt in diese Gegend. Auch im Winter fuhren wir hin. Mit dem vorliegenden Buch werden viele der Erinnerungen wieder wach. Auch die geschichtliche Einführung über das Land Mazedonien und seine Veränderungen werden in der Einführung vermittelt. Hier erfährt man, warum Bulgarien Anspruch auf das hat, das aus dem ehemaligen Jugoslawien ohne Kämpfe herausgefallen war, aber den Eintritt in die EU noch immer nicht geschafft hat.
Die Autorin geht ihren Vorfahren nach und hier vor allem als Leitfigur ihrer Großmutter Anastassia.
Sie selbst ist mit ihren Eltern nach Neuseeland emigriert. Kam aber dann allein wieder nach Europa zurück. Heute lebt sie in Schottland und ist eine anerkannte Schriftfstellerin. Als solche sucht sie ihre Wurzeln in Mazedonein und den umliegenden Ländern am Balkan. Der zentrale Punkt ist der Ochridsee. Zu dem kommt sie zum Recherchieren und bleibt mehrere Wochen. Das Ergebnis dieser Arbeiten ist der erste Teil des vorliegenden Buchs. Wie in einer Fernsehdokumentation werden Gespräche mit Menschen, Verwandten, Bulgaren, Mazedoniern, Albanern und Griechen geführt. So entstehen Blitzlichter, in denen auch die Geschichte der Region aufflackert. Viel war in dieser Aufenthaltszeit zusammengekommen und sie verlässt den Ochridsee, um zu Hause in Schottland alles aufarbeiten zu können. Aber schon bei der Abreise weiss sie, dass sie wiederkommen wird. Das wird dann der zweite Teil des Buchs. Der handelt am höher gelegenen Prespa See. War es im ersten Teil primär das Suchen nach Familienspuren, so ist es im zweiten Teil eine Bestandsaufnahme der Lage dieses Vielvölker-gewirrs. Sie quartierte sich in einem kleinen Hotel am See ein und fährt die Gegend ab, um mit Zeitzeugen zu reden und deren Geschichten wiederzugeben. Sie trifft auch einige, die geflüchtet oder ausgewandert sind, aber der See zieht sie immer wieder zurück. Man erfährt auch, dass nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur Griechen die Türkei verlassen mussten und umgekehrt, sondern auch 60.000 Bulgarien aus Griechenland ausgewiesen wurden.
Grenzen wurden von Politikern ohne Bezug zur lokalen Situation gezogen. Experten fuhren die Grenzgebiete ab und stellten an Hand der Sprache fest, wohin das Land zukünftig gehören soll. Sie machten es, indem sie Geldmünzen in die Luft warfen und sahen, wie sich die Kinder darum stritten und in welcher Sprache. Oft wurden die Kinder durch die neuen Machthaber von ihren Familien abgesondert in in Umschulungslager gebracht.
Sehr gut erklärt werden auch die religiösen Unterschiede und vor allem wie anders der Islam am Balkan ist mit seinen Derwischen, die auch Alkohol trinken.
Oft haben sich die Grenzen geändert. „Innerhalb von vierzig Jahren wurde Ochrid je zweimal von Serbien und Bulgarien beansprucht und annektiert; es wechselte also seit der Befreiung von den Osmanen viermal den Besitzer“ (Seite 71) Viele Kriege gab es. Familien wurden auseinander gerissen. Menschen mussten fliehen oder auswandern. Viele kamen um oder wurden verfolgt. Hier verliefen die Fronten im Ersten und Zweiten Weltkrieg und oft kämpften Familienangehörige gegeneinander. Frankreich hatte orientalische Truppen hier in den Bergen installiert und noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts fand ein Schafhirte in einer Höhle französischen Champagner.
Manche hat es härter getroffen. „Die Albaner hatten nur drei Jahrzehnte relativer Freiheit erlebt, jene Zeit, nachdem die osmanischen Kolonisatoren gingen und bevor der kommunistische Totalitarismus begann. (Seite 256) Die Zeit des Dikjtators Hoxa ist vorbei, aber Besitzungen und Häuser wurden immer noch nicht zurückgegeben.
Sprachen waren oft für ethnische Zugehörigkeiten verantwortlich. Griechisch, Mazedonisch, Bulgarisch, Albanisch, Serbisch. Ein Sprachengewirr. Die Autorin belegt die Dinge mit Beispielen: „Der Familie seiner Frau Elena hatte man verboten Griechisch zu sprechen und Tanas Mutter und Großmutter wagten nicht, mit ihm und seinem Bruder Mazedonisch zu sprechen. Bis heute sprechen Elena und Tanas Albanisch miteinander – die Sprache ihres Unglücks.“ (Seite 129/130) Die Autorin gibt all dies mit Menschenschicksalen wieder. Menschen, die sie bei ihren Aufenthalten getroffen hat.
Es ist keine klassische Familiensaga. Es ist mehr ein Bericht über das Entstehen einer solchen. Man folgt beim Lesen des Buches den Recherchen der Autorin und muss aus den Informationen die Familiengeschichte selbst zusammenbauen. Eine unkonventionelle Familiensaga. Fast wie Möbelkauf bei IKEA. Man muss selbst mitarbeiten. Aber es ist trotzdem eine wunderbare Geschichte.
PS.: Unverständlich aber bleibt, warum die Autorin so eines guten Buches dem Apostel Paulus eine feministische Behauptung unterstellt, dass „er eine tiefe irrationale Angst vor Frauen“ (Seite 345) hatte.
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Während der „Europäischen Literaturtage 2021“ in Krems machten wir mit der Verfasserin dieses Buches Bekanntschaft. In den vier Jahren unseres Kosovoaufenthalts sind wir oft nach Mazedonien gefahren. Es war ein erster Schritt in westliche Zivilisation, wo man in den Geschäften (fast) alles bekam. Oft waren wir am Ochridsee und waren verliebt in diese Gegend. Auch im Winter fuhren wir hin. Mit dem vorliegenden Buch werden viele der Erinnerungen wieder wach. Auch die geschichtliche Einführung über das Land Mazedonien und seine Veränderungen werden in der Einführung vermittelt. Hier erfährt man, warum Bulgarien Anspruch auf das hat, das aus dem ehemaligen Jugoslawien ohne Kämpfe herausgefallen war, aber den Eintritt in die EU noch immer nicht geschafft hat.
Die Autorin geht ihren Vorfahren nach und hier vor allem als Leitfigur ihrer Großmutter Anastassia.
Sie selbst ist mit ihren Eltern nach Neuseeland emigriert. Kam aber dann allein wieder nach Europa zurück. Heute lebt sie in Schottland und ist eine anerkannte Schriftfstellerin. Als solche sucht sie ihre Wurzeln in Mazedonein und den umliegenden Ländern am Balkan. Der zentrale Punkt ist der Ochridsee. Zu dem kommt sie zum Recherchieren und bleibt mehrere Wochen. Das Ergebnis dieser Arbeiten ist der erste Teil des vorliegenden Buchs. Wie in einer Fernsehdokumentation werden Gespräche mit Menschen, Verwandten, Bulgaren, Mazedoniern, Albanern und Griechen geführt. So entstehen Blitzlichter, in denen auch die Geschichte der Region aufflackert. Viel war in dieser Aufenthaltszeit zusammengekommen und sie verlässt den Ochridsee, um zu Hause in Schottland alles aufarbeiten zu können. Aber schon bei der Abreise weiss sie, dass sie wiederkommen wird. Das wird dann der zweite Teil des Buchs. Der handelt am höher gelegenen Prespa See. War es im ersten Teil primär das Suchen nach Familienspuren, so ist es im zweiten Teil eine Bestandsaufnahme der Lage dieses Vielvölker-gewirrs. Sie quartierte sich in einem kleinen Hotel am See ein und fährt die Gegend ab, um mit Zeitzeugen zu reden und deren Geschichten wiederzugeben. Sie trifft auch einige, die geflüchtet oder ausgewandert sind, aber der See zieht sie immer wieder zurück. Man erfährt auch, dass nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur Griechen die Türkei verlassen mussten und umgekehrt, sondern auch 60.000 Bulgarien aus Griechenland ausgewiesen wurden.
Grenzen wurden von Politikern ohne Bezug zur lokalen Situation gezogen. Experten fuhren die Grenzgebiete ab und stellten an Hand der Sprache fest, wohin das Land zukünftig gehören soll. Sie machten es, indem sie Geldmünzen in die Luft warfen und sahen, wie sich die Kinder darum stritten und in welcher Sprache. Oft wurden die Kinder durch die neuen Machthaber von ihren Familien abgesondert in in Umschulungslager gebracht.
Sehr gut erklärt werden auch die religiösen Unterschiede und vor allem wie anders der Islam am Balkan ist mit seinen Derwischen, die auch Alkohol trinken.
Oft haben sich die Grenzen geändert. „Innerhalb von vierzig Jahren wurde Ochrid je zweimal von Serbien und Bulgarien beansprucht und annektiert; es wechselte also seit der Befreiung von den Osmanen viermal den Besitzer“ (Seite 71) Viele Kriege gab es. Familien wurden auseinander gerissen. Menschen mussten fliehen oder auswandern. Viele kamen um oder wurden verfolgt. Hier verliefen die Fronten im Ersten und Zweiten Weltkrieg und oft kämpften Familienangehörige gegeneinander. Frankreich hatte orientalische Truppen hier in den Bergen installiert und noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts fand ein Schafhirte in einer Höhle französischen Champagner.
Manche hat es härter getroffen. „Die Albaner hatten nur drei Jahrzehnte relativer Freiheit erlebt, jene Zeit, nachdem die osmanischen Kolonisatoren gingen und bevor der kommunistische Totalitarismus begann. (Seite 256) Die Zeit des Dikjtators Hoxa ist vorbei, aber Besitzungen und Häuser wurden immer noch nicht zurückgegeben.
Sprachen waren oft für ethnische Zugehörigkeiten verantwortlich. Griechisch, Mazedonisch, Bulgarisch, Albanisch, Serbisch. Ein Sprachengewirr. Die Autorin belegt die Dinge mit Beispielen: „Der Familie seiner Frau Elena hatte man verboten Griechisch zu sprechen und Tanas Mutter und Großmutter wagten nicht, mit ihm und seinem Bruder Mazedonisch zu sprechen. Bis heute sprechen Elena und Tanas Albanisch miteinander – die Sprache ihres Unglücks.“ (Seite 129/130) Die Autorin gibt all dies mit Menschenschicksalen wieder. Menschen, die sie bei ihren Aufenthalten getroffen hat.
Es ist keine klassische Familiensaga. Es ist mehr ein Bericht über das Entstehen einer solchen. Man folgt beim Lesen des Buches den Recherchen der Autorin und muss aus den Informationen die Familiengeschichte selbst zusammenbauen. Eine unkonventionelle Familiensaga. Fast wie Möbelkauf bei IKEA. Man muss selbst mitarbeiten. Aber es ist trotzdem eine wunderbare Geschichte.
PS.: Unverständlich aber bleibt, warum die Autorin so eines guten Buches dem Apostel Paulus eine feministische Behauptung unterstellt, dass „er eine tiefe irrationale Angst vor Frauen“ (Seite 345) hatte.
WALI, Najem
Die Balkanroute Buch
2021.
@book{WALI2021,
title = {Die Balkanroute},
author = {Najem WALI },
year = {2021},
date = {2021-11-24},
abstract = {WALI, Najem: „Die Balkanroute“, Berlin 2017
Najem Wali durfte ich bei den „Europäischen Literaturtagen“ in Krems kennenlernen. Das Buch über die Balkanroute habe ich gewählt, weil der Autor selbst – dem Krieg im Irak entfliehend – über diese Route in den Westen kam und seither in Deutschland wohnt. Inzwischen sind fast 40 Jahre vergangen und die Fluchtrouten sind sicher schwieriger geworden. Er selbst wird in Deutschland immer noch als Iraker angesehen und seine Familie im Irak sieht ihn als Deutschen.
Das vorliegende Buch nimmt aber einen unerwarteten Anfang. Sehr verständlich und gut lesbar wird in den ersten Abschnitten über Wanderungen und Fluchten berichtet. Wali geht dabei auf Zeiten des Propheten Abraham zurück. Abraham, der von allen Eingott-Religionen (Juden, Muslimen und Katholiken) anerkannt wird musste fliehen. „Der starke Mann brach sein Zeltlager ab und verstreute seine Herde in alle Winde.“ (Seite 17) In der Fremde wurden die Frauen zum Heiraten aus der Heimat nachgeholt. Eine Tradition, die türkische Migranten im Westen noch heute betreiben: die Bräute werden aus Anatolien nachgeholt. Babylon und das Zwischenstromland bot bessere Lebensbedingungen. Eine Wohlstandsflucht, wie wir sie auch heute kennen. Helenen, Griechen; immer wieder kam es zu Wanderbewegungen. Im 6. Jahrhundert v.Chr. dann eine Invasion durch die Perser. Alexander der Große stammte aus Mazedonien und eroberte Ländereien entlang der Balkanroute. Odysseus war viele Jahre unterwegs. König Gilgamesch „legte seine prachtvollen Gewänder ab und kleidete sich in Tierhäute, und er begibt sich auf eine lange Wanderschaft, um in der Fremde das Geheimnis des Lebens und der Unsterblichkeit zu finden.“ (Seite 53)
Immer wieder ging es entlang der Balkanroute, aber in beide Richtungen. Die Kreuzritter zogen vom Westen in den Osten. Eigentlich entstanden die Kreuzzüge, so erfährt man bei Wali, aus einem Hilferuf des byzantinischen Kaisers Alexios I., um ihm gegen die Muslime und Türken zu helfen. Abenteurer und Ritter sahen darin eine Chance. Muslime wurden aus den ihnen heiligen Städten in Jerusalem vertrieben, aber in den 200 Jahren der Kreuzzüge wurden auch die orthodoxen Glaubensbrüder und Konstantinopel vernichtet. So wie bei heutigen Fluchthelfern profitierten schon damals die Helfer. Das waren europäische Küstenstädte, die den Transport der Ritter und ihrer Söldner gegen Bezahlung übernahmen.
Dann stellt Wali einen Wanderer aus dem 14. Jahrhundert vor: Ibn Battuta. Er ist allein gereist und hat dabei 120.000 Kilometer zurückgelegt. Eigentlich wollte er nur eine Pilgerreise von seiner Heimat Marokko nach Mekka unternehmen, war aber dann 24 Jahre unterwegs. Er wanderte weiter; in den Iran, Irak, nach Indien und China. Seine Reiseberichte gingen verloren und wurden erst im 19. Jahrhundert in Ägypten wieder entdeckt.
Don Passos fuhr die Balkanroute Anfang des 20. Jahrhunderts im Orientexpress von Venedig nach Istanbul und weiter nach Tiflis, Bagdad und Teheran.
Hans Christian Anderson reiste die Strecke und betätigte sich als ausgezeichneter Reiseerzähler.
Nur dreißig Seiten werden den heutigen Flüchtlingen auf der Balkanroute gewidmet. Zwei Reisen unternahm der Autor dazu. Er stellte sich als Übersetzer vom arabischen ins spanische einer spanischen medizinischen Hilfsgruppe zur Verfügung und schildert seine Erfahrungen und Eindrücke an der geschlossenen Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien. Er schildert Menschenschicksale, weil die Leute glücklich waren, wenn sie von sich erzählen konnten. Glücksich waren auch die Einheimischen der angrenzenden Dörfer. Sie machten mit den Flüchtlingen Geschäfte, die sie sonst in ihrer abgeschiedenen Lage nie gemacht hätten. Alle Hotels und Pensionen waren ausgebucht und von Mitarbeitern aus internationalen Hilfsorganisationen und Journalisten belegt.
Später unternahm der Autor eine zweite Reise auf die Insel Lesbos, auf der die aus der Türkei mit dem Schlauchboot ankommenden Flüchtlinge wie in einem Gefängnis gehalten wurden. Die Lager wurden vom Militär verwaltet, was den oft vor Militärrepressalien geflüchteten Menschen weitere Angst einjagte. Die Ausstattung war katastrophal: „Auf dem felsigen Boden, auf dem die Menschen schlafen, sind Scharen von Skorpionen und Schlangen unterwegs, es gibt weder Elektrizität noch sauberes Wasser, Toiletten und Waschräume sind verdreckt, und immer mehr Menschen leiden an Krankheiten …“ (Seite 163)
Im letzten Kapitel springt die Erzählung zur Gründung der Türkei und dem Untergang des osmanischen Reiches zurück. 1916 kam es zum Kleinasienabkommen, in dem alle Balkanländer selbstständig wurden und das osmanische Reich aufgeteilt wurde. Diese Aufteilung löste eine große Völkerwanderung aus. „Ein Abkommen, das die Religionszugehörigkeit zur Grundlage seiner Anwendung machte – und nicht etwa die ethnische Herkunft oder Muttersprache, nicht den Geburtsort oder persönlichen Besitz – und das zur Folge hatte, dass die griechischen Christen, die bislang in der Türkei gelebt hatten, nach Griechenland umgesiedelt wurden und gleichzeitig die muslimischen Einwohner, die in Griechenland beheimatet waren, in die Türkei emigrieren mussten, ob sie wollten oder nicht.“ (Seite 169) Wieder entstanden Flucht- und Wanderungsrouten. Diesmal in beide Richtungen. Das betraf eine halbe Million Muslime in Griechenland und 1,2 Millionen Griechen auf türkischem Gebiet.
Dieses Buch liefert eine sehr gute geschichtliche Einführung, die man unter dem Titel „Balkanroute“ nicht vermuten würde, weil man als naiver Leser nur an die Jetztzeit denkt.
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Najem Wali durfte ich bei den „Europäischen Literaturtagen“ in Krems kennenlernen. Das Buch über die Balkanroute habe ich gewählt, weil der Autor selbst – dem Krieg im Irak entfliehend – über diese Route in den Westen kam und seither in Deutschland wohnt. Inzwischen sind fast 40 Jahre vergangen und die Fluchtrouten sind sicher schwieriger geworden. Er selbst wird in Deutschland immer noch als Iraker angesehen und seine Familie im Irak sieht ihn als Deutschen.
Das vorliegende Buch nimmt aber einen unerwarteten Anfang. Sehr verständlich und gut lesbar wird in den ersten Abschnitten über Wanderungen und Fluchten berichtet. Wali geht dabei auf Zeiten des Propheten Abraham zurück. Abraham, der von allen Eingott-Religionen (Juden, Muslimen und Katholiken) anerkannt wird musste fliehen. „Der starke Mann brach sein Zeltlager ab und verstreute seine Herde in alle Winde.“ (Seite 17) In der Fremde wurden die Frauen zum Heiraten aus der Heimat nachgeholt. Eine Tradition, die türkische Migranten im Westen noch heute betreiben: die Bräute werden aus Anatolien nachgeholt. Babylon und das Zwischenstromland bot bessere Lebensbedingungen. Eine Wohlstandsflucht, wie wir sie auch heute kennen. Helenen, Griechen; immer wieder kam es zu Wanderbewegungen. Im 6. Jahrhundert v.Chr. dann eine Invasion durch die Perser. Alexander der Große stammte aus Mazedonien und eroberte Ländereien entlang der Balkanroute. Odysseus war viele Jahre unterwegs. König Gilgamesch „legte seine prachtvollen Gewänder ab und kleidete sich in Tierhäute, und er begibt sich auf eine lange Wanderschaft, um in der Fremde das Geheimnis des Lebens und der Unsterblichkeit zu finden.“ (Seite 53)
Immer wieder ging es entlang der Balkanroute, aber in beide Richtungen. Die Kreuzritter zogen vom Westen in den Osten. Eigentlich entstanden die Kreuzzüge, so erfährt man bei Wali, aus einem Hilferuf des byzantinischen Kaisers Alexios I., um ihm gegen die Muslime und Türken zu helfen. Abenteurer und Ritter sahen darin eine Chance. Muslime wurden aus den ihnen heiligen Städten in Jerusalem vertrieben, aber in den 200 Jahren der Kreuzzüge wurden auch die orthodoxen Glaubensbrüder und Konstantinopel vernichtet. So wie bei heutigen Fluchthelfern profitierten schon damals die Helfer. Das waren europäische Küstenstädte, die den Transport der Ritter und ihrer Söldner gegen Bezahlung übernahmen.
Dann stellt Wali einen Wanderer aus dem 14. Jahrhundert vor: Ibn Battuta. Er ist allein gereist und hat dabei 120.000 Kilometer zurückgelegt. Eigentlich wollte er nur eine Pilgerreise von seiner Heimat Marokko nach Mekka unternehmen, war aber dann 24 Jahre unterwegs. Er wanderte weiter; in den Iran, Irak, nach Indien und China. Seine Reiseberichte gingen verloren und wurden erst im 19. Jahrhundert in Ägypten wieder entdeckt.
Don Passos fuhr die Balkanroute Anfang des 20. Jahrhunderts im Orientexpress von Venedig nach Istanbul und weiter nach Tiflis, Bagdad und Teheran.
Hans Christian Anderson reiste die Strecke und betätigte sich als ausgezeichneter Reiseerzähler.
Nur dreißig Seiten werden den heutigen Flüchtlingen auf der Balkanroute gewidmet. Zwei Reisen unternahm der Autor dazu. Er stellte sich als Übersetzer vom arabischen ins spanische einer spanischen medizinischen Hilfsgruppe zur Verfügung und schildert seine Erfahrungen und Eindrücke an der geschlossenen Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien. Er schildert Menschenschicksale, weil die Leute glücklich waren, wenn sie von sich erzählen konnten. Glücksich waren auch die Einheimischen der angrenzenden Dörfer. Sie machten mit den Flüchtlingen Geschäfte, die sie sonst in ihrer abgeschiedenen Lage nie gemacht hätten. Alle Hotels und Pensionen waren ausgebucht und von Mitarbeitern aus internationalen Hilfsorganisationen und Journalisten belegt.
Später unternahm der Autor eine zweite Reise auf die Insel Lesbos, auf der die aus der Türkei mit dem Schlauchboot ankommenden Flüchtlinge wie in einem Gefängnis gehalten wurden. Die Lager wurden vom Militär verwaltet, was den oft vor Militärrepressalien geflüchteten Menschen weitere Angst einjagte. Die Ausstattung war katastrophal: „Auf dem felsigen Boden, auf dem die Menschen schlafen, sind Scharen von Skorpionen und Schlangen unterwegs, es gibt weder Elektrizität noch sauberes Wasser, Toiletten und Waschräume sind verdreckt, und immer mehr Menschen leiden an Krankheiten …“ (Seite 163)
Im letzten Kapitel springt die Erzählung zur Gründung der Türkei und dem Untergang des osmanischen Reiches zurück. 1916 kam es zum Kleinasienabkommen, in dem alle Balkanländer selbstständig wurden und das osmanische Reich aufgeteilt wurde. Diese Aufteilung löste eine große Völkerwanderung aus. „Ein Abkommen, das die Religionszugehörigkeit zur Grundlage seiner Anwendung machte – und nicht etwa die ethnische Herkunft oder Muttersprache, nicht den Geburtsort oder persönlichen Besitz – und das zur Folge hatte, dass die griechischen Christen, die bislang in der Türkei gelebt hatten, nach Griechenland umgesiedelt wurden und gleichzeitig die muslimischen Einwohner, die in Griechenland beheimatet waren, in die Türkei emigrieren mussten, ob sie wollten oder nicht.“ (Seite 169) Wieder entstanden Flucht- und Wanderungsrouten. Diesmal in beide Richtungen. Das betraf eine halbe Million Muslime in Griechenland und 1,2 Millionen Griechen auf türkischem Gebiet.
Dieses Buch liefert eine sehr gute geschichtliche Einführung, die man unter dem Titel „Balkanroute“ nicht vermuten würde, weil man als naiver Leser nur an die Jetztzeit denkt.
GRAS, Cedric
Stalins Alpinisten. Der Fall Abalakow Artikel
In: 2021.
@article{GRAS2021,
title = {Stalins Alpinisten. Der Fall Abalakow},
author = {Cedric GRAS},
year = {2021},
date = {2021-11-14},
abstract = {GRAS, Cedric: „Stalins Alpinisten. Der Fall Abalakow“, Innsbruck Wien 2021
Eines vorweg: Fast Niemand im Westen wird mit dem Titel dieses Buches etwas anfangen können. Niemand hier weiß wer Abalakow war. Ich habe mit niedriger Erwartungshaltung zu lesen begonnen und wurde in den Bann gezogen. Diese Geschichte öffnet ein unbekanntes Zeitfenster. Erst der politische Umbruch der UdSSR hat es möglich gemacht. Die Archive aus Stalins Zeit wurden geöffnet und so bekommt man als Leser einen Einblick in die Zeit der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts. Es ist zwar die Geschichte der Bergsteiger, aber genauso ein Zeugnis der gesellschaftspolitischen Situation.
Ein Franzose, ein Geograf und begeisterter Alpinist hat das vorliegende Buch geschrieben. „Für die Recherchen dieser Erzählung wollte ich alles mit eigenen Augen sehen, angefangen beim Geburtshaus der Brüder Abalakow. So bin ich nach Krasnojarsk gefahren.“ (Seite 214) Er hat Berge besucht und teilweise selbst bestiegen, weshalb es so eine hautnahe und spannende Erzählung geworden ist.
Der Altersunterschied der Abalakowbrüder ist nur ein Jahr: Der eine – Witali – wurde Maschinenbauingenieur, sein Bruder Jewgeni wurde Künstler. Sie sind beide begeisterte Bergsteiger und verdienen ihre ersten Sporen im Kaukasus. Die Sowjetunion will die Berge des Landes erforschen lassen. Es ist aber kein Bergsteigen wie im Westen, sondern – dem kommunistischen Denken entsprechend – ein kollektives. Multidisziplinäre Expeditionen erforschen das Land. Viele der Bergriesen waren in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts noch nicht bestiegen. Laufend werden auch neue entdeckt, wie der 7600 Meter hohe und dann nach dem Führer Pik Stalin benannt. 1933 wird so eine Mannschaft für die Besteigung des neu gefunden Riesen zusammengestellt. Der als Künstler schon bekannte Jewgeni wird in das Team aufgenommen. Allein die Anmarschroute beträgt 700 Kilometer. In seinem Tagebuch schreibt Jewgeni „Der Pamir ist eine der kontinentalsten und abgelegensten Gegenden der Welt.“ (Seite 35) Dabei treffen sie auch auf den längsten Gletscher der Welt. Der Künstler war der Einzige, der den Gipfel erreichte.
Als nächstes wird der Pik Lenin bestiegen. Die Brüder sind inzwischen verheiratet und Jewgeni hat eine Tochter. Im Sommer sind sie aber weiter in den Bergen unterwegs und die Familien bleiben allein in Moskau zurück. Bergsteigen ist in der UdSSR nicht nur ein Vergnügen, sondern auch Arbeit für die Wissenschaft. Es wird kartografiert und Gesteinsproben aus Felswänden für einen eventuellen Abbau gesammelt. Ab 1936 wird das Bergsteigen genau kontrolliert. In diesem Jahr machen die Brüder auch ihre letzte gemeinsame Besteigung. Dann trennen sich ihre Wege und sie werden auch sehr unterschiedlich behandelt. Der eine wird als Verräter eingesperrt, gefoltert und entging nur knapp dem Tod. 1937 war die Wende der „konterrevolutionären Alpinisten“, wie es der Autor des Buches nennt. Berge werden in großen Gruppen bestiegen. Bis zu 2000 Mann werden in Richtung Gipfel geschickt. Parallel dazu werden immer mehr alteingesessene Bergsteiger verhaftet, eingesperrt oder ermordet. So traf es auch Witali. In akribischer Kleinarbeit geht der Buchautor in russischen Archiven viele Akten und Dokumentationen durch und erstellt so die Leidensgeschichte des einen. Viele Freunde tätigten Falschaussagen und belasteten andere, um sich selbst eine bessere Position zu schaffen. Wieder freigekommen arbeitet Witali weiter, bringt sein Wissen ein und will auch noch einen höheren Berg besteigen. Sein Bruder wird aber für so eine Expedition nominiert, zu er aber nicht mehr kommt: in der Nacht nach der Nominierung wird er tot aufgefunden.
Witali arbeitet weiter darauf hin den höchsten Berg der Welt besteigen zu dürfen. Er, der Künstler und Bergsteiger wechselt in der Sommersaison ins Alpinisten-Fach und im Winter betätigt er sich als Künstler. Nach dem Tod Stalins ändert sich die Situation und viele werden rehabilitiert. Darunter auch Witali. Mit den Chinesen ist eine gemeinsame Besteigung im Himalaya geplant. Man beginnt in russischen Gebirgen, muss aber dann die chinesische Kooperation wegen Unruhen in Tibet abbrechen. Unter Gorbatschow geht es 1960 zum dritten Mal auf den Pik Lenin. Seine Frau Valentina ist ebenfalls aktiv. Die ganze Familie hat sich den Bergen verschrieben. Sohn Oleg wird „Meister des Sports im Alpinismus“ und die Tochter Galina Schifahrerin. Die Besteigung des Pik Kommunism – wie der Berg jetzt heißt - musste abgebrochen werden.
Noch im Alter von 60 Jahren ist das Ehepaar in den Bergen unterwegs. Mit 75 Jahren wohnt er in seiner sibirischen Heimat in Krasnojarsk und widmet sich dem weniger anstrengenden Wildwasserfahren. Seinen Lebenstraum, den Mount Everest zu besteigen, kann er sich nicht erfüllen, aber er ist maßgeblich an der Vorbereitung der Ausrüstung für eine Everest-Mission beteiligt. Seine Erfindungen waren erfolgreich und noch heute tragen viel Russen Rucksäcke mit seinem Namen. Nach erfolgreicher Besteigung ist er beim Empfang der sowjetischen Bergsteiger am Moskau Flughafen dabei. Selbst war es ihm nicht vergönnt. Witali starb im 80. Lebensjahr. Er wurde nicht wie sein Bruder am Nowodewitschi Friedhof beigesetzt, sondern weit weg von Moskau. Neben ihm im Grab liegt sein Sohn, der 1993 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, seine Frau Valentina und 1995 die an Krebs verstorebene Tochter.
Das vorliegende Buch bringt die Geschichte auch in den Westen. In einem sehr spannend geschriebenen Buch kann man das Leben der zwei berühmten sowjetischen Bergsteiger mitverfolgen.
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Eines vorweg: Fast Niemand im Westen wird mit dem Titel dieses Buches etwas anfangen können. Niemand hier weiß wer Abalakow war. Ich habe mit niedriger Erwartungshaltung zu lesen begonnen und wurde in den Bann gezogen. Diese Geschichte öffnet ein unbekanntes Zeitfenster. Erst der politische Umbruch der UdSSR hat es möglich gemacht. Die Archive aus Stalins Zeit wurden geöffnet und so bekommt man als Leser einen Einblick in die Zeit der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts. Es ist zwar die Geschichte der Bergsteiger, aber genauso ein Zeugnis der gesellschaftspolitischen Situation.
Ein Franzose, ein Geograf und begeisterter Alpinist hat das vorliegende Buch geschrieben. „Für die Recherchen dieser Erzählung wollte ich alles mit eigenen Augen sehen, angefangen beim Geburtshaus der Brüder Abalakow. So bin ich nach Krasnojarsk gefahren.“ (Seite 214) Er hat Berge besucht und teilweise selbst bestiegen, weshalb es so eine hautnahe und spannende Erzählung geworden ist.
Der Altersunterschied der Abalakowbrüder ist nur ein Jahr: Der eine – Witali – wurde Maschinenbauingenieur, sein Bruder Jewgeni wurde Künstler. Sie sind beide begeisterte Bergsteiger und verdienen ihre ersten Sporen im Kaukasus. Die Sowjetunion will die Berge des Landes erforschen lassen. Es ist aber kein Bergsteigen wie im Westen, sondern – dem kommunistischen Denken entsprechend – ein kollektives. Multidisziplinäre Expeditionen erforschen das Land. Viele der Bergriesen waren in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts noch nicht bestiegen. Laufend werden auch neue entdeckt, wie der 7600 Meter hohe und dann nach dem Führer Pik Stalin benannt. 1933 wird so eine Mannschaft für die Besteigung des neu gefunden Riesen zusammengestellt. Der als Künstler schon bekannte Jewgeni wird in das Team aufgenommen. Allein die Anmarschroute beträgt 700 Kilometer. In seinem Tagebuch schreibt Jewgeni „Der Pamir ist eine der kontinentalsten und abgelegensten Gegenden der Welt.“ (Seite 35) Dabei treffen sie auch auf den längsten Gletscher der Welt. Der Künstler war der Einzige, der den Gipfel erreichte.
Als nächstes wird der Pik Lenin bestiegen. Die Brüder sind inzwischen verheiratet und Jewgeni hat eine Tochter. Im Sommer sind sie aber weiter in den Bergen unterwegs und die Familien bleiben allein in Moskau zurück. Bergsteigen ist in der UdSSR nicht nur ein Vergnügen, sondern auch Arbeit für die Wissenschaft. Es wird kartografiert und Gesteinsproben aus Felswänden für einen eventuellen Abbau gesammelt. Ab 1936 wird das Bergsteigen genau kontrolliert. In diesem Jahr machen die Brüder auch ihre letzte gemeinsame Besteigung. Dann trennen sich ihre Wege und sie werden auch sehr unterschiedlich behandelt. Der eine wird als Verräter eingesperrt, gefoltert und entging nur knapp dem Tod. 1937 war die Wende der „konterrevolutionären Alpinisten“, wie es der Autor des Buches nennt. Berge werden in großen Gruppen bestiegen. Bis zu 2000 Mann werden in Richtung Gipfel geschickt. Parallel dazu werden immer mehr alteingesessene Bergsteiger verhaftet, eingesperrt oder ermordet. So traf es auch Witali. In akribischer Kleinarbeit geht der Buchautor in russischen Archiven viele Akten und Dokumentationen durch und erstellt so die Leidensgeschichte des einen. Viele Freunde tätigten Falschaussagen und belasteten andere, um sich selbst eine bessere Position zu schaffen. Wieder freigekommen arbeitet Witali weiter, bringt sein Wissen ein und will auch noch einen höheren Berg besteigen. Sein Bruder wird aber für so eine Expedition nominiert, zu er aber nicht mehr kommt: in der Nacht nach der Nominierung wird er tot aufgefunden.
Witali arbeitet weiter darauf hin den höchsten Berg der Welt besteigen zu dürfen. Er, der Künstler und Bergsteiger wechselt in der Sommersaison ins Alpinisten-Fach und im Winter betätigt er sich als Künstler. Nach dem Tod Stalins ändert sich die Situation und viele werden rehabilitiert. Darunter auch Witali. Mit den Chinesen ist eine gemeinsame Besteigung im Himalaya geplant. Man beginnt in russischen Gebirgen, muss aber dann die chinesische Kooperation wegen Unruhen in Tibet abbrechen. Unter Gorbatschow geht es 1960 zum dritten Mal auf den Pik Lenin. Seine Frau Valentina ist ebenfalls aktiv. Die ganze Familie hat sich den Bergen verschrieben. Sohn Oleg wird „Meister des Sports im Alpinismus“ und die Tochter Galina Schifahrerin. Die Besteigung des Pik Kommunism – wie der Berg jetzt heißt - musste abgebrochen werden.
Noch im Alter von 60 Jahren ist das Ehepaar in den Bergen unterwegs. Mit 75 Jahren wohnt er in seiner sibirischen Heimat in Krasnojarsk und widmet sich dem weniger anstrengenden Wildwasserfahren. Seinen Lebenstraum, den Mount Everest zu besteigen, kann er sich nicht erfüllen, aber er ist maßgeblich an der Vorbereitung der Ausrüstung für eine Everest-Mission beteiligt. Seine Erfindungen waren erfolgreich und noch heute tragen viel Russen Rucksäcke mit seinem Namen. Nach erfolgreicher Besteigung ist er beim Empfang der sowjetischen Bergsteiger am Moskau Flughafen dabei. Selbst war es ihm nicht vergönnt. Witali starb im 80. Lebensjahr. Er wurde nicht wie sein Bruder am Nowodewitschi Friedhof beigesetzt, sondern weit weg von Moskau. Neben ihm im Grab liegt sein Sohn, der 1993 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, seine Frau Valentina und 1995 die an Krebs verstorebene Tochter.
Das vorliegende Buch bringt die Geschichte auch in den Westen. In einem sehr spannend geschriebenen Buch kann man das Leben der zwei berühmten sowjetischen Bergsteiger mitverfolgen.
TANDASCHWILI, Tamar
Als Medea Rache übte und die Liebe fand Buch
2021.
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title = {Als Medea Rache übte und die Liebe fand},
author = {TANDASCHWILI, Tamar},
year = {2021},
date = {2021-11-09},
abstract = {TANDASCHWILI, Tamar: „Als Medea Rache übte und die Liebe fand“, Salzburg Wien 2021
Die georgische Autorin beschäftigt sich in diesem romanhaft verarbeiteten Buch mit der Vergewaltigung und Benachteiligung von Frauen und Transgendern. Beim Lesen hat man als Westeuropäer Schwierigkeiten mit den Namen und kann nur schwer feststellen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Die Vornamen sind für den westlichen Sprachgebrauch nicht bestimmbar. Auch der Aufbau und die Struktur des Buches ist sehr chaotisch und für den Leser ist der Verlauf der Erzählung nur schwer nachvollziehbar. Teilweise ist es so, als wären die Manuskriptblätter hinuntergefallen und wirr zusammengelegt worden. Etwas Klarheit wird auf den letzten beiden Seiten geschaffen, in der sich Medea outet: „Nachdem meine Tochter von einem Auto angefahren wurde und schwerbehindert war, legte ich mein Nonnengelübde ab. Nach fünf Jahren im Kloster vergiftete ich den Archimandriten, kastrierte einen Geschäftsmann, der zu Gast war, setzte meinen geliebten Hund in einer Amphore bei und wendete mich erst dann wieder dem weltlichen Leben zu, als sich mein Ehemann, der seinerzeit ein Mädchen vergewaltigt hatte, im Yogakurs durch Luftanhalten das Leben nahm. Sechs Monate, nachdem ich mein Nonnengewand abgelegt hatte, adoptierte ich die Pflegerin meiner Tochter, eine Transfrau, baute auf meiner Datscha ein Gewächshaus für Bio-Gemüse und verliebte mich wahnsinnig in eine Journalistin.“ (Seite 142/143)
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Die georgische Autorin beschäftigt sich in diesem romanhaft verarbeiteten Buch mit der Vergewaltigung und Benachteiligung von Frauen und Transgendern. Beim Lesen hat man als Westeuropäer Schwierigkeiten mit den Namen und kann nur schwer feststellen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Die Vornamen sind für den westlichen Sprachgebrauch nicht bestimmbar. Auch der Aufbau und die Struktur des Buches ist sehr chaotisch und für den Leser ist der Verlauf der Erzählung nur schwer nachvollziehbar. Teilweise ist es so, als wären die Manuskriptblätter hinuntergefallen und wirr zusammengelegt worden. Etwas Klarheit wird auf den letzten beiden Seiten geschaffen, in der sich Medea outet: „Nachdem meine Tochter von einem Auto angefahren wurde und schwerbehindert war, legte ich mein Nonnengelübde ab. Nach fünf Jahren im Kloster vergiftete ich den Archimandriten, kastrierte einen Geschäftsmann, der zu Gast war, setzte meinen geliebten Hund in einer Amphore bei und wendete mich erst dann wieder dem weltlichen Leben zu, als sich mein Ehemann, der seinerzeit ein Mädchen vergewaltigt hatte, im Yogakurs durch Luftanhalten das Leben nahm. Sechs Monate, nachdem ich mein Nonnengewand abgelegt hatte, adoptierte ich die Pflegerin meiner Tochter, eine Transfrau, baute auf meiner Datscha ein Gewächshaus für Bio-Gemüse und verliebte mich wahnsinnig in eine Journalistin.“ (Seite 142/143)
FREUND, René
Niemand weiß, wie spät es ist Buch
2021.
@book{FREUND2021e,
title = {Niemand weiß, wie spät es ist},
author = {René FREUND},
year = {2021},
date = {2021-10-29},
abstract = {FREUND, René: „Niemand weiß, wie spät es ist“, München 2018
Noras Vater ist gestorben. Nora wurde für die Erbabhandlung zum Notar bestellt. Sie wohnt, wie ihr Vater, in Paris. Er ist Deutscher und die Mutter – sie verstarb als Nora vier Jahre alt war - kam aus Österreich. Bei der Öffnung des Testaments wird auch ein junger österreichischer Notariatskollege dazu geholt. Nora versteht nicht warum, aber bald stellt sich der Grund heraus. Nora ist zwar die Erbin, muss aber vorher einige Pflichten erfüllen. Sie muss mit der Urne des Vaters durch Österreich nach genau vorgegebenen Strecken wandern und dann die Urne beisetzen. Der junge Notar wird sie begleiten und der Pariser Notar wird zur jeweiligen Etappe Anweisungen des verstorbenen Vaters schicken. Die erste Reaktion von Nora ist, dass sie das Erbe nicht annimmt. Da weiht sie der Notar ein, dass in diesem Falle das Erbe an einen Pharmakonzern ginge, der das Geld zum Ankauf von Tieren, die für Versuche gebraucht werden, verwenden solle. Nora sieht darin eine Erpressung und nimmt das Testament.
Die Anweisungen des schon verstorbenen Vaters sind Videos und eMails, die er vor seinem Tod aufgenommen hat und die der Notar zur jeweiligen Wanderungsorientierung schickt. „Und ich bin mir sicher, dass ich dich erschrecke, weil ich ja tot bin, wenn du das hier siehst. Fühlt sich auch für mich komisch an zu sagen, „weil ich ja tot bin“, denn natürlich wissen alle, dass sie mal sterben müssen, aber so wirklich glauben tut es doch niemand. Man kann es sich auch so schwer vorstellen, tot zu sein, also nicht zu sein, so schwer wie man sich vorstellen kann was vor der Geburt war.“ (Seite 83) Diese Mitteilungen des verstorbenen Vaters sind teilweise sehr philosophisch und handeln – wie es für einen Menschen, der den Tod erwartet – vom Sterben. „Der Tod ist ein Skandal, hat Canetti gesagt. Das ist ein großer Unsinn. Der Tod ist eine simple Tatsache. Der Skandal ist das Leben. Es geht einfach weiter.“ (Seite 192) Der Abschied von der Tochter erfolgt so erst im Nachhinein. „Wir waren ein tolles Team, du und ich. Tut mir leid, dass ich dich allein lasse. Immerhin, manche Dinge sind das erste und das letzte Mal gleichzeitig in einem Leben. Sterben zum Beispiel.“ (Seite 193)
Den Ausgang will ich – wie bei einem Kriminalroman – hier nicht vorwegnehmen. Es ist eine sehr kitschige, aber rührende Geschichte. Die Konzepte der Freund-Romane sind immer sehr lustig, unterhaltsam und abwechslungsreich. Der Stil ist geradlinig und einfach.
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Noras Vater ist gestorben. Nora wurde für die Erbabhandlung zum Notar bestellt. Sie wohnt, wie ihr Vater, in Paris. Er ist Deutscher und die Mutter – sie verstarb als Nora vier Jahre alt war - kam aus Österreich. Bei der Öffnung des Testaments wird auch ein junger österreichischer Notariatskollege dazu geholt. Nora versteht nicht warum, aber bald stellt sich der Grund heraus. Nora ist zwar die Erbin, muss aber vorher einige Pflichten erfüllen. Sie muss mit der Urne des Vaters durch Österreich nach genau vorgegebenen Strecken wandern und dann die Urne beisetzen. Der junge Notar wird sie begleiten und der Pariser Notar wird zur jeweiligen Etappe Anweisungen des verstorbenen Vaters schicken. Die erste Reaktion von Nora ist, dass sie das Erbe nicht annimmt. Da weiht sie der Notar ein, dass in diesem Falle das Erbe an einen Pharmakonzern ginge, der das Geld zum Ankauf von Tieren, die für Versuche gebraucht werden, verwenden solle. Nora sieht darin eine Erpressung und nimmt das Testament.
Die Anweisungen des schon verstorbenen Vaters sind Videos und eMails, die er vor seinem Tod aufgenommen hat und die der Notar zur jeweiligen Wanderungsorientierung schickt. „Und ich bin mir sicher, dass ich dich erschrecke, weil ich ja tot bin, wenn du das hier siehst. Fühlt sich auch für mich komisch an zu sagen, „weil ich ja tot bin“, denn natürlich wissen alle, dass sie mal sterben müssen, aber so wirklich glauben tut es doch niemand. Man kann es sich auch so schwer vorstellen, tot zu sein, also nicht zu sein, so schwer wie man sich vorstellen kann was vor der Geburt war.“ (Seite 83) Diese Mitteilungen des verstorbenen Vaters sind teilweise sehr philosophisch und handeln – wie es für einen Menschen, der den Tod erwartet – vom Sterben. „Der Tod ist ein Skandal, hat Canetti gesagt. Das ist ein großer Unsinn. Der Tod ist eine simple Tatsache. Der Skandal ist das Leben. Es geht einfach weiter.“ (Seite 192) Der Abschied von der Tochter erfolgt so erst im Nachhinein. „Wir waren ein tolles Team, du und ich. Tut mir leid, dass ich dich allein lasse. Immerhin, manche Dinge sind das erste und das letzte Mal gleichzeitig in einem Leben. Sterben zum Beispiel.“ (Seite 193)
Den Ausgang will ich – wie bei einem Kriminalroman – hier nicht vorwegnehmen. Es ist eine sehr kitschige, aber rührende Geschichte. Die Konzepte der Freund-Romane sind immer sehr lustig, unterhaltsam und abwechslungsreich. Der Stil ist geradlinig und einfach.
HANDKE, Peter
2021.
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title = { „Versuch über den geglückten Tag. Ein Wintertagtraum“, in „Wer sagt denn, dass die Welt schon entdeckt ist?“},
author = {Peter HANDKE},
year = {2021},
date = {2021-10-24},
abstract = {HANDKE, Peter: „Versuch über den geglückten Tag. Ein Wintertagtraum“, in „Wer sagt denn, dass die Welt schon entdeckt ist?“, Berlin 2019
Ein philosophierender Handke stellt sich mit dieser Erzählung vor. Er stellt sich der Diskussion, was ein geglückter Tag sei. Er unterstellt dabei, dass die meisten so einen Tag schon erlebt haben. Allerdings schränkt er gleich wieder ein und unterscheidet zwischen „schönem“ und „geglücktem“ Tag. Der Leser wird auch aufgefordert sich selbst einen geglückten Tag vorzustellen. Selbstkritisch stellt er auch fest, dass er im „Älterwerden die Tages-, Lebensaugenblicke weniger halten, fassen und würdigen“ (Seite 453) kann. Viele Menschen „beginnen am Morgen mit den Vorsätzen für den einzelnen Tag und stellen am Abend in der Regel dessen Scheitern fest.“ (Seite 457)
Die Diskussion bezieht sich auch auf die Länge des „glücklichen Tages.“ Genügt ein Augenblick des Glücks, um ihn so zu nennen, oder muss er durchgängig glücklich sein? Entscheidet man für den Augenblick, dann wird das Leben im Jetzt entscheidend. Auch sei ein „vollkommener“ Tag etwas anderes als ein glücklicher. Der gläubige Autor bringt auch Gott als Einflussfaktor ins Spiel.
PS: Mit der Zusatzinformation aus einer Zeitschrift habe ich das JETZT als glückliches Element in eine persönliche Aktion aufgenommen und schreibe auf die Dauer eines Monats jeden Tag drei Dinge auf, für die ich dankbar – glücklich – war: „30 Tage 3 Dinge, für die ich dankbar bin“
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Ein philosophierender Handke stellt sich mit dieser Erzählung vor. Er stellt sich der Diskussion, was ein geglückter Tag sei. Er unterstellt dabei, dass die meisten so einen Tag schon erlebt haben. Allerdings schränkt er gleich wieder ein und unterscheidet zwischen „schönem“ und „geglücktem“ Tag. Der Leser wird auch aufgefordert sich selbst einen geglückten Tag vorzustellen. Selbstkritisch stellt er auch fest, dass er im „Älterwerden die Tages-, Lebensaugenblicke weniger halten, fassen und würdigen“ (Seite 453) kann. Viele Menschen „beginnen am Morgen mit den Vorsätzen für den einzelnen Tag und stellen am Abend in der Regel dessen Scheitern fest.“ (Seite 457)
Die Diskussion bezieht sich auch auf die Länge des „glücklichen Tages.“ Genügt ein Augenblick des Glücks, um ihn so zu nennen, oder muss er durchgängig glücklich sein? Entscheidet man für den Augenblick, dann wird das Leben im Jetzt entscheidend. Auch sei ein „vollkommener“ Tag etwas anderes als ein glücklicher. Der gläubige Autor bringt auch Gott als Einflussfaktor ins Spiel.
PS: Mit der Zusatzinformation aus einer Zeitschrift habe ich das JETZT als glückliches Element in eine persönliche Aktion aufgenommen und schreibe auf die Dauer eines Monats jeden Tag drei Dinge auf, für die ich dankbar – glücklich – war: „30 Tage 3 Dinge, für die ich dankbar bin“
RUSSWURM, Vera
Der Ameisenhaufen Buch
2021.
@book{RUSSWURM2021,
title = {Der Ameisenhaufen},
author = {Vera RUSSWURM},
year = {2021},
date = {2021-10-23},
abstract = {RUSSWURM, Vera: „Der Ameisenhaufen“, Wien 2016
Sie ist eine sehr erfolgreiche Fernsehmoderatorin und auch sympathisch. Jetzt ist sie auch Buchautorin. Freunde haben es ihr empfohlen „Schreib doch einmal, wie es hinter den Kulissen bei der Entwicklung eines quotenverdächtigen Showformats zugeht.“ Heißt es im Vorwort.
Herausgekommen ist ein Verschnitt zwischen einem Krimi und einer Beschreibung, wie es in einem Fernsehproduktionsbetrieb hergeht.
Ersteres ist nicht sehr geglückt. Zweiteres für Laien schon. Ohne den Dieb, der in diesem Roman gesucht wird, vorwegzunehmen – das soll der Leser selbst finden und bis zum Schluss auf Spannung gehalten werden. In die große Literatur wird Russwurm aber nicht eingehen. Besser ist es, sie bleibt bei ihren Stärken, die sie im Fernsehen ausspielt.
Das vorliegende Buch ist eine Story, in der sich ein Produktionsfirmenbesitzer selbst verwirklichen will. Er erfindet eine Show, bei der sehr schlimme Kindergartenkinder Erwachsene zur Verzweiflung bringen sollen. Die schlimmsten werden dabei als die besten gewertet. Gewinnen müssen aber die für die Show ernannten Laien-Erzieher. Ursprünglich sollten es Promis sein, die aber viel Geld kosten. Die anscheinend für die beschriebene Firma zu teuer sind. Interessant war aber das Preisgeld. Der Gewinner soll eine Million Euro bekommen. Da Jemand in der Firma eingebrochen und das Geld gestohlen hat, können die prominenten Freizeiterzieher nicht mehr engagiert werden und der Boss ernennt hauseigene Mitarbeiter, die sich dieses Preisgeld verdienen können. Aber auch der Dieb wird gesucht und fast Jeder/Jede verdächtigt Jenen/Jede. Ein interessantes Profil entsteht. Der Leser lernt so die unterschiedlichsten Menschentypen in dieser Branche kennen.
Die Show – sie nennt sich so wie das Buch – heißt „Ameisenhaufen“ und muss nach einigen Serien wegen des Rückgangs der Zuseherzahlen eingestellt werden. Da ist auch die Autorin Vera Russwurm besser geraten bei ihren erfolgreichen Shows zu bleiben, denn diese werden nicht so schnell eingestellt. Dazu ist sie zu gut.
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Sie ist eine sehr erfolgreiche Fernsehmoderatorin und auch sympathisch. Jetzt ist sie auch Buchautorin. Freunde haben es ihr empfohlen „Schreib doch einmal, wie es hinter den Kulissen bei der Entwicklung eines quotenverdächtigen Showformats zugeht.“ Heißt es im Vorwort.
Herausgekommen ist ein Verschnitt zwischen einem Krimi und einer Beschreibung, wie es in einem Fernsehproduktionsbetrieb hergeht.
Ersteres ist nicht sehr geglückt. Zweiteres für Laien schon. Ohne den Dieb, der in diesem Roman gesucht wird, vorwegzunehmen – das soll der Leser selbst finden und bis zum Schluss auf Spannung gehalten werden. In die große Literatur wird Russwurm aber nicht eingehen. Besser ist es, sie bleibt bei ihren Stärken, die sie im Fernsehen ausspielt.
Das vorliegende Buch ist eine Story, in der sich ein Produktionsfirmenbesitzer selbst verwirklichen will. Er erfindet eine Show, bei der sehr schlimme Kindergartenkinder Erwachsene zur Verzweiflung bringen sollen. Die schlimmsten werden dabei als die besten gewertet. Gewinnen müssen aber die für die Show ernannten Laien-Erzieher. Ursprünglich sollten es Promis sein, die aber viel Geld kosten. Die anscheinend für die beschriebene Firma zu teuer sind. Interessant war aber das Preisgeld. Der Gewinner soll eine Million Euro bekommen. Da Jemand in der Firma eingebrochen und das Geld gestohlen hat, können die prominenten Freizeiterzieher nicht mehr engagiert werden und der Boss ernennt hauseigene Mitarbeiter, die sich dieses Preisgeld verdienen können. Aber auch der Dieb wird gesucht und fast Jeder/Jede verdächtigt Jenen/Jede. Ein interessantes Profil entsteht. Der Leser lernt so die unterschiedlichsten Menschentypen in dieser Branche kennen.
Die Show – sie nennt sich so wie das Buch – heißt „Ameisenhaufen“ und muss nach einigen Serien wegen des Rückgangs der Zuseherzahlen eingestellt werden. Da ist auch die Autorin Vera Russwurm besser geraten bei ihren erfolgreichen Shows zu bleiben, denn diese werden nicht so schnell eingestellt. Dazu ist sie zu gut.
WAAL, Edmund de
Der Hase mit den Bernsteinaugen Buch
2021.
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title = {Der Hase mit den Bernsteinaugen},
author = {WAAL, Edmund de},
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date = {2021-10-18},
abstract = {WAAL de, Edmund: „Der Hase mit den Bernsteinaugen“, München 2020
In den ersten 100 Seiten findet man sich als Leser schwer zurecht. Es geht um Netsuke, kleine japanische Figuren. Viele Leser wissen gar nicht, dass es diese gibt. Der Autor entpuppt sich als Experte und kann viel darüber erzählen. Man fühlt sich fast erschlagen von diesen Informationen. Der Autor weiß wie es so einem Leser geht, wenn er auf Seite 281 sagt „man empfindet, wenn man eine Seite umblättert und bemerkt, dass man liest, ohne zu verstehen. Man muss zurückblättern und von vorn beginnen, und die Worte scheinen noch unvertrauter und klingen seltsam im Kopf.“ (Seite 281) Diesen Ratschlag empfehle ich beim Lesen, denn das Buch wird zunehmend spannend und verständlich. Da ist es dann wert die ersten Seiten nochmals zu lesen und letztlich auch zu verstehen. Die in den vorderen Seiten geschriebenen Worte werden verständlich und nicht wie der Autor sagt „noch unvertrauter“.
Jedenfalls stellen die Netsuke, diese japanischen kleinen Figuren, den roten Faden durch das Buch und die Familiengeschichte dar.
Der Autor ist selbst auch handelnde Person in dieser Familiensaga. Er, der jüngste der Familie, machte sich auf den Weg, um das Leben seiner Vorfahren zu erkunden und letztlich auch in diesem Buch festzuhalten. Die Familiendynastie der Ephrussi hat ihren Ursprung in der Ukraine als bekanntes und anerkanntes Handelsunternehmen mit dem Schwerpunkt auf Weizen. Dann expandierte das Unternehmen und schuf Aussenstellen in London, Wien und Paris. Verschiedene Familienmitglieder übersiedelten nach Wien und Paris und kamen auch dort zu Wohlstand und Ansehen. Als sie 1863 nach Wien kamen lebten hier etwa achttausend Juden. 1867 gab der österreichische Kaiser den Juden das Bürgerrecht und 1890 lebten bereits 118000 Juden in Wien.
Da es sich um eine jüdische Familie handelt, ging im Dritten Reich alles verloren. Die Ephrussis waren sehr reich und den Rothschilds ebenbürdig. „1914, vor dem Krieg, hatte Viktor ein Vermögen von fünfundzwanzig Millionen Kronen besessen, etliche Häuser in ganz Wien, das Palais Ephrussi, eine Sammlung Alter Meister und ein Jahreseinkommen von etlichen hunderttausend Kronen. Das entspricht grob geschätzt mehr als dreihundert Millionen Euro.“ (Seite 212)
Alle mussten wieder von vorne beginnen. Sie flüchteten und siedlten sich in England, Mexiko und New York an. Nur die Netsuke blieben, weil sie das Dienstmädchen Anna vor den Nazis in ihrer Schürzentasche entführte und in ihrer Matratze versteckte. In den 50er Jahren kamen sie im Koffer eines Onkels nach Japan. Von dort erbte sie der Neffe und Buchautor und verwendete sie als Leitfaden für das vorliegende Buch.
Der Autor ist ein de Waal. Sein Großvater heiratete Elisabeth, die Großmutter des Autors. Er ist es, der mit Hilfe seines Vaters und seines in Tokio wohnenden Onkels das Familienleben wieder aufrollt. Er fährt nach Paris, in die Ukraine und nach Japan um nachzuforschen. Am Ende seiner Besichtigungstour kam er nach Odessa, wo die Macht des Clans begann. Hier muss er resümierend feststellen, dass seine Vorfahren nicht geflüchtet sind. Hier gab es alles an Kultur, was sie auch in Wien und Paris erlebten. Trotzdem waren sie globale Menschen. „Charles starb als Russe in Paris. Virktor hielt das für falsch; er war 50 Jahre lang ein Russe in Wien, dann Österreicher, dann Bürger des Deutschen Reiches, dann staatenlos. Elisabeth behielt 50 Jahre lang in England die niederländische Staatsbürgerschaft. Und Iggie war Österreicher, dann Amerikaner, dann ein in Japan lebender Österreicher.“ (Seite 325) Der Onkel Iggie war eine Fundquelle für Edmunds Familienforschung. Iggie war erst in Japan sesshaft geworden. „Er war zweiundvierzig, hatte in Wien, Frankfurt, Paris, New York und Hollywood gelebt, war mit der Armee durch Frankreich nach Deutschland gezogen …“ (Seite 302) Durch die Beschreibung dieses Onkels erfährt man auch von der Situation Japans nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Land ausgebombt und von den Amerikanern besetzt war.
Großmutter Elisabeth war eine der ersten weiblichen Jurastudentinnen an der Universität Wien. Ihr Fachwissen setzte sie für die Wiedergutmachung ihrer Familie ein. Wenige Jahre nach dem Krieg war sie die erste der Familie, die nach Wien kam. Sie erzählt, wie schwierig es war von der österreichischen Regierung anerkannt zu werden. Wie man mit ehemaligen Nazis umging und wie man Juden nicht zurück haben wollte enttäuschte sie. „Die nach dem Krieg neu errichtete demokratische Republik Österreich amnestierte 1948 neunzig Prozent der NSDAP Mitglieder, 1957 auch Angehörige der SS und Gestapo“. (Seite 285) Das Vermögen der Ephrussis kam nur in kleinen Schritten und wurde sofort in das Notwendigste für die Familien, wie Schulgeld, gesteckt. Als sie ihr Elternhaus, das Palais gegenüber der Votivkirche besuchte, war dort eine amerikanische Militärbehörde untergebracht. Gegen eine geringe Abstandszahlung verzichteten sie auf weitere Ansprüche.
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In den ersten 100 Seiten findet man sich als Leser schwer zurecht. Es geht um Netsuke, kleine japanische Figuren. Viele Leser wissen gar nicht, dass es diese gibt. Der Autor entpuppt sich als Experte und kann viel darüber erzählen. Man fühlt sich fast erschlagen von diesen Informationen. Der Autor weiß wie es so einem Leser geht, wenn er auf Seite 281 sagt „man empfindet, wenn man eine Seite umblättert und bemerkt, dass man liest, ohne zu verstehen. Man muss zurückblättern und von vorn beginnen, und die Worte scheinen noch unvertrauter und klingen seltsam im Kopf.“ (Seite 281) Diesen Ratschlag empfehle ich beim Lesen, denn das Buch wird zunehmend spannend und verständlich. Da ist es dann wert die ersten Seiten nochmals zu lesen und letztlich auch zu verstehen. Die in den vorderen Seiten geschriebenen Worte werden verständlich und nicht wie der Autor sagt „noch unvertrauter“.
Jedenfalls stellen die Netsuke, diese japanischen kleinen Figuren, den roten Faden durch das Buch und die Familiengeschichte dar.
Der Autor ist selbst auch handelnde Person in dieser Familiensaga. Er, der jüngste der Familie, machte sich auf den Weg, um das Leben seiner Vorfahren zu erkunden und letztlich auch in diesem Buch festzuhalten. Die Familiendynastie der Ephrussi hat ihren Ursprung in der Ukraine als bekanntes und anerkanntes Handelsunternehmen mit dem Schwerpunkt auf Weizen. Dann expandierte das Unternehmen und schuf Aussenstellen in London, Wien und Paris. Verschiedene Familienmitglieder übersiedelten nach Wien und Paris und kamen auch dort zu Wohlstand und Ansehen. Als sie 1863 nach Wien kamen lebten hier etwa achttausend Juden. 1867 gab der österreichische Kaiser den Juden das Bürgerrecht und 1890 lebten bereits 118000 Juden in Wien.
Da es sich um eine jüdische Familie handelt, ging im Dritten Reich alles verloren. Die Ephrussis waren sehr reich und den Rothschilds ebenbürdig. „1914, vor dem Krieg, hatte Viktor ein Vermögen von fünfundzwanzig Millionen Kronen besessen, etliche Häuser in ganz Wien, das Palais Ephrussi, eine Sammlung Alter Meister und ein Jahreseinkommen von etlichen hunderttausend Kronen. Das entspricht grob geschätzt mehr als dreihundert Millionen Euro.“ (Seite 212)
Alle mussten wieder von vorne beginnen. Sie flüchteten und siedlten sich in England, Mexiko und New York an. Nur die Netsuke blieben, weil sie das Dienstmädchen Anna vor den Nazis in ihrer Schürzentasche entführte und in ihrer Matratze versteckte. In den 50er Jahren kamen sie im Koffer eines Onkels nach Japan. Von dort erbte sie der Neffe und Buchautor und verwendete sie als Leitfaden für das vorliegende Buch.
Der Autor ist ein de Waal. Sein Großvater heiratete Elisabeth, die Großmutter des Autors. Er ist es, der mit Hilfe seines Vaters und seines in Tokio wohnenden Onkels das Familienleben wieder aufrollt. Er fährt nach Paris, in die Ukraine und nach Japan um nachzuforschen. Am Ende seiner Besichtigungstour kam er nach Odessa, wo die Macht des Clans begann. Hier muss er resümierend feststellen, dass seine Vorfahren nicht geflüchtet sind. Hier gab es alles an Kultur, was sie auch in Wien und Paris erlebten. Trotzdem waren sie globale Menschen. „Charles starb als Russe in Paris. Virktor hielt das für falsch; er war 50 Jahre lang ein Russe in Wien, dann Österreicher, dann Bürger des Deutschen Reiches, dann staatenlos. Elisabeth behielt 50 Jahre lang in England die niederländische Staatsbürgerschaft. Und Iggie war Österreicher, dann Amerikaner, dann ein in Japan lebender Österreicher.“ (Seite 325) Der Onkel Iggie war eine Fundquelle für Edmunds Familienforschung. Iggie war erst in Japan sesshaft geworden. „Er war zweiundvierzig, hatte in Wien, Frankfurt, Paris, New York und Hollywood gelebt, war mit der Armee durch Frankreich nach Deutschland gezogen …“ (Seite 302) Durch die Beschreibung dieses Onkels erfährt man auch von der Situation Japans nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Land ausgebombt und von den Amerikanern besetzt war.
Großmutter Elisabeth war eine der ersten weiblichen Jurastudentinnen an der Universität Wien. Ihr Fachwissen setzte sie für die Wiedergutmachung ihrer Familie ein. Wenige Jahre nach dem Krieg war sie die erste der Familie, die nach Wien kam. Sie erzählt, wie schwierig es war von der österreichischen Regierung anerkannt zu werden. Wie man mit ehemaligen Nazis umging und wie man Juden nicht zurück haben wollte enttäuschte sie. „Die nach dem Krieg neu errichtete demokratische Republik Österreich amnestierte 1948 neunzig Prozent der NSDAP Mitglieder, 1957 auch Angehörige der SS und Gestapo“. (Seite 285) Das Vermögen der Ephrussis kam nur in kleinen Schritten und wurde sofort in das Notwendigste für die Familien, wie Schulgeld, gesteckt. Als sie ihr Elternhaus, das Palais gegenüber der Votivkirche besuchte, war dort eine amerikanische Militärbehörde untergebracht. Gegen eine geringe Abstandszahlung verzichteten sie auf weitere Ansprüche.
FREUND, René
Ans Meer Buch
2021.
@book{FREUND2021d,
title = {Ans Meer},
author = {René FREUND},
year = {2021},
date = {2021-10-10},
abstract = {FREUND, René: „Ans Meer“, Wien 2018
Ein sehr nettes und humorvolles Buch. Einfach, nicht hoch literarisch, aber schön zum Lesen.
Der Busfahrer Anton ist – obwohl schon im fortgeschrittenen Alter – von seiner Mutter stark abhängig. Schüchtern und Frauen untergeben wurde er erzogen. Doch dann lernte er seine Nachbarin kennen und nach langsamen Annäherungen verliebten sich die beiden.
Anton war Busfahrer. Täglich fuhr er dieselbe Strecke und brachte Menschen und Schüler in die Stadt von wo er sie später wieder abholte. Er kannte alle seine Passagiere und erzog sie auch dazu, dass sie grüßten.
Eine seiner Fahrgäste war eine Frau, die im Rollstuhl saß. Ihre Tochter, die zur Schule ging, begleitete sie immer und schob den Rollstuhl. Dann ergab es sich: die Frau hatte unheilbar Krebs. Sie wollte aber noch einmal in ihr Geburtsdorf an der oberen italienischen Adria. Dorthin, wo sie aufgewachsen war. Wo ihre Eltern ein Gasthaus hatten. Wo sie am Meer gelebt hat. Das wollte sie noch einmal sehen, aber kein Taxi nahm sie. Anton, der gerade Schwierigkeiten mit seiner Firma hatte, bot sich dann an, die Frau mit dem Linienbus dorthin zu führen. Viele der mitfahrenden Schülerinnen und Schüler entschieden sich mitzukommen. Anton legte Wert darauf, dass es alle freiwillig machen. Während der Fahrt entdeckten sie ganz hinten im Bus eine Frau mit Alzheimer, die dort eingeschlafen war und so auch mitkam. Die Gruppe organisierte sich. Sie waren der Gefahr ausgesetzt, von der Polizei gestoppt zu werden. Der Vater zweier mitfahrender Kinder hatte die Polizei schon alarmiert. Der Busfahrer schaffte es aber über die italienische Grenze. An einem Parkplatz machten sie Rast. Alle stiegen aus. Ein Hippiepärchen näherte sich dem Bus und entführten diesen.
Inzwischen hatte sich die Freundin von Anton auf die Suche nach ihrem Geliebten gemacht. Mit einem Ortungssystem fand sie heraus, wo er unterwegs war. Mit dem schnellen Auto ihres Bruder folgte sie dem Bus und traf am Parkplatz ein. Letztlich setzte die Gruppe die Fahrt mit diesem Auto fort. Später sahen sie, wie der entführte Bus, der jetzt von dem Hippiepärchen gefahren wurde, von einer Polizeieskorte gestopt wurde. Sie aber kamen ungeschoren und unverdächtig durch und erreichten das Ziel, das Dorf San Marco. Nochmals sah die zum Sterben verurteilte Frau ihre Heimat und erklärte alles der Gruppe, bis zwei Polizisten eintrafen. Sie waren Schulfreunde der Rollstuhlfahrerin. Anton wurde freundlich festgenommen. Im folgenden Gerichtsverfahren sagten alle positiv über Anton aus. Ja, der Rechtsanwaltsvater der beiden mitgefahrenen Schüler war der Verteidiger. Die Richterin meinte, dass es „als Juristin ihre Aufgabe, sich nicht nach Gefühlen, sondern nach dem Gestz leiten zu lassen.“ (Seite 138) So sprach sie ein sehr mildes Urteil, das Anton bald abgesessen hatte. Die Rollstuhlfahrerin war inzwischen verstorben und das Busunternehmen nahm Anton wieder auf. Kitschig, aber schön.
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Ein sehr nettes und humorvolles Buch. Einfach, nicht hoch literarisch, aber schön zum Lesen.
Der Busfahrer Anton ist – obwohl schon im fortgeschrittenen Alter – von seiner Mutter stark abhängig. Schüchtern und Frauen untergeben wurde er erzogen. Doch dann lernte er seine Nachbarin kennen und nach langsamen Annäherungen verliebten sich die beiden.
Anton war Busfahrer. Täglich fuhr er dieselbe Strecke und brachte Menschen und Schüler in die Stadt von wo er sie später wieder abholte. Er kannte alle seine Passagiere und erzog sie auch dazu, dass sie grüßten.
Eine seiner Fahrgäste war eine Frau, die im Rollstuhl saß. Ihre Tochter, die zur Schule ging, begleitete sie immer und schob den Rollstuhl. Dann ergab es sich: die Frau hatte unheilbar Krebs. Sie wollte aber noch einmal in ihr Geburtsdorf an der oberen italienischen Adria. Dorthin, wo sie aufgewachsen war. Wo ihre Eltern ein Gasthaus hatten. Wo sie am Meer gelebt hat. Das wollte sie noch einmal sehen, aber kein Taxi nahm sie. Anton, der gerade Schwierigkeiten mit seiner Firma hatte, bot sich dann an, die Frau mit dem Linienbus dorthin zu führen. Viele der mitfahrenden Schülerinnen und Schüler entschieden sich mitzukommen. Anton legte Wert darauf, dass es alle freiwillig machen. Während der Fahrt entdeckten sie ganz hinten im Bus eine Frau mit Alzheimer, die dort eingeschlafen war und so auch mitkam. Die Gruppe organisierte sich. Sie waren der Gefahr ausgesetzt, von der Polizei gestoppt zu werden. Der Vater zweier mitfahrender Kinder hatte die Polizei schon alarmiert. Der Busfahrer schaffte es aber über die italienische Grenze. An einem Parkplatz machten sie Rast. Alle stiegen aus. Ein Hippiepärchen näherte sich dem Bus und entführten diesen.
Inzwischen hatte sich die Freundin von Anton auf die Suche nach ihrem Geliebten gemacht. Mit einem Ortungssystem fand sie heraus, wo er unterwegs war. Mit dem schnellen Auto ihres Bruder folgte sie dem Bus und traf am Parkplatz ein. Letztlich setzte die Gruppe die Fahrt mit diesem Auto fort. Später sahen sie, wie der entführte Bus, der jetzt von dem Hippiepärchen gefahren wurde, von einer Polizeieskorte gestopt wurde. Sie aber kamen ungeschoren und unverdächtig durch und erreichten das Ziel, das Dorf San Marco. Nochmals sah die zum Sterben verurteilte Frau ihre Heimat und erklärte alles der Gruppe, bis zwei Polizisten eintrafen. Sie waren Schulfreunde der Rollstuhlfahrerin. Anton wurde freundlich festgenommen. Im folgenden Gerichtsverfahren sagten alle positiv über Anton aus. Ja, der Rechtsanwaltsvater der beiden mitgefahrenen Schüler war der Verteidiger. Die Richterin meinte, dass es „als Juristin ihre Aufgabe, sich nicht nach Gefühlen, sondern nach dem Gestz leiten zu lassen.“ (Seite 138) So sprach sie ein sehr mildes Urteil, das Anton bald abgesessen hatte. Die Rollstuhlfahrerin war inzwischen verstorben und das Busunternehmen nahm Anton wieder auf. Kitschig, aber schön.
Helfer, Monika
Die Bagage Buch
2021.
@book{Helfer2021b,
title = {Die Bagage},
author = {Monika Helfer},
year = {2021},
date = {2021-10-07},
abstract = {HELFER, Monika: „Die Bagage“, München 2021
Werden Bücher in den Medien hoch gepriesen bin ich oft skeptisch und lies sie erst später. So ging es mir mit diesem Buch. Ich hätte es früher lesen sollen. Es ist eine gelungene Ahnenforschung. Die zentrale Figur ist die Großmutter der Autorin. Als ihr Großvater im Ersten Weltkrieg eingerückt war bekam sie ein Kind. Es wurde ihr nachgesagt, dass es nicht vom ehelichen Vater war. Dieses Kind war die Mutter der Autorin. Deswegen investierte sie in Ahnenforschung und schrieb letztlich dieses sehr gute Buch. Als der Vater aus dem Krieg heimkommt stellt er den Bürgermeister, den er bat auf seine Frau aufzupassen, zur Rede. Von wem dieses Kind – die Mutter der Autorin – sei. Der Bürgermeister, der nach Ende der Monarchie nicht mehr Bürgermeister war, will das Gerücht entkräften und lügt letztlich, indem er sagt, er sei der Vater. Erst am Totenbett von Josef, dem Familienoberhaupt, gesteht der Bürgermeister, dass das nicht wahr sei. Seine Frau sei eine sehr ehrwürdige und treue Frau.
Bei dem Buch geht es nicht nur um die Beziehung und die Familie der Großmutter. Es ist auch eine Schilderung der Lebensverhältnisse von zwei Generationen. Es schließt in diesem Sinne an den Vorarlberger Bauern und Schriftsteller Franz Michael Felder an, der die Lebensumstände des 19. Jahrhunderts beschrieb.
Die Familie der Großmutter lebte im hintersten Tal. Es war eine arme Familie. Sie schlugen sich durchs Leben. Als die Großeltern starben hatten es die Kinder noch schwerer. Teilweise zogen sie sich gegenseitig auf. Die halbwüchsigen Buben übernahmen die Lebensmittelbeschaffung durch Wildern. Es war eine im Dorf verachtete Familie. Auch der Pfarrer wetterte gegen sie. Sie waren die „Bagage“. Die wildernden Buben wurden aber mit Hochachtung „Bagage“ genannt. „Keiner im Dorf, der die Bagage nicht bewundert hätte. Die Bagage war erst richtig geworden nach dem Tod ihrer Eltern.“ (Seite 155)
Die Großmutter hatte sieben Kinder und starb mit 32 Jahren, ihre Mutter hatte auch mehrere Kinder und Monika Helfer vier. Die Tochter Paula starb mit jungen Jahren. Den letzten Absatz des vorliegenden Buches widmet sie dieser Tochter und einem Besuch bei deren Grab.
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Werden Bücher in den Medien hoch gepriesen bin ich oft skeptisch und lies sie erst später. So ging es mir mit diesem Buch. Ich hätte es früher lesen sollen. Es ist eine gelungene Ahnenforschung. Die zentrale Figur ist die Großmutter der Autorin. Als ihr Großvater im Ersten Weltkrieg eingerückt war bekam sie ein Kind. Es wurde ihr nachgesagt, dass es nicht vom ehelichen Vater war. Dieses Kind war die Mutter der Autorin. Deswegen investierte sie in Ahnenforschung und schrieb letztlich dieses sehr gute Buch. Als der Vater aus dem Krieg heimkommt stellt er den Bürgermeister, den er bat auf seine Frau aufzupassen, zur Rede. Von wem dieses Kind – die Mutter der Autorin – sei. Der Bürgermeister, der nach Ende der Monarchie nicht mehr Bürgermeister war, will das Gerücht entkräften und lügt letztlich, indem er sagt, er sei der Vater. Erst am Totenbett von Josef, dem Familienoberhaupt, gesteht der Bürgermeister, dass das nicht wahr sei. Seine Frau sei eine sehr ehrwürdige und treue Frau.
Bei dem Buch geht es nicht nur um die Beziehung und die Familie der Großmutter. Es ist auch eine Schilderung der Lebensverhältnisse von zwei Generationen. Es schließt in diesem Sinne an den Vorarlberger Bauern und Schriftsteller Franz Michael Felder an, der die Lebensumstände des 19. Jahrhunderts beschrieb.
Die Familie der Großmutter lebte im hintersten Tal. Es war eine arme Familie. Sie schlugen sich durchs Leben. Als die Großeltern starben hatten es die Kinder noch schwerer. Teilweise zogen sie sich gegenseitig auf. Die halbwüchsigen Buben übernahmen die Lebensmittelbeschaffung durch Wildern. Es war eine im Dorf verachtete Familie. Auch der Pfarrer wetterte gegen sie. Sie waren die „Bagage“. Die wildernden Buben wurden aber mit Hochachtung „Bagage“ genannt. „Keiner im Dorf, der die Bagage nicht bewundert hätte. Die Bagage war erst richtig geworden nach dem Tod ihrer Eltern.“ (Seite 155)
Die Großmutter hatte sieben Kinder und starb mit 32 Jahren, ihre Mutter hatte auch mehrere Kinder und Monika Helfer vier. Die Tochter Paula starb mit jungen Jahren. Den letzten Absatz des vorliegenden Buches widmet sie dieser Tochter und einem Besuch bei deren Grab.
HELFER, Monika
Die Bagage Buch
2021.
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title = {Die Bagage},
author = {Monika HELFER},
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Werden Bücher in den Medien hoch gepriesen bin ich oft skeptisch und lies sie erst später. So ging es mir mit diesem Buch. Ich hätte es früher lesen sollen. Es ist eine gelungene Ahnenforschung. Die zentrale Figur ist die Großmutter der Autorin. Als ihr Großvater im Ersten Weltkrieg eingerückt war bekam sie ein Kind. Es wurde ihr nachgesagt, dass es nicht vom ehelichen Vater war. Dieses Kind war die Mutter der Autorin. Deswegen investierte sie in Ahnenforschung und schrieb letztlich dieses sehr gute Buch. Als der Vater aus dem Krieg heimkommt stellt er den Bürgermeister, den er bat auf seine Frau aufzupassen, zur Rede. Von wem dieses Kind – die Mutter der Autorin – sei. Der Bürgermeister, der nach Ende der Monarchie nicht mehr Bürgermeister war, will das Gerücht entkräften und lügt letztlich, indem er sagt, er sei der Vater. Erst am Totenbett von Josef, dem Familienoberhaupt, gesteht der Bürgermeister, dass das nicht wahr sei. Seine Frau sei eine sehr ehrwürdige und treue Frau.
Bei dem Buch geht es nicht nur um die Beziehung und die Familie der Großmutter. Es ist auch eine Schilderung der Lebensverhältnisse von zwei Generationen. Es schließt in diesem Sinne an den Vorarlberger Bauern und Schriftsteller Franz Michael Felder an, der die Lebensumstände des 19. Jahrhunderts beschrieb.
Die Familie der Großmutter lebte im hintersten Tal. Es war eine arme Familie. Sie schlugen sich durchs Leben. Als die Großeltern starben hatten es die Kinder noch schwerer. Teilweise zogen sie sich gegenseitig auf. Die halbwüchsigen Buben übernahmen die Lebensmittelbeschaffung durch Wildern. Es war eine im Dorf verachtete Familie. Auch der Pfarrer wetterte gegen sie. Sie waren die „Bagage“. Die wildernden Buben wurden aber mit Hochachtung „Bagage“ genannt. „Keiner im Dorf, der die Bagage nicht bewundert hätte. Die Bagage war erst richtig geworden nach dem Tod ihrer Eltern.“ (Seite 155)
Die Großmutter hatte sieben Kinder und starb mit 32 Jahren, ihre Mutter hatte auch mehrere Kinder und Monika Helfer vier. Die Tochter Paula starb mit jungen Jahren. Den letzten Absatz des vorliegenden Buches widmet sie dieser Tochter und einem Besuch bei deren Grab.
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Werden Bücher in den Medien hoch gepriesen bin ich oft skeptisch und lies sie erst später. So ging es mir mit diesem Buch. Ich hätte es früher lesen sollen. Es ist eine gelungene Ahnenforschung. Die zentrale Figur ist die Großmutter der Autorin. Als ihr Großvater im Ersten Weltkrieg eingerückt war bekam sie ein Kind. Es wurde ihr nachgesagt, dass es nicht vom ehelichen Vater war. Dieses Kind war die Mutter der Autorin. Deswegen investierte sie in Ahnenforschung und schrieb letztlich dieses sehr gute Buch. Als der Vater aus dem Krieg heimkommt stellt er den Bürgermeister, den er bat auf seine Frau aufzupassen, zur Rede. Von wem dieses Kind – die Mutter der Autorin – sei. Der Bürgermeister, der nach Ende der Monarchie nicht mehr Bürgermeister war, will das Gerücht entkräften und lügt letztlich, indem er sagt, er sei der Vater. Erst am Totenbett von Josef, dem Familienoberhaupt, gesteht der Bürgermeister, dass das nicht wahr sei. Seine Frau sei eine sehr ehrwürdige und treue Frau.
Bei dem Buch geht es nicht nur um die Beziehung und die Familie der Großmutter. Es ist auch eine Schilderung der Lebensverhältnisse von zwei Generationen. Es schließt in diesem Sinne an den Vorarlberger Bauern und Schriftsteller Franz Michael Felder an, der die Lebensumstände des 19. Jahrhunderts beschrieb.
Die Familie der Großmutter lebte im hintersten Tal. Es war eine arme Familie. Sie schlugen sich durchs Leben. Als die Großeltern starben hatten es die Kinder noch schwerer. Teilweise zogen sie sich gegenseitig auf. Die halbwüchsigen Buben übernahmen die Lebensmittelbeschaffung durch Wildern. Es war eine im Dorf verachtete Familie. Auch der Pfarrer wetterte gegen sie. Sie waren die „Bagage“. Die wildernden Buben wurden aber mit Hochachtung „Bagage“ genannt. „Keiner im Dorf, der die Bagage nicht bewundert hätte. Die Bagage war erst richtig geworden nach dem Tod ihrer Eltern.“ (Seite 155)
Die Großmutter hatte sieben Kinder und starb mit 32 Jahren, ihre Mutter hatte auch mehrere Kinder und Monika Helfer vier. Die Tochter Paula starb mit jungen Jahren. Den letzten Absatz des vorliegenden Buches widmet sie dieser Tochter und einem Besuch bei deren Grab.
Freund, René
Liebe unter Fischen Buch
2021.
@book{Freund2021c,
title = {Liebe unter Fischen},
author = {René Freund},
year = {2021},
date = {2021-10-01},
abstract = {FREUND, René: „Liebe unter Fischen“, Wien 2013
Am Cover des Buches ist eine Schleife angebracht auf der steht „Wer Glattauers Gut gegen Nordwind geliebt hat, wird auch an dieser herrlich komischen Liebesgeschichte seine Freude haben.“ Zwei völlig verschiedene Dichter werden da gegenübergestellt. Nun, sie kommen aus demselben Stall, aus demselben Verlag. Einer soll den anderen „ziehen“? Und doch sind beide Bücher grundverschieden. Ist das eine literarisch höher? Aber zum Freund-Roman: Ein Dichter beschreibt sich selbst. Er hat schon zwei Erfolgsbücher am Markt. Die Verlegerin, die neben ihm keinen Erfolg aufzuweisen hat, braucht ein weiteres Buch und muss eine Pleite ihres Verlags abwenden, indem sie ein Buch ankündigt, das noch gar nicht geschrieben ist und das der Dichter selbst nicht schreiben will. Er steckt in einer Krise: geht nicht aus dem Haus, trinkt zu viel Alkohol, versinkt im eigenen Schmutz …. Er schiebt sein Versagen auf seine Erziehung zurück: „Und ich habe keine Angst vor den dunklen Seiten des Lebens. Weniger jedenfalls als die meisten Menschen, die ich kenne, mich eingeschlossen. Sie wissen um die Distanz, die ich zu allen hege, auch oder vor allem zu mir selbst. Das hat sicher auch mit meiner Vergangenheit zu tun, mein Vater und so, Sie kennen das ja. Ich lebe in einem Raumanzug, gefertigt aus Ironie, genäht mit Zynismus, beschichtet mit Fremdheit. Ich komme da nur raus, wenn ich trinke oder wenn ich schreibe. Zuletzt war nur noch das Trinken geblieben.“ (Seite 58)
Die Verlegerin versucht alles und will ihn in eine Hütte in den Bergen schicken, damit er zu sich selbst findet. Dort erlebt er eine neue Welt: „… wie armselig ist doch unsere elektronische Welt geworden! … das Leben nach ein paar Tagen ohne Strom, ohne Geräte, ohne Fernseher, ohne Radio, ohne Handy, Computer. … Der ganze Lärm ist plötzlich weg, das permanente Gequatsche, der sich in den Vordergrund drängende Unsinn, mit dem wir unsere Tage einlullen, anfüllen, zumüllen. Wenn das alles verschwindet ist es plötzlich still! Ich fühle mich in Kontakt. … In Kontakt mit allem. Sogar mit mir!!“ (Seite 74)
Die Verlegerin schickt eine Freundin – eine erfolglose Schauspielerin – zur Hütte. Sie gibt sich als Biologin, Expertin für Fische, aus. Sie übt sich in einem slowakischen Akzent. Ihre Aufgabe ist es, den Dichter zum Schreiben zu führen. Die Beiden verlieben sich. Sie schämt sich ihres Jobs und reist ab. Der Dichter ist unglücklich. Der Förster der Region wirkt als Vermittler und reist mit der „Slowakin“ dem, nach Berlin heimgekehrten, Dichter nach. Es kommt zu einem Happy End. Kitschig? Vielleicht. Aber locker und flott geschrieben. Eine einfache und leichte Lektüre.
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Am Cover des Buches ist eine Schleife angebracht auf der steht „Wer Glattauers Gut gegen Nordwind geliebt hat, wird auch an dieser herrlich komischen Liebesgeschichte seine Freude haben.“ Zwei völlig verschiedene Dichter werden da gegenübergestellt. Nun, sie kommen aus demselben Stall, aus demselben Verlag. Einer soll den anderen „ziehen“? Und doch sind beide Bücher grundverschieden. Ist das eine literarisch höher? Aber zum Freund-Roman: Ein Dichter beschreibt sich selbst. Er hat schon zwei Erfolgsbücher am Markt. Die Verlegerin, die neben ihm keinen Erfolg aufzuweisen hat, braucht ein weiteres Buch und muss eine Pleite ihres Verlags abwenden, indem sie ein Buch ankündigt, das noch gar nicht geschrieben ist und das der Dichter selbst nicht schreiben will. Er steckt in einer Krise: geht nicht aus dem Haus, trinkt zu viel Alkohol, versinkt im eigenen Schmutz …. Er schiebt sein Versagen auf seine Erziehung zurück: „Und ich habe keine Angst vor den dunklen Seiten des Lebens. Weniger jedenfalls als die meisten Menschen, die ich kenne, mich eingeschlossen. Sie wissen um die Distanz, die ich zu allen hege, auch oder vor allem zu mir selbst. Das hat sicher auch mit meiner Vergangenheit zu tun, mein Vater und so, Sie kennen das ja. Ich lebe in einem Raumanzug, gefertigt aus Ironie, genäht mit Zynismus, beschichtet mit Fremdheit. Ich komme da nur raus, wenn ich trinke oder wenn ich schreibe. Zuletzt war nur noch das Trinken geblieben.“ (Seite 58)
Die Verlegerin versucht alles und will ihn in eine Hütte in den Bergen schicken, damit er zu sich selbst findet. Dort erlebt er eine neue Welt: „… wie armselig ist doch unsere elektronische Welt geworden! … das Leben nach ein paar Tagen ohne Strom, ohne Geräte, ohne Fernseher, ohne Radio, ohne Handy, Computer. … Der ganze Lärm ist plötzlich weg, das permanente Gequatsche, der sich in den Vordergrund drängende Unsinn, mit dem wir unsere Tage einlullen, anfüllen, zumüllen. Wenn das alles verschwindet ist es plötzlich still! Ich fühle mich in Kontakt. … In Kontakt mit allem. Sogar mit mir!!“ (Seite 74)
Die Verlegerin schickt eine Freundin – eine erfolglose Schauspielerin – zur Hütte. Sie gibt sich als Biologin, Expertin für Fische, aus. Sie übt sich in einem slowakischen Akzent. Ihre Aufgabe ist es, den Dichter zum Schreiben zu führen. Die Beiden verlieben sich. Sie schämt sich ihres Jobs und reist ab. Der Dichter ist unglücklich. Der Förster der Region wirkt als Vermittler und reist mit der „Slowakin“ dem, nach Berlin heimgekehrten, Dichter nach. Es kommt zu einem Happy End. Kitschig? Vielleicht. Aber locker und flott geschrieben. Eine einfache und leichte Lektüre.
MARKOVIC, Barbi (Hrsg.)
2021.
@book{MARKOVIC2021,
title = {Die verschissene Zeit},
editor = {Barbi MARKOVIC},
year = {2021},
date = {2021-09-28},
abstract = {MARKOVIC, Barbi: „Die verschissene Zeit“, Salzburg Wien 2021
Miomir hat eine Zeitmaschine erfunden, mit der er auf der Zeitachse nach vorne und zurück springen konnte. In den 90er Jahre war Krieg. Serbien hatte den Kosovo bombardiert. Die Amerikaner haben dann als Rache Serbien bombardiert und in Belgrad, dem Ort der Handlung dieses Romans, gab es Fliegeralarme. Vanja, die zentrale Proponentin, ihr Bruder Marko und dessen Freundin Kasandra waren in der Nähe des Hauses des Zeitmaschinenerfinders. Sie wollten gerade einbrechen. Da kam es zu einer hellen Erleuchtung. Miomir erklärt den Dreien fünf Jahre später, dass seine Maschine sich überhitzte und die Zeit nicht zurückgedreht hatte – er wollte in die Zeit vor dem Krieg ins Jahr 1990 – sondern nach vorne: ins Jahr 1999. Das merkten die Drei bereits seit längerem, dass sie sich an Nichts zwischen 1995 und 1999 erinnern können. Schlimmer noch sei, dass der Fehler der Zeitmaschine die Welt oder die Region um Belgrad immer in den 90er Jahren pendeln lassen würde. Man würde nie aus der schlechten Zeit und dem Kriegsgeschehen herauskommen. Sie würden in einer Warteschleife hängen bleiben. „Menschen warten und protestieren. In den Supermärkten fehlen Produkte, im Essen fehlen Zutaten, in den Köpfen Informationen und Orientierungspunkte. Busfahrer*innen, Lehrer*innen, Ärzt*innen und alle anderen Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes sind fast immer im Streik. Die Schüler*innen warten auf ihren Unterricht, Staatsbürger*innen warten auf bessere Zeiten, die Wirtschaft wartet auf Aufhebung der Sanktionen, auf Öffnung der Grenzen. Menschen warten auf das Ende des Krieges, das Fernsehpublikum wartet auf die Klärung der Lügen (und versteckt sich zugleich davor). Eure Eltern, Großeltern, Verwandten stehen in langen, unkalkulierbaren Schlangen für Öl, Mehl, Geld, Dokumenten, Benzin, Zigaretten an.“ (Seite 63/64)
Wann immer sie in einem anderen Jahr ankommen können sie sich an bestimmte Dinge erinnern, aber nicht an alles. „Man würde denken, in der eigenen Vergangenheit kennt man sich zumindest aus, da geht man hin, und alles wiederholt sich, so wie es war, aber es ist komplizierter. In einem Menschenleben gibt es viele Tage, bis zu 34675, sehr selten mehr, und an einen konkreten kannst du dich meistens nur ungefähr erinnern.“ (Seite 134)
Vanja hatte 1999 ein Tagebuch geschrieben, aus dem zitiert wird. Ein Tagebuch, das die Geschehnisse des Krieges, das Bombardement Belgrads schildert. Wie die Bevölkerung in den Kellern Zuflucht suchte.
Die Autorin beschreibt die Zeit von Jugendlichen in einem Belgrader Vorort. Eine Zeit und einen Ort, den andere Länder nicht kennen. Auch stilistisch geht sie eigene Wege. Sprachausdrücke, die woanders nicht verwendet werden (?). Eine harte Sprache, gespickt mit vielen Schimpfwörtern. Eine vulgäre Sprache, die die Situation aber beschreibt und unterstreicht.
Barbi Markovic gibt in diesem Roman den einfachen Leuten eine Stimme. „Ja, es geht NIE um uns! Wozu habt ihr unsere Generation in die Welt gesetzt, um uns zu vernachlässigen und zu ignorieren. In unseren Familien sind wir unwichtig, weil die Zeiten schwer sind. Das Land produziert unser Scheitern und nimmt unsere beschissenen Leben in Kauf, weil Armut und Krieg und Wahnsinn herrschen. Es geht nicht um uns in den Geschichten, weil unsere Lebenserfahrung eine Nischenerfahrung ist. In den Werbungen werden andere Leute angesprochen, in Filmen andere Schicksale gezeigt. Es GEHT tatsächlich NIEMANDEM UM UNS, ABER UNS, UNS GEHT ES EXTREM UM UNS.“ (Seite 216)
Aber auch die Zukunft bringt keine Verbesserung für die einfachen Leute. Zwar ist der Krieg vorbei, aber die Brutalität und Armut bleibt.
Als die drei Jugendlichen das Spiel des „Alt Jugoslawischen“ Technikers durchschauen, schalten sie ihn aus und lassen sich durch die Maschine ins Jahr 2001 versetzen. Sie hoffen, dass die schlechte Zeit vorbei sei. Da kommen sie aber auf einem Platz in Belgrad an, wo ein Schwuler verprügelt wird, wo Brutalität wie in den 90ern herrscht.
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Miomir hat eine Zeitmaschine erfunden, mit der er auf der Zeitachse nach vorne und zurück springen konnte. In den 90er Jahre war Krieg. Serbien hatte den Kosovo bombardiert. Die Amerikaner haben dann als Rache Serbien bombardiert und in Belgrad, dem Ort der Handlung dieses Romans, gab es Fliegeralarme. Vanja, die zentrale Proponentin, ihr Bruder Marko und dessen Freundin Kasandra waren in der Nähe des Hauses des Zeitmaschinenerfinders. Sie wollten gerade einbrechen. Da kam es zu einer hellen Erleuchtung. Miomir erklärt den Dreien fünf Jahre später, dass seine Maschine sich überhitzte und die Zeit nicht zurückgedreht hatte – er wollte in die Zeit vor dem Krieg ins Jahr 1990 – sondern nach vorne: ins Jahr 1999. Das merkten die Drei bereits seit längerem, dass sie sich an Nichts zwischen 1995 und 1999 erinnern können. Schlimmer noch sei, dass der Fehler der Zeitmaschine die Welt oder die Region um Belgrad immer in den 90er Jahren pendeln lassen würde. Man würde nie aus der schlechten Zeit und dem Kriegsgeschehen herauskommen. Sie würden in einer Warteschleife hängen bleiben. „Menschen warten und protestieren. In den Supermärkten fehlen Produkte, im Essen fehlen Zutaten, in den Köpfen Informationen und Orientierungspunkte. Busfahrer*innen, Lehrer*innen, Ärzt*innen und alle anderen Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes sind fast immer im Streik. Die Schüler*innen warten auf ihren Unterricht, Staatsbürger*innen warten auf bessere Zeiten, die Wirtschaft wartet auf Aufhebung der Sanktionen, auf Öffnung der Grenzen. Menschen warten auf das Ende des Krieges, das Fernsehpublikum wartet auf die Klärung der Lügen (und versteckt sich zugleich davor). Eure Eltern, Großeltern, Verwandten stehen in langen, unkalkulierbaren Schlangen für Öl, Mehl, Geld, Dokumenten, Benzin, Zigaretten an.“ (Seite 63/64)
Wann immer sie in einem anderen Jahr ankommen können sie sich an bestimmte Dinge erinnern, aber nicht an alles. „Man würde denken, in der eigenen Vergangenheit kennt man sich zumindest aus, da geht man hin, und alles wiederholt sich, so wie es war, aber es ist komplizierter. In einem Menschenleben gibt es viele Tage, bis zu 34675, sehr selten mehr, und an einen konkreten kannst du dich meistens nur ungefähr erinnern.“ (Seite 134)
Vanja hatte 1999 ein Tagebuch geschrieben, aus dem zitiert wird. Ein Tagebuch, das die Geschehnisse des Krieges, das Bombardement Belgrads schildert. Wie die Bevölkerung in den Kellern Zuflucht suchte.
Die Autorin beschreibt die Zeit von Jugendlichen in einem Belgrader Vorort. Eine Zeit und einen Ort, den andere Länder nicht kennen. Auch stilistisch geht sie eigene Wege. Sprachausdrücke, die woanders nicht verwendet werden (?). Eine harte Sprache, gespickt mit vielen Schimpfwörtern. Eine vulgäre Sprache, die die Situation aber beschreibt und unterstreicht.
Barbi Markovic gibt in diesem Roman den einfachen Leuten eine Stimme. „Ja, es geht NIE um uns! Wozu habt ihr unsere Generation in die Welt gesetzt, um uns zu vernachlässigen und zu ignorieren. In unseren Familien sind wir unwichtig, weil die Zeiten schwer sind. Das Land produziert unser Scheitern und nimmt unsere beschissenen Leben in Kauf, weil Armut und Krieg und Wahnsinn herrschen. Es geht nicht um uns in den Geschichten, weil unsere Lebenserfahrung eine Nischenerfahrung ist. In den Werbungen werden andere Leute angesprochen, in Filmen andere Schicksale gezeigt. Es GEHT tatsächlich NIEMANDEM UM UNS, ABER UNS, UNS GEHT ES EXTREM UM UNS.“ (Seite 216)
Aber auch die Zukunft bringt keine Verbesserung für die einfachen Leute. Zwar ist der Krieg vorbei, aber die Brutalität und Armut bleibt.
Als die drei Jugendlichen das Spiel des „Alt Jugoslawischen“ Technikers durchschauen, schalten sie ihn aus und lassen sich durch die Maschine ins Jahr 2001 versetzen. Sie hoffen, dass die schlechte Zeit vorbei sei. Da kommen sie aber auf einem Platz in Belgrad an, wo ein Schwuler verprügelt wird, wo Brutalität wie in den 90ern herrscht.
Katherina ROGENHOFER, Florian SCHLEDERER
Ändert sich nichts, ändert sich alles. Warum wir jetzt für unseren Planeten kämpfen müssen Buch
2021.
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title = {Ändert sich nichts, ändert sich alles. Warum wir jetzt für unseren Planeten kämpfen müssen},
author = {Katherina ROGENHOFER, Florian SCHLEDERER},
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date = {2021-09-21},
abstract = {ROGENHOFER, Katherina; SCHLEDERER, Florian: „Ändert sich nichts, ändert sich alles. Warum wir jetzt für unseren Planeten kämpfen müssen“, Wien 2021
Aufmerksam hat mich auf dieses Buch unser Bundespräsident gemacht. Eine Tageszeitung fragte Politiker, was sie im Sommerurlaub lesen werden. Van der Bellen sagte, er habe dieses Buch eingepackt. Erst beim Lesen wusste ich, warum er das tat: er wird mehrmals als Vorbild gelobt. Den Titel des Buches fand ich spannend und auch wollte ich die Gedankenwelt meiner Enkelkinder und Kinder besser verstehen und kaufte es.
In der Einleitung erklärt die Autorin die Situation der Klimakrise sehr anschaulich mit einer Bootfahrt, auf der sich Menschen aus verschiedenen Erdteilen befinden. Da sind die Reichen hinten im Boot. Sie bauen starke Motoren, um schneller fahren zu können. Sie feiern ihre Erfolge und bauen weiter. Vorne sitzen die Armen. Sie haben nur Ruder. Die Reichen rufen ihnen zu schneller zu rudern. Die Reichen schneiden sich aus dem Boot Teile heraus, um bequeme Sitze daraus zu fertigen. Wasser dringt ein. Eine Frau warnt, dass das Boot einem Wasserfall zufährt. Sie errechnet in wie vielen Minuten sie kentern werden. Die Reichen meinen, sie hätten alles im Griff und diskutieren sogar einen noch stärkeren Motor einzubauen, dann könnten sie über den Wasserfall fliegen. Sehr anschaulich wird so die Situation der Welt heute erklärt. Dann setzt die Autorin erklärend alles in Basiswissen und Fakten um.
Der Lauf des Buches wird durch persönliche Dinge der Schreiberin unterbrochen. Etwa, wie ihre Mutter eine Gehirnblutung bekommt und sie mit ihrem Vater bangt. Wie schnell sich unser Leben durch einen Vorfall ändern kann. Sie erzählt aber auch, wie sie in Indien im Regenwald ein Praktikum machte und dann in einem UNO Büro in Bonn arbeitete. So bekommt man den persönlichen Background der Autorin vermittelt. Auch die familiäre Situation: die alleinerziehende Mutter, weil der Vater die ganze Woche in der Ukraine arbeitet und nur ein Wochenendvater war.
Die Autorin nimmt viele Gebiete aufs Korn. Unbestritten bleibt das Thema Klimawandel. Da ist sie ausgebildet und engagiert. Da muss man ihr Recht geben und auch etwas Angst bekommen. Als Leser beginnt man auch nachzudenken, wo man selbst aktiv sein könnte. Was man unterlassen könnte. Als Einzelner/Einzelne kann man diese Probleme nicht lösen, aber man kann einen Beitrag leisten. So wie die Erbsünde in der Religion tragen wir aber einen negativen Fußabdruck mit uns, der nicht von uns direkt ausgelöst wurde. Der Hauptakteur sind die Wirtschaft und die Politik. Die Wirtschaft muss sich umstellen und die Politik hat es versäumt Maßnahmen und Gesetze auf die Reihe zu bringen.
Vielen Aussagen im Kapitel Wirtschaft und Politik kann ich aber nicht zustimmen. Da übersieht die Autorin, dass wir in einer Demokratie leben. Das wir verschiedene Ansichten in unserer Gesellschaft haben und die Politik darauf Rücksicht nehmen muss. Dass wir eben nicht in einer Diktatur leben. Sie stellt aber Forderungen auf, nach denen mit Gesetzen und Verordnungen eingegriffen werden muss. Das Steuersystem verändert werden soll. Irgendwie erinnert mich das an Neo-Kommunismus. An Maßnahmen, die etwa China, während der COVID Pandemie verordnet hatte. Zwar erfolgreich, aber diktatorisch.
Umgekehrt schreibt sie sich Erfolge mit der Friday for Future Organisation zugute, die sicher nicht daher kommen. So etwa das letzte Wahlergebnis Österreichs, wo – so die Meinung der Autorin – die kleinen Parteien, die auf Klimapolitik gesetzt hatten, Gewinne erzielten.
Ich las dieses Buch am Meer sitzend. Einen Kilometer von der Grenze zur Mönchrepublik Athos entfernt. Mehrere Jahrzehnte habe ich dieses Gebiet schon besucht und war nicht nur aus meditativen Gründen, sondern auch wegen der intakten Natur dort. Die Mönche haben nur angebaut was sie brauchen. Sie hatten keinen Strom und keine Autos. Sie waren also keine Umweltverschmutzer und haben das Weltklima sicher nicht negativ beeinflusst. Einmal täglich hat ein Schiff Pilger und Besucher vom griechischen Festland auf die Halbinsel gebracht. Wenn ich während des Lesens auf das Meer hinausblicke, musste ich feststellen, dass sich das geändert hat. Laufend fuhren Schnellboote vorbei. Fast jedes Kloster besitzt so eines. Sie holen damit ihre Pilger und Besucher ab und bringen sie auf schnellem Weg ans Ziel zu ihrem Kloster. Am öffentlichen Schiff sehe ich nicht nur wegen COVID19 weniger Passagiere. Bald wird man die öffentliche Schifffahrt einstellen und sagen, alle sollen mit diesen kleinen Booten kommen. Früher gab es ein Rundfahrtboot, das entlangfuhr und die einzelnen Klöster erklärte. Heute bieten mehrere Unternehmen solche Rundfahrten an und dabei gibt es weniger Touristen. Also ein umgekehrter Effekt, als in diesem Buch. Bei uns: hin zum öffentlichen und weg vom Individualverkehr. Hier umgekehrt.
Generell wird man nach dem Lesen dieses Buches sensibler gegenüber der Umwelt. Der politische Zugang, wie er über viele Seiten ausgetragen wird, könnte sich die Autorin ersparen und lieber bei der Sache „Umwelt“ bleiben. Auf alle Fälle ist das Gelesene nachhaltig!
},
keywords = {},
pubstate = {published},
tppubtype = {book}
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Aufmerksam hat mich auf dieses Buch unser Bundespräsident gemacht. Eine Tageszeitung fragte Politiker, was sie im Sommerurlaub lesen werden. Van der Bellen sagte, er habe dieses Buch eingepackt. Erst beim Lesen wusste ich, warum er das tat: er wird mehrmals als Vorbild gelobt. Den Titel des Buches fand ich spannend und auch wollte ich die Gedankenwelt meiner Enkelkinder und Kinder besser verstehen und kaufte es.
In der Einleitung erklärt die Autorin die Situation der Klimakrise sehr anschaulich mit einer Bootfahrt, auf der sich Menschen aus verschiedenen Erdteilen befinden. Da sind die Reichen hinten im Boot. Sie bauen starke Motoren, um schneller fahren zu können. Sie feiern ihre Erfolge und bauen weiter. Vorne sitzen die Armen. Sie haben nur Ruder. Die Reichen rufen ihnen zu schneller zu rudern. Die Reichen schneiden sich aus dem Boot Teile heraus, um bequeme Sitze daraus zu fertigen. Wasser dringt ein. Eine Frau warnt, dass das Boot einem Wasserfall zufährt. Sie errechnet in wie vielen Minuten sie kentern werden. Die Reichen meinen, sie hätten alles im Griff und diskutieren sogar einen noch stärkeren Motor einzubauen, dann könnten sie über den Wasserfall fliegen. Sehr anschaulich wird so die Situation der Welt heute erklärt. Dann setzt die Autorin erklärend alles in Basiswissen und Fakten um.
Der Lauf des Buches wird durch persönliche Dinge der Schreiberin unterbrochen. Etwa, wie ihre Mutter eine Gehirnblutung bekommt und sie mit ihrem Vater bangt. Wie schnell sich unser Leben durch einen Vorfall ändern kann. Sie erzählt aber auch, wie sie in Indien im Regenwald ein Praktikum machte und dann in einem UNO Büro in Bonn arbeitete. So bekommt man den persönlichen Background der Autorin vermittelt. Auch die familiäre Situation: die alleinerziehende Mutter, weil der Vater die ganze Woche in der Ukraine arbeitet und nur ein Wochenendvater war.
Die Autorin nimmt viele Gebiete aufs Korn. Unbestritten bleibt das Thema Klimawandel. Da ist sie ausgebildet und engagiert. Da muss man ihr Recht geben und auch etwas Angst bekommen. Als Leser beginnt man auch nachzudenken, wo man selbst aktiv sein könnte. Was man unterlassen könnte. Als Einzelner/Einzelne kann man diese Probleme nicht lösen, aber man kann einen Beitrag leisten. So wie die Erbsünde in der Religion tragen wir aber einen negativen Fußabdruck mit uns, der nicht von uns direkt ausgelöst wurde. Der Hauptakteur sind die Wirtschaft und die Politik. Die Wirtschaft muss sich umstellen und die Politik hat es versäumt Maßnahmen und Gesetze auf die Reihe zu bringen.
Vielen Aussagen im Kapitel Wirtschaft und Politik kann ich aber nicht zustimmen. Da übersieht die Autorin, dass wir in einer Demokratie leben. Das wir verschiedene Ansichten in unserer Gesellschaft haben und die Politik darauf Rücksicht nehmen muss. Dass wir eben nicht in einer Diktatur leben. Sie stellt aber Forderungen auf, nach denen mit Gesetzen und Verordnungen eingegriffen werden muss. Das Steuersystem verändert werden soll. Irgendwie erinnert mich das an Neo-Kommunismus. An Maßnahmen, die etwa China, während der COVID Pandemie verordnet hatte. Zwar erfolgreich, aber diktatorisch.
Umgekehrt schreibt sie sich Erfolge mit der Friday for Future Organisation zugute, die sicher nicht daher kommen. So etwa das letzte Wahlergebnis Österreichs, wo – so die Meinung der Autorin – die kleinen Parteien, die auf Klimapolitik gesetzt hatten, Gewinne erzielten.
Ich las dieses Buch am Meer sitzend. Einen Kilometer von der Grenze zur Mönchrepublik Athos entfernt. Mehrere Jahrzehnte habe ich dieses Gebiet schon besucht und war nicht nur aus meditativen Gründen, sondern auch wegen der intakten Natur dort. Die Mönche haben nur angebaut was sie brauchen. Sie hatten keinen Strom und keine Autos. Sie waren also keine Umweltverschmutzer und haben das Weltklima sicher nicht negativ beeinflusst. Einmal täglich hat ein Schiff Pilger und Besucher vom griechischen Festland auf die Halbinsel gebracht. Wenn ich während des Lesens auf das Meer hinausblicke, musste ich feststellen, dass sich das geändert hat. Laufend fuhren Schnellboote vorbei. Fast jedes Kloster besitzt so eines. Sie holen damit ihre Pilger und Besucher ab und bringen sie auf schnellem Weg ans Ziel zu ihrem Kloster. Am öffentlichen Schiff sehe ich nicht nur wegen COVID19 weniger Passagiere. Bald wird man die öffentliche Schifffahrt einstellen und sagen, alle sollen mit diesen kleinen Booten kommen. Früher gab es ein Rundfahrtboot, das entlangfuhr und die einzelnen Klöster erklärte. Heute bieten mehrere Unternehmen solche Rundfahrten an und dabei gibt es weniger Touristen. Also ein umgekehrter Effekt, als in diesem Buch. Bei uns: hin zum öffentlichen und weg vom Individualverkehr. Hier umgekehrt.
Generell wird man nach dem Lesen dieses Buches sensibler gegenüber der Umwelt. Der politische Zugang, wie er über viele Seiten ausgetragen wird, könnte sich die Autorin ersparen und lieber bei der Sache „Umwelt“ bleiben. Auf alle Fälle ist das Gelesene nachhaltig!
HENISCH, Peter
Der Jahrhundertroman Buch
2021.
@book{HENISCH2021,
title = {Der Jahrhundertroman},
author = {Peter HENISCH},
year = {2021},
date = {2021-09-17},
abstract = {HENISCH, Peter: „Der Jahrhundert Roman“, Salzburg Wien 2021
Viele alte Menschen wollen dann, im sich dem Ende zu neigenden Leben, noch eine große Sache machen. Für einen Schriftsteller ist es „der große Roman“. Der anerkannte österreichische Dichter Henisch versucht es auch. Er steckt aber seinen Wunsch in einen Protagonisten und lässt diesem erzählen, wie er einen großen „Jahrhundert Roman“ schreiben will. Als ehemaliger Bibliothekar und Buchhändler hat er die Bücher einer stillgelegten Bibliothek erworben und verwaltet sie in einem Depot. Aus diesem Material formt er einen Roman über das 20. Jahrhundert aus Aussagen und Erlebnissen von Schriftstellern.
Er hat alles handschriftlich abgefasst und findet in einer Studentin, die als Aushilfskellnerin in seinem Stammcafé arbeitet, eine Schreibkraft, die seine Aufzeichnungen in den Computer überträgt. Sie, die zum Studium nach Wien gekommen war und mit ihrer Familie gebrochen hat, braucht das Geld und nimmt den Auftrag, eine Seite für zwei Euro zu tippen, an. Schließlich stellt sie aber fest, dass sie diese Schrift nicht entziffern kann. Lange reagiert sie nicht. Als sie gesteht, die Schrift nicht lesen zu können, bietet der Verfasser an, ihr die ersten Seiten vorzulesen und sie würde sich dann an die Schreibschrift gewöhnen. Dabei stellt Roch – der Dichter – fest, dass die Seiten durcheinander gekommen sind und der Anfang fehle. Allein versucht er dann eine Ordnung zu finden. Die ersten Seiten tauchen nicht auf und so belässt er es bei einer nichtsequentiellen Reihung.
Zu jedem Dichter, zu jeder Schriftstellerin, erzählt er Hintergrundgeschichten:
• Wie Peymann, der Burgtheaterdirektor, Thomas Bernhard bittet ein alternatives Stück zum Gedenkjahr 1938 zu schreiben. Bernhard will aber nach Mallorca fahren. Letztlich wirft er das Ticket in den Papierkorb und schreibt „Heldenplatz“.
• Dotterer wird als Wehrmachtsoffizier des Hitlerregimes dargestellt, der im Nachhinein mit dieser Zeit nichts zu tun haben will. Roch unterlegt im nach seiner Festnahme den Satz „Je ne suis pas allemand, je suis autrichien.“ (Seite 154) Seine Haushälterin schreibt ihm einen Referenzbrief, in dem sie aussagt, er habe nie das Hitlerregime angehimmelt und war kein Nazi.
• Die Schwester von Ingeborg Bachmann motiviert diese, bei einem öffentlichen Wettbewerb für einen Text der österreichischen Bundeshymne einen Text einzureichen. Mit dem ausgeschriebenen Preisgeld könnten sie ihre Verhältnisse aufbessern. Ingeborg tat es nicht und sie hätte auch die Einreichfrist versäumt. Ihr Text – der in Ansätzen noch erhalten ist – wäre aber moderner gewesen…
• Friedericke Mayröcker war viele Jahre Englischlehrerin an einer Hauptschule in Favoriten. Erst spät konnte sie vom Einkommen als Dichterin leben.
• Der Mödlinger Rechtsanwalt Albert Drach wird ebenfalls erst spät „entdeckt“. Dass er den Büchner-Preis bekam, konnte er nicht mehr realisieren. Er war dement geworden. Im Buch wird eine Geschichte erzählt, bei der er mit seiner jüngeren Frau Pilze suchen war und dann irrtümlich auf die Autobahn kam. Durch den Einsatz der Polizei wird er gerettet. Er war gegen die fahrenden Autos marschiert.
• Über Kafka wird eine Liebesgeschichte mit einer Übersetzerin erzählt. Sie schreiben sich romantische Briefe. Kafka hat aber Angst vor einem persönlichen Treffen, „denn er weiß, dass er brieflich viel überzeugender ist als physisch.“ (Seite 244)
• Über Christine Nöstlinger weiß Roch zu berichten, dass sie als Kind in der Mitte der Straße, auf den Straßenbahnschienen gegangen ist, um mit einem Fuß im Bezirk Ottakring und mit dem anderen in Hernals zu sein. Auch Hemingway hatte sie angerufen. Nöstlinger aber meinte Qualtinger verstelle seine Stimme und mache ihr einen Streich. Bei dieser Geschichte überführt in die junge Studentin, denn das passte in der Zeitachse nicht zusammen.
• Elfriede Jelinek ging mit ihrer Freundin Elfriede Gerstl oft in ein Hutgeschäft, um verschiedene Modelle zu probieren und oft nichts zu kaufen. Sehr zum Ärgernis der jeweiligen Verkäuferin.
Der Jahrhundert-Roman ist also eine unsystematische Aufzählung von Dichtern. Entstanden durch das in Ordnung gebrachte Manuskript. Viele von diesen österreichischen Dichtern kannte der Dichter Roch noch aus der Zeit, in der er mit seiner Frau eine Buchhandlung betrieb.
Mit Lisa, der Studentin, brachte Henisch neben dem Jahrhundert Roman auch das Flüchtlingsproblem ein. Lisas beste Freundin ist ein Flüchtlingskind aus Syrien. Sie ist mit ihrer Familie aus dem Kriegsgebiet geflüchtet. Zuerst erzählt sie Roch von diesem Mädchen und wie es nach Österreich kam. Und dann erfährt sie aus den Nachrichten, dass ihre Freundin abgeschoben werden soll. Lisa macht sich um die Freundin Semira Sorgen, weil sie telefonisch nicht erreichbar ist. Sie konnte nicht wissen, dass die Untergetauchte ihr Telefon in der Donau versenkt hatte, um von der fahndenden Polizei nicht geortet werden zu können. Lisa fährt von Wien nach Linz, um die Freundin im verfallenen Haus ihres Großvaters zu suchen. Sie war trotz des kalten Winters dort, aber nicht mehr auffindbar. Der Freund aus der Wiener Wohngemeinschaft ruft an und berichtet, dass Semira dort eingetroffen sei. Sofort fährt sie nach Wien zurück. Die Wohngemeinschaft will aber nicht, dass die Polizei hier suchen kommt und so nebenbei Rauschgift und Hanfproduktion findet. Die Beiden müssen einen anderen Platz finden. Lisa sieht ihn im Depot des Jahrhundert-Roman-Dichters. Sie packen die wichtigsten Dinge ein und finden dabei die fehlenden Manuskriptseiten. Als die Mädchen beim Depot ankommen, wird Roch gerade von der Rettung abtransportiert. Lisa kann ihm noch sagen, dass die ersten Seiten gefunden sind. Der Schluss ist also ein Happyend und keines. Es kann aber auch umgekehrt sein. Der alte Mann könnte vielleicht noch viele Jahre leben und das Flüchtlingskind von der Polizei geschnappt werden. Oder auch nicht. Es bleibt dem Weiterdenken des Lesers überlassen.
Ob dieser Roman schreibende Dichter Peter Henisch auch ein Depot mit Büchern hat, aus denen er die Informationen für sein vorliegendes Werk nehmen konnte? Sicher hat er eine große Bibliothek. So wie jeder Dichter. Dichter konsumieren und schreiben Bücher. Der vorliegende Jahrhundert Roman ist eine ausgewählte Melange über Dichter des 20.jahrhunderts. Vieles davon ist recherchiert, aber vieles ist auch erfunden. So erfunden, dass es in die jeweilige Zeit passt.
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Viele alte Menschen wollen dann, im sich dem Ende zu neigenden Leben, noch eine große Sache machen. Für einen Schriftsteller ist es „der große Roman“. Der anerkannte österreichische Dichter Henisch versucht es auch. Er steckt aber seinen Wunsch in einen Protagonisten und lässt diesem erzählen, wie er einen großen „Jahrhundert Roman“ schreiben will. Als ehemaliger Bibliothekar und Buchhändler hat er die Bücher einer stillgelegten Bibliothek erworben und verwaltet sie in einem Depot. Aus diesem Material formt er einen Roman über das 20. Jahrhundert aus Aussagen und Erlebnissen von Schriftstellern.
Er hat alles handschriftlich abgefasst und findet in einer Studentin, die als Aushilfskellnerin in seinem Stammcafé arbeitet, eine Schreibkraft, die seine Aufzeichnungen in den Computer überträgt. Sie, die zum Studium nach Wien gekommen war und mit ihrer Familie gebrochen hat, braucht das Geld und nimmt den Auftrag, eine Seite für zwei Euro zu tippen, an. Schließlich stellt sie aber fest, dass sie diese Schrift nicht entziffern kann. Lange reagiert sie nicht. Als sie gesteht, die Schrift nicht lesen zu können, bietet der Verfasser an, ihr die ersten Seiten vorzulesen und sie würde sich dann an die Schreibschrift gewöhnen. Dabei stellt Roch – der Dichter – fest, dass die Seiten durcheinander gekommen sind und der Anfang fehle. Allein versucht er dann eine Ordnung zu finden. Die ersten Seiten tauchen nicht auf und so belässt er es bei einer nichtsequentiellen Reihung.
Zu jedem Dichter, zu jeder Schriftstellerin, erzählt er Hintergrundgeschichten:
• Wie Peymann, der Burgtheaterdirektor, Thomas Bernhard bittet ein alternatives Stück zum Gedenkjahr 1938 zu schreiben. Bernhard will aber nach Mallorca fahren. Letztlich wirft er das Ticket in den Papierkorb und schreibt „Heldenplatz“.
• Dotterer wird als Wehrmachtsoffizier des Hitlerregimes dargestellt, der im Nachhinein mit dieser Zeit nichts zu tun haben will. Roch unterlegt im nach seiner Festnahme den Satz „Je ne suis pas allemand, je suis autrichien.“ (Seite 154) Seine Haushälterin schreibt ihm einen Referenzbrief, in dem sie aussagt, er habe nie das Hitlerregime angehimmelt und war kein Nazi.
• Die Schwester von Ingeborg Bachmann motiviert diese, bei einem öffentlichen Wettbewerb für einen Text der österreichischen Bundeshymne einen Text einzureichen. Mit dem ausgeschriebenen Preisgeld könnten sie ihre Verhältnisse aufbessern. Ingeborg tat es nicht und sie hätte auch die Einreichfrist versäumt. Ihr Text – der in Ansätzen noch erhalten ist – wäre aber moderner gewesen…
• Friedericke Mayröcker war viele Jahre Englischlehrerin an einer Hauptschule in Favoriten. Erst spät konnte sie vom Einkommen als Dichterin leben.
• Der Mödlinger Rechtsanwalt Albert Drach wird ebenfalls erst spät „entdeckt“. Dass er den Büchner-Preis bekam, konnte er nicht mehr realisieren. Er war dement geworden. Im Buch wird eine Geschichte erzählt, bei der er mit seiner jüngeren Frau Pilze suchen war und dann irrtümlich auf die Autobahn kam. Durch den Einsatz der Polizei wird er gerettet. Er war gegen die fahrenden Autos marschiert.
• Über Kafka wird eine Liebesgeschichte mit einer Übersetzerin erzählt. Sie schreiben sich romantische Briefe. Kafka hat aber Angst vor einem persönlichen Treffen, „denn er weiß, dass er brieflich viel überzeugender ist als physisch.“ (Seite 244)
• Über Christine Nöstlinger weiß Roch zu berichten, dass sie als Kind in der Mitte der Straße, auf den Straßenbahnschienen gegangen ist, um mit einem Fuß im Bezirk Ottakring und mit dem anderen in Hernals zu sein. Auch Hemingway hatte sie angerufen. Nöstlinger aber meinte Qualtinger verstelle seine Stimme und mache ihr einen Streich. Bei dieser Geschichte überführt in die junge Studentin, denn das passte in der Zeitachse nicht zusammen.
• Elfriede Jelinek ging mit ihrer Freundin Elfriede Gerstl oft in ein Hutgeschäft, um verschiedene Modelle zu probieren und oft nichts zu kaufen. Sehr zum Ärgernis der jeweiligen Verkäuferin.
Der Jahrhundert-Roman ist also eine unsystematische Aufzählung von Dichtern. Entstanden durch das in Ordnung gebrachte Manuskript. Viele von diesen österreichischen Dichtern kannte der Dichter Roch noch aus der Zeit, in der er mit seiner Frau eine Buchhandlung betrieb.
Mit Lisa, der Studentin, brachte Henisch neben dem Jahrhundert Roman auch das Flüchtlingsproblem ein. Lisas beste Freundin ist ein Flüchtlingskind aus Syrien. Sie ist mit ihrer Familie aus dem Kriegsgebiet geflüchtet. Zuerst erzählt sie Roch von diesem Mädchen und wie es nach Österreich kam. Und dann erfährt sie aus den Nachrichten, dass ihre Freundin abgeschoben werden soll. Lisa macht sich um die Freundin Semira Sorgen, weil sie telefonisch nicht erreichbar ist. Sie konnte nicht wissen, dass die Untergetauchte ihr Telefon in der Donau versenkt hatte, um von der fahndenden Polizei nicht geortet werden zu können. Lisa fährt von Wien nach Linz, um die Freundin im verfallenen Haus ihres Großvaters zu suchen. Sie war trotz des kalten Winters dort, aber nicht mehr auffindbar. Der Freund aus der Wiener Wohngemeinschaft ruft an und berichtet, dass Semira dort eingetroffen sei. Sofort fährt sie nach Wien zurück. Die Wohngemeinschaft will aber nicht, dass die Polizei hier suchen kommt und so nebenbei Rauschgift und Hanfproduktion findet. Die Beiden müssen einen anderen Platz finden. Lisa sieht ihn im Depot des Jahrhundert-Roman-Dichters. Sie packen die wichtigsten Dinge ein und finden dabei die fehlenden Manuskriptseiten. Als die Mädchen beim Depot ankommen, wird Roch gerade von der Rettung abtransportiert. Lisa kann ihm noch sagen, dass die ersten Seiten gefunden sind. Der Schluss ist also ein Happyend und keines. Es kann aber auch umgekehrt sein. Der alte Mann könnte vielleicht noch viele Jahre leben und das Flüchtlingskind von der Polizei geschnappt werden. Oder auch nicht. Es bleibt dem Weiterdenken des Lesers überlassen.
Ob dieser Roman schreibende Dichter Peter Henisch auch ein Depot mit Büchern hat, aus denen er die Informationen für sein vorliegendes Werk nehmen konnte? Sicher hat er eine große Bibliothek. So wie jeder Dichter. Dichter konsumieren und schreiben Bücher. Der vorliegende Jahrhundert Roman ist eine ausgewählte Melange über Dichter des 20.jahrhunderts. Vieles davon ist recherchiert, aber vieles ist auch erfunden. So erfunden, dass es in die jeweilige Zeit passt.
FREUND, René
Mein Vater, der Deserteur. Eine Familiengeschichte Buch
2021.
@book{FREUND2021b,
title = {Mein Vater, der Deserteur. Eine Familiengeschichte},
author = {René FREUND},
year = {2021},
date = {2021-09-05},
abstract = {FREUND, René: „Mein Vater, ein Deserteur. Eine Familiengeschichte“, Wien 2014
Der Autor arbeitet die Kriegsvergangenheit seines Vaters auf. Er fand ein Tagebuch mit Aufzeichnung der Militärzeit des Vaters. Zusätzlich fuhr er mit seiner Familie nach Frankreich, um die Wege seines Vaters nachzuzeichnen. Die Welt war aber eine andere geworden. Freund stellt die Zeit des Zweiten Weltkriegs der heutigen, des 21. Jahrhunderts, gegenüber. Es ist interessant, dass erst die nachfolgenden Generationen das Problem aufarbeiten. „Wir Kinder der Kriegskinder sind die Ersten, die nicht direkt durch den Krieg traumatisiert wurden. Unsere Eltern oder Großeltern haben viel Schreckliches verdrängt, mit Wiederaufbau und Wirtschaftswunder übertönt, doch sie sind alle im Krieg hängengeblieben. Natürlich mit unterschiedlicher Intensität. Sie wollten untereinander nicht über das Erlebte sprechen, und mit ihren Kindern auch nicht. Darum kommt von ihnen – seit Jahrzehnten! – der Ruf nach dem Schlussstrich. Sie wollen von der Vergangenheit endlich nicht mehr behelligt werde. Doch wir Kinder und Enkelkinder und Urenkelkinder sind neugierig. Wir wollen verstehen. Wir stellen Fragen.“ (Seite 201)
Für jene Leser, die den Krieg (Gott sei Dank) nicht erlebt hatten, werden nochmals Fakten wiederholt, aus denen man die Tragweite des Geschehens ersehen kann. Etwa die Landung der Invasionstruppen in der Normandie mit 6000 Schiffen, 12000 Flugzeugen und 170.000 Soldaten. An manchen Abschnitten sind beim Landen 70 Prozent der Angreifer gefallen. 70.000 französische Zivilisten starben durch alliierte Truppen. „Der Preis der Freiheit war hoch.“ Der amerikanische Präsident meinte gegenüber Churchill „Wie bedauerlich zu erwartende Verluste unter den Zivilisten auch sein mögen, so bin ich nicht bereit, dem militärischen Handeln der verantwortlichen Kommandeure aus der Ferne irgendwelche Zügel anzulegen, die aus deren Sicht die Erfolge von „Overlord“ schmälern oder zusätzliche Verluste unter unseren alliierten Invasionstruppen verursachen könnten.“ (Seite 77) Diesen enormen logistischen Aufwand der Alliierten bei der Stürmung Europas stellt der Autor dem Austausch einer Küche gegenüber. Wie viele Dinge man da berücksichtigen muss und wie klein ist diese Administration im Vergleich zur Erstürmung Europas. „Seit ich mich auf die Spuren meines Vaters begeben habe, seit ich mir so richtig bewusst geworden bin, um welchen Preis unsere Freiheit erkauft wurde, macht mich die Art und Weise, wie wir mit dieser Freiheit umgehen, noch wütender.“ (Seite 198)
Freund setzt sich auch mit der Definition „Deserteur“ auseinander. War sein Vater ein Held? Fühlte er sich als Deserteur? 15.000 Deserteure wurden von der deutschen Wehrmacht getötet. Hatte der damals 19-jährige Vater Angst? Fragen, die man aus heutiger Sicht nicht mehr beantworten kann. Da dieses Buch eine Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte ist, werden viele Dinge auch besser verständlich. Am Klassenfoto des Vaters wurden über vielen Mitschülern schwarze Kreuze gezeichnet. Schwarze Kreuze für jene Mitschüler, die im Krieg gefallen sind. Gefallen unmittelbar nach dem Schulabschluss.
Während der Vater im Krieg war, ist dessen Vater gestorben und seine Mutter zog sich mit den Kindern aufs Land zurück. In der Stadt zu leben war durch die vielen Luftangriffe zu gefährlich geworden. Im Luftschutzkeller hatte sie den Kindern als Ersatz von Helmen Kochtöpfe aufgesetzt.
René Freund setzt sich sehr gut mit der Vergangenheit unserer Väter und unserer Zeit auseinander. Er gewichtet und setzt Handlungen in die Situation der jeweiligen Periode. „Wir sind wahnsinnig gut darin, das Verhalten der Menschen „damals“ mit unseren moralischen Kriterien von heute zu beurteilen. Und natürlich aus der Sicherheit von heute. Mutig ist das nicht gerade. …. Die Frage „Wie hätte ich mich damals verhalten?“ führt direkt zu der für uns viel wichtigeren Frage: Wie verhalte ich mich heute?“ (Seite 199)
Der Vater kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft, was ihm wahrscheinlich eine Exekution ersparte. Dort trat er schon als Schauspieler auf, denn das wollte er werden und als er wieder zu Hause war bekam er diese Ausbildung. Karriere machte er aber indirekt: als Direktor des österreichischen Fernsehens und später in der Filmbranche.
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Der Autor arbeitet die Kriegsvergangenheit seines Vaters auf. Er fand ein Tagebuch mit Aufzeichnung der Militärzeit des Vaters. Zusätzlich fuhr er mit seiner Familie nach Frankreich, um die Wege seines Vaters nachzuzeichnen. Die Welt war aber eine andere geworden. Freund stellt die Zeit des Zweiten Weltkriegs der heutigen, des 21. Jahrhunderts, gegenüber. Es ist interessant, dass erst die nachfolgenden Generationen das Problem aufarbeiten. „Wir Kinder der Kriegskinder sind die Ersten, die nicht direkt durch den Krieg traumatisiert wurden. Unsere Eltern oder Großeltern haben viel Schreckliches verdrängt, mit Wiederaufbau und Wirtschaftswunder übertönt, doch sie sind alle im Krieg hängengeblieben. Natürlich mit unterschiedlicher Intensität. Sie wollten untereinander nicht über das Erlebte sprechen, und mit ihren Kindern auch nicht. Darum kommt von ihnen – seit Jahrzehnten! – der Ruf nach dem Schlussstrich. Sie wollen von der Vergangenheit endlich nicht mehr behelligt werde. Doch wir Kinder und Enkelkinder und Urenkelkinder sind neugierig. Wir wollen verstehen. Wir stellen Fragen.“ (Seite 201)
Für jene Leser, die den Krieg (Gott sei Dank) nicht erlebt hatten, werden nochmals Fakten wiederholt, aus denen man die Tragweite des Geschehens ersehen kann. Etwa die Landung der Invasionstruppen in der Normandie mit 6000 Schiffen, 12000 Flugzeugen und 170.000 Soldaten. An manchen Abschnitten sind beim Landen 70 Prozent der Angreifer gefallen. 70.000 französische Zivilisten starben durch alliierte Truppen. „Der Preis der Freiheit war hoch.“ Der amerikanische Präsident meinte gegenüber Churchill „Wie bedauerlich zu erwartende Verluste unter den Zivilisten auch sein mögen, so bin ich nicht bereit, dem militärischen Handeln der verantwortlichen Kommandeure aus der Ferne irgendwelche Zügel anzulegen, die aus deren Sicht die Erfolge von „Overlord“ schmälern oder zusätzliche Verluste unter unseren alliierten Invasionstruppen verursachen könnten.“ (Seite 77) Diesen enormen logistischen Aufwand der Alliierten bei der Stürmung Europas stellt der Autor dem Austausch einer Küche gegenüber. Wie viele Dinge man da berücksichtigen muss und wie klein ist diese Administration im Vergleich zur Erstürmung Europas. „Seit ich mich auf die Spuren meines Vaters begeben habe, seit ich mir so richtig bewusst geworden bin, um welchen Preis unsere Freiheit erkauft wurde, macht mich die Art und Weise, wie wir mit dieser Freiheit umgehen, noch wütender.“ (Seite 198)
Freund setzt sich auch mit der Definition „Deserteur“ auseinander. War sein Vater ein Held? Fühlte er sich als Deserteur? 15.000 Deserteure wurden von der deutschen Wehrmacht getötet. Hatte der damals 19-jährige Vater Angst? Fragen, die man aus heutiger Sicht nicht mehr beantworten kann. Da dieses Buch eine Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte ist, werden viele Dinge auch besser verständlich. Am Klassenfoto des Vaters wurden über vielen Mitschülern schwarze Kreuze gezeichnet. Schwarze Kreuze für jene Mitschüler, die im Krieg gefallen sind. Gefallen unmittelbar nach dem Schulabschluss.
Während der Vater im Krieg war, ist dessen Vater gestorben und seine Mutter zog sich mit den Kindern aufs Land zurück. In der Stadt zu leben war durch die vielen Luftangriffe zu gefährlich geworden. Im Luftschutzkeller hatte sie den Kindern als Ersatz von Helmen Kochtöpfe aufgesetzt.
René Freund setzt sich sehr gut mit der Vergangenheit unserer Väter und unserer Zeit auseinander. Er gewichtet und setzt Handlungen in die Situation der jeweiligen Periode. „Wir sind wahnsinnig gut darin, das Verhalten der Menschen „damals“ mit unseren moralischen Kriterien von heute zu beurteilen. Und natürlich aus der Sicherheit von heute. Mutig ist das nicht gerade. …. Die Frage „Wie hätte ich mich damals verhalten?“ führt direkt zu der für uns viel wichtigeren Frage: Wie verhalte ich mich heute?“ (Seite 199)
Der Vater kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft, was ihm wahrscheinlich eine Exekution ersparte. Dort trat er schon als Schauspieler auf, denn das wollte er werden und als er wieder zu Hause war bekam er diese Ausbildung. Karriere machte er aber indirekt: als Direktor des österreichischen Fernsehens und später in der Filmbranche.
PLUHAR, Erika
Hedwig heißt man doch nicht mehr Buch
2021.
@book{PLUHAR2021,
title = {Hedwig heißt man doch nicht mehr},
author = {Erika PLUHAR},
year = {2021},
date = {2021-08-29},
abstract = {PLUHAR, Erika: „Hedwig heißt man doch nicht mehr“, Salzburg Wien 2021
In ihrer blumigen und direkten Sprache erzählt Erika Pluhar in diesem Buch, wie Hedwig, eine 50-jährige Frau aus Portugal nach Wien kommt, um das Erbe ihrer Großmutter anzutreten. Sie war bei der Großmutter aufgewachsen. Als zwölfjähriges Mädchen kamen ihre Eltern bei einem Zugunglück ums Leben und sie landete bei ihrer Oma. Hedwig lebte viele Jahre allein mit ihrer Oma. Sie besucht die Schule und studiert später an der Universität Publizistik. Da tritt erstmals ein Mann in ihr Leben: Eugen, ein Dozent am Institut gefällt ihr und sie ihm. Er führt sie in ein neues Leben. Mit Lügen muss sie von zu Hause, von der Oma wegbleiben, um ihren Eugen zu besuchen, der in einem Hotelzimmer wohnt, weil er seine Familie verlassen hatte. Dieser Eugen führte mich als Leser in einen Teil meiner eigenen Vergangenheit. Eugen war – so schien es mir beim Lesen – ein Kollege von mir. Wir führten mitsammen ein Forschungsprojekt durch und schrieben gemeinsam ein Buch. Er war auch einmal der Freund der Autorin und nur so konnte es sein, dass er eine Rolle in diesem Buch bekam. Hedwig beendet ihr Studium und findet bei einer Zeitung eine nicht erstrebenswerte Anstellung. Auch das Leben mit dem Freund Eugen veränderte sich und die Liebe erlosch. Zwar hatten sie noch zu dritt – Oma, Eugen und Hedwig – den Studienabschluss gefeiert, aber Hedwig brach zu neuen Ufern auf. Ja sie floh. Sie verließ heimlich die Oma, der sie ihre Jugendjahre verdanken hätte sollen. Sie brach aus diesem Leben aus. Versteckte unter dem Bett den Koffer, in dem sie ihr Hab und Gut zur Abreise sammelte. Zeitig am Morgen, als die Oma noch schlief, verließ sie das Haus. Hinterließ keine Adresse. Fuhr mit dem Zug zu ihrer Schulfreundin nach Berlin. Dort tauchte sie wieder ins journalistische Leben ein. Später dann wurde sie Pressereferentin bei einem Buchverlag. Sie war glücklich und doch trat wieder ein Mann in ihr Leben: ein Portugiese, mit dem sie nach Lissabon übersiedelte. Sie lernte portugiesisch und mit Hilfe des einflussreichen Freundes fand sie wieder einen Job als Journalistin. Eine Kollegin, die zur Freundin wurde, half ihr die Sprachbarriere zu überwinden. Gemeinsam fanden sie einen Hund. Sie taufte ihn Anton. Die Beziehung zum Freund verdüsterte sich. Er hatte immer weniger Zeit für sie. Sie kündigt ihren Job, der sie nicht zufrieden stellte. So war sie viel zu Hause. Plötzlich stand eine Frau vor der Tür, die sich als Freundin ihres Lebensgefährten ausgab und in Hedwig die Haushälterin sah. Weinend packte sie ihre Koffer und verließ noch am selben Tag diese Wohnung. Mit ihrem Hund Anton zog sie bei der Freundin ein. Der verlassene Freund zeigte sich aber anständig und zahlte eine Wohnung und überwies monatliche einen Betrag. Der Hund wurde so zu ihrem Lebensmittelpunkt.
Viele Männer gab es im hier erzählten Lebensabschnitt von Hedwig, aber sehr emotionell wurde es, als sie sich von ihrem verstorbenen Hund Anton verabschiedet. Das lässt die Augen keines Lesers trocken bleiben.
Wenig später übersiedelt die Freundin nach Brasilien und sie bleibt allein zurück. Sie verfällt. Pflegt sich nicht mehr. Trinkt zu viel. Nimmt Beruhigungsmedikamente. Geht nicht mehr aus. Nur das Notwendigste einzukaufen. Eigentlich sieht sie keinen Sinn mehr im Leben. Bei einem ihrer Einkaufswege erkennt sie trotz Ungepflegtheit eine entfernte Verwandte aus Wien. Man tauscht die Telefonnummern aus. Dies erlaubt es dann, dass sich ihr Cousin telefonisch meldet und mitteilt, dass die Oma schon vor 1 ½ Jahren verstorben sei. Laut Testament habe sie die Wiener Wohnung geerbt. Sie bricht wieder auf und kehrt nach Wien zurück, um diese Wohnung zu beziehen.
Die Geschichte ist in Form eines Briefes an die verstorbene Oma geschrieben. In der Wiener Wohnung schreibt sie ihr Leben nieder. Das schlechte Gewissen gegenüber ihrer Oma will sie so abstreifen. In ihren Schreibpausen, die sie in einem Restaurant verbringt, lernt sie einen Mann kennen. Das Verhältnis wird intensiver und sie befreunden sich. Das Buch aber endet mit dem letzten Briefeintrag an die Oma: dem Umzug nach Wien.
Erika Pluhar ist eine gute Erzählerin. Keine spektakulären Stories, aber sehr viel menschliches kann sie vermitteln und greift dabei auf eigene Erfahrungen zurück. Nur so kann sie authentisch das Leben in Portugal, wo sie oft war, beschreiben. Durch Zufall wurde auch ich in einen Abschnitt geführt, der mein Leben ausmachte: die Universität Wien und mein leider verstorbener Freund Eugen.
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In ihrer blumigen und direkten Sprache erzählt Erika Pluhar in diesem Buch, wie Hedwig, eine 50-jährige Frau aus Portugal nach Wien kommt, um das Erbe ihrer Großmutter anzutreten. Sie war bei der Großmutter aufgewachsen. Als zwölfjähriges Mädchen kamen ihre Eltern bei einem Zugunglück ums Leben und sie landete bei ihrer Oma. Hedwig lebte viele Jahre allein mit ihrer Oma. Sie besucht die Schule und studiert später an der Universität Publizistik. Da tritt erstmals ein Mann in ihr Leben: Eugen, ein Dozent am Institut gefällt ihr und sie ihm. Er führt sie in ein neues Leben. Mit Lügen muss sie von zu Hause, von der Oma wegbleiben, um ihren Eugen zu besuchen, der in einem Hotelzimmer wohnt, weil er seine Familie verlassen hatte. Dieser Eugen führte mich als Leser in einen Teil meiner eigenen Vergangenheit. Eugen war – so schien es mir beim Lesen – ein Kollege von mir. Wir führten mitsammen ein Forschungsprojekt durch und schrieben gemeinsam ein Buch. Er war auch einmal der Freund der Autorin und nur so konnte es sein, dass er eine Rolle in diesem Buch bekam. Hedwig beendet ihr Studium und findet bei einer Zeitung eine nicht erstrebenswerte Anstellung. Auch das Leben mit dem Freund Eugen veränderte sich und die Liebe erlosch. Zwar hatten sie noch zu dritt – Oma, Eugen und Hedwig – den Studienabschluss gefeiert, aber Hedwig brach zu neuen Ufern auf. Ja sie floh. Sie verließ heimlich die Oma, der sie ihre Jugendjahre verdanken hätte sollen. Sie brach aus diesem Leben aus. Versteckte unter dem Bett den Koffer, in dem sie ihr Hab und Gut zur Abreise sammelte. Zeitig am Morgen, als die Oma noch schlief, verließ sie das Haus. Hinterließ keine Adresse. Fuhr mit dem Zug zu ihrer Schulfreundin nach Berlin. Dort tauchte sie wieder ins journalistische Leben ein. Später dann wurde sie Pressereferentin bei einem Buchverlag. Sie war glücklich und doch trat wieder ein Mann in ihr Leben: ein Portugiese, mit dem sie nach Lissabon übersiedelte. Sie lernte portugiesisch und mit Hilfe des einflussreichen Freundes fand sie wieder einen Job als Journalistin. Eine Kollegin, die zur Freundin wurde, half ihr die Sprachbarriere zu überwinden. Gemeinsam fanden sie einen Hund. Sie taufte ihn Anton. Die Beziehung zum Freund verdüsterte sich. Er hatte immer weniger Zeit für sie. Sie kündigt ihren Job, der sie nicht zufrieden stellte. So war sie viel zu Hause. Plötzlich stand eine Frau vor der Tür, die sich als Freundin ihres Lebensgefährten ausgab und in Hedwig die Haushälterin sah. Weinend packte sie ihre Koffer und verließ noch am selben Tag diese Wohnung. Mit ihrem Hund Anton zog sie bei der Freundin ein. Der verlassene Freund zeigte sich aber anständig und zahlte eine Wohnung und überwies monatliche einen Betrag. Der Hund wurde so zu ihrem Lebensmittelpunkt.
Viele Männer gab es im hier erzählten Lebensabschnitt von Hedwig, aber sehr emotionell wurde es, als sie sich von ihrem verstorbenen Hund Anton verabschiedet. Das lässt die Augen keines Lesers trocken bleiben.
Wenig später übersiedelt die Freundin nach Brasilien und sie bleibt allein zurück. Sie verfällt. Pflegt sich nicht mehr. Trinkt zu viel. Nimmt Beruhigungsmedikamente. Geht nicht mehr aus. Nur das Notwendigste einzukaufen. Eigentlich sieht sie keinen Sinn mehr im Leben. Bei einem ihrer Einkaufswege erkennt sie trotz Ungepflegtheit eine entfernte Verwandte aus Wien. Man tauscht die Telefonnummern aus. Dies erlaubt es dann, dass sich ihr Cousin telefonisch meldet und mitteilt, dass die Oma schon vor 1 ½ Jahren verstorben sei. Laut Testament habe sie die Wiener Wohnung geerbt. Sie bricht wieder auf und kehrt nach Wien zurück, um diese Wohnung zu beziehen.
Die Geschichte ist in Form eines Briefes an die verstorbene Oma geschrieben. In der Wiener Wohnung schreibt sie ihr Leben nieder. Das schlechte Gewissen gegenüber ihrer Oma will sie so abstreifen. In ihren Schreibpausen, die sie in einem Restaurant verbringt, lernt sie einen Mann kennen. Das Verhältnis wird intensiver und sie befreunden sich. Das Buch aber endet mit dem letzten Briefeintrag an die Oma: dem Umzug nach Wien.
Erika Pluhar ist eine gute Erzählerin. Keine spektakulären Stories, aber sehr viel menschliches kann sie vermitteln und greift dabei auf eigene Erfahrungen zurück. Nur so kann sie authentisch das Leben in Portugal, wo sie oft war, beschreiben. Durch Zufall wurde auch ich in einen Abschnitt geführt, der mein Leben ausmachte: die Universität Wien und mein leider verstorbener Freund Eugen.
Köhlmeier, Michael
Bruder und Schwester Lenobel Buch
2021.
@book{Köhlmeier2021,
title = {Bruder und Schwester Lenobel},
author = {Michael Köhlmeier},
year = {2021},
date = {2021-08-21},
abstract = {KÖHLMEIER, Michael: „Bruder und Schwester Lenobel“, München 2020
Ein sehr langatmiges Werk. Über 500 Seiten braucht der Autor, um das Seelenleben von Bruder und Schwester und der Ehefrau des Bruders zu beschreiben. Weit entfernt er sich oft vom Leitthema und lässt den „Bruder“, der von Beruf Psychiater ist, eine Wand am Naschmarkt streichen. Er zahlt den dort engagierten Anstreicher, dass er ihm diese Arbeit machen lässt. Sie tauschen die Kleidung und den Stundenlohn bekommt der pausierende Maler. Sehr detailliert wird diese Szene beschrieben. Es ist dies nur ein Beispiel des Abdriftens vom Thema.
Zum Thema selbst: Die Schwester des Psychiaters, des Bruders wohnt in Irland. Sie ist eine weit gereiste Frau, die schon oft in ihrem Leben übersiedelt ist. Ganz anders der Bruder. Außer einer Hochzeitsreise nach den USA kam er noch nicht herum. Plötzlich ist er verschwunden. Die Schwägerin ruft die Schwester zu Hilfe. Sie kommt aus Dublin angereist nach Wien.
Vom Bruder erfährt man als Leser - aus einem Dialog mit seinem Freund - von seiner großen Liebe, einem Seitensprung, den er erst mit über 50 Jahren erlebte.
Zwar sind die beiden Geschwister – der Bruder und die Schwester Lenobel – die Hauptpersonen des Romans, aber es kommt auch deren Umgebung zu Wort: ein Freund der Familie, die Kinder und deren Freunde. So zieht sich die Geschichte über viele Menschenschicksale hin. Der Vater wird wieder „gesichtet“. Er ist als Halbjude nach Israel ausgewandert, wo er aber nicht Fuß fassen konnte. „Das war er: ein weitgereister Jude, der keine Sprache verstand außer der seinen und keine andere sprach, nicht einmal die Allerweltsprache. Und warum nicht? Weil er nicht aus unser aller Welt kam? Eine Prüfung, Hebräisch von Arabisch zu unterscheiden, hätte er nicht bestanden.“ (Seite 539)
Um die Qualität des Schriftstellerischen darzustellen, möchte ich hier einen kleinen Diskurs über die Zeit wiedergeben (und selbst das ist nur ein kurzer Auszug aus einem wesentlich Größeren): „Man bildet sich ein, man merkt auch wie die Zeit vergeht, aber das ist eine Illusion. Die Zeit versteckt sich hinter den Dingen, mit denen sie angefüllt wird, und wenn wir sagen, die Zeit vergeht mehr oder weniger schnell, sprechen wir in Wahrheit nicht von der Zeit, sondern von den Dingen, mit denen wir sie ausfüllen, die uns mehr oder weniger interessieren. Die Zeit für sich ist Langeweile. Sie ist ein unendlicher Schwindel, im doppelten Sinn des Wortes….“ (Seite 345)
Die Geschichte verzweigt sich auf ihren über 500 Seiten in einen breiten Stammbaum. Alles ist großartig beschrieben. Beim Lesen kamen mir Zweifel. Ist es möglich, dass ein Mann, ein Schriftsteller, soviel schreiben kann? Fast jedes Jahr kommt ein Buch in diesem Umfang. Oder hat er eine Schreibwerkstatt, wie früher Maler, die das Thema eines Bildes vorgaben und dann bestimmte Details ihren Gesellen malen ließen. Ein Kollege von mir hatte Wildwestromane – sogenannte „Schundheftl“ – geschrieben. Sein Auftraggeber setzte immer kurze Fristen. Um den Abgabetermin einzuhalten, schrieb er Tag und Nacht und seine Frau half ihm dabei. Er begann so einen Roman und bat seine Frau mit Seite 20 einen Reiter zu beschreiben, der durch eine Steppe reitet. Er endete auf der Seite 19 mit dem Erreichen dieser Steppe. So schrieb er, in Zeiten ohne Computer, in einem versetzten Modus. Hat auch Köhlmeier solche „Mitschreiber“? Zumindest deren Niveau ist hoch, so wie das des Meisters Köhlmeier.
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Ein sehr langatmiges Werk. Über 500 Seiten braucht der Autor, um das Seelenleben von Bruder und Schwester und der Ehefrau des Bruders zu beschreiben. Weit entfernt er sich oft vom Leitthema und lässt den „Bruder“, der von Beruf Psychiater ist, eine Wand am Naschmarkt streichen. Er zahlt den dort engagierten Anstreicher, dass er ihm diese Arbeit machen lässt. Sie tauschen die Kleidung und den Stundenlohn bekommt der pausierende Maler. Sehr detailliert wird diese Szene beschrieben. Es ist dies nur ein Beispiel des Abdriftens vom Thema.
Zum Thema selbst: Die Schwester des Psychiaters, des Bruders wohnt in Irland. Sie ist eine weit gereiste Frau, die schon oft in ihrem Leben übersiedelt ist. Ganz anders der Bruder. Außer einer Hochzeitsreise nach den USA kam er noch nicht herum. Plötzlich ist er verschwunden. Die Schwägerin ruft die Schwester zu Hilfe. Sie kommt aus Dublin angereist nach Wien.
Vom Bruder erfährt man als Leser - aus einem Dialog mit seinem Freund - von seiner großen Liebe, einem Seitensprung, den er erst mit über 50 Jahren erlebte.
Zwar sind die beiden Geschwister – der Bruder und die Schwester Lenobel – die Hauptpersonen des Romans, aber es kommt auch deren Umgebung zu Wort: ein Freund der Familie, die Kinder und deren Freunde. So zieht sich die Geschichte über viele Menschenschicksale hin. Der Vater wird wieder „gesichtet“. Er ist als Halbjude nach Israel ausgewandert, wo er aber nicht Fuß fassen konnte. „Das war er: ein weitgereister Jude, der keine Sprache verstand außer der seinen und keine andere sprach, nicht einmal die Allerweltsprache. Und warum nicht? Weil er nicht aus unser aller Welt kam? Eine Prüfung, Hebräisch von Arabisch zu unterscheiden, hätte er nicht bestanden.“ (Seite 539)
Um die Qualität des Schriftstellerischen darzustellen, möchte ich hier einen kleinen Diskurs über die Zeit wiedergeben (und selbst das ist nur ein kurzer Auszug aus einem wesentlich Größeren): „Man bildet sich ein, man merkt auch wie die Zeit vergeht, aber das ist eine Illusion. Die Zeit versteckt sich hinter den Dingen, mit denen sie angefüllt wird, und wenn wir sagen, die Zeit vergeht mehr oder weniger schnell, sprechen wir in Wahrheit nicht von der Zeit, sondern von den Dingen, mit denen wir sie ausfüllen, die uns mehr oder weniger interessieren. Die Zeit für sich ist Langeweile. Sie ist ein unendlicher Schwindel, im doppelten Sinn des Wortes….“ (Seite 345)
Die Geschichte verzweigt sich auf ihren über 500 Seiten in einen breiten Stammbaum. Alles ist großartig beschrieben. Beim Lesen kamen mir Zweifel. Ist es möglich, dass ein Mann, ein Schriftsteller, soviel schreiben kann? Fast jedes Jahr kommt ein Buch in diesem Umfang. Oder hat er eine Schreibwerkstatt, wie früher Maler, die das Thema eines Bildes vorgaben und dann bestimmte Details ihren Gesellen malen ließen. Ein Kollege von mir hatte Wildwestromane – sogenannte „Schundheftl“ – geschrieben. Sein Auftraggeber setzte immer kurze Fristen. Um den Abgabetermin einzuhalten, schrieb er Tag und Nacht und seine Frau half ihm dabei. Er begann so einen Roman und bat seine Frau mit Seite 20 einen Reiter zu beschreiben, der durch eine Steppe reitet. Er endete auf der Seite 19 mit dem Erreichen dieser Steppe. So schrieb er, in Zeiten ohne Computer, in einem versetzten Modus. Hat auch Köhlmeier solche „Mitschreiber“? Zumindest deren Niveau ist hoch, so wie das des Meisters Köhlmeier.
Freund, René
2021.
@book{Freund2021,
title = {Das Vierzehn-Tage Date},
author = {René Freund},
year = {2021},
date = {2021-08-06},
abstract = {FREUND, René: „Das Vierzehn-Tage Date“, Wien 2021
In der Pandemie und ihren Lock Down hatten alle viel Zeit. Auch Schriftsteller. Einer nützte es, um sich dem aktuellen Thema zu widmen: René Freund. Er tat es mit einer Quarantäne-Geschichte.
In der Internetplattform „Tinder“ kann man sich ein Date ausmachen. So tat auch es auch David und es meldete sich Corinna. Sie kam zum Treffen in der Wohnung von David zu spät. Die Beiden waren so unterschiedlich, dass Corinna nach kurzer Zeit schon wieder gehen wollte. Sie blieb aber zu einem Abendessen. Sie bestellten eine Pizza und Wein. Gebracht wurde sie von Corinnas Chef (sie arbeitete in einer Pizzeria als Kellnerin). Er küsste sie und schenkte dem Tinder-Paar das Gebrachte. Corinna war nervös. Ihr Gegenüber war ihr intellektuell überlegen. Ein Musiker, ein Musiklehrer aus gutem Haus. Sie eine einfache Frau. So trank sie viel Alkohol, um dieses Minderwertigkeitsgefühl zu überspielen. Das führte zu einer starken Trunkenheit und sie blieb eine Nacht, an die sie sich aber nachher nicht mehr erinnern kann. An diesem Folgetag erschien ein in Plastikgewand geschützter Beamter und teilte den beiden mit, dass der Pizzamann positiv auf Covid19 getestet wurde und sie beide daher 14 Tage in Quarantäne bleiben müssen. Ein Schock. Und darauf baut dieser Roman auf. Diese, so unterschiedlichen Menschen müssen zusammenleben. Irgendwie wird es aber doch eine Freundschaft, auch wenn es nicht zu Sex kam. Ganz im Gegenteil. Corinna berät David, wie er zu einer Kollegin, die er sehr verehrt, Kontakt knüpfen kann. Sie wird im Laufe der 14 Tage die Lieferantin für Essen und Getränke.
Der Autor legt den beiden isolierten Menschen auch gesellschaftspolitische Diskussionen in den Mund. Corinna etwa klassifiziert fünf Typen von Männern. Sie bringt dabei ihre Erfahrung mit Männern ein, wie bindungsfähig sie sind:
• Der Einser ist der Perfekte.
• Der Zweier ist der verkappte Frauenhasser
• Der Dreier ist verheiratet und hat Kinder.
• Der Vierer ist das große Kind.
• Der Fünfer ist der Kumpeltyp.
Viel diskutieren sie über diese Pandemie und ihre Bekämpfung. Einerseits kommen negative Argumente. Andererseits sieht ein Partner auch etwas Positives in der Situation, auch wenn es für die Beiden im Augenblick des Geschehens nicht so ist.
Ungewöhnlich dann der Ausgang, den ich hier aber nicht verrate. Nur so viel: es wird kein kitschiges Happy End.
Auch bei den Namen der Proponenten hat sich René Freund etwas überlegt: Davids Tinder Name ist David19. Kombiniert mit den Anfangsbuchstaben von Corinna und dem zweiten Teil von Davids Namen ergibt dies Co-vid19
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In der Pandemie und ihren Lock Down hatten alle viel Zeit. Auch Schriftsteller. Einer nützte es, um sich dem aktuellen Thema zu widmen: René Freund. Er tat es mit einer Quarantäne-Geschichte.
In der Internetplattform „Tinder“ kann man sich ein Date ausmachen. So tat auch es auch David und es meldete sich Corinna. Sie kam zum Treffen in der Wohnung von David zu spät. Die Beiden waren so unterschiedlich, dass Corinna nach kurzer Zeit schon wieder gehen wollte. Sie blieb aber zu einem Abendessen. Sie bestellten eine Pizza und Wein. Gebracht wurde sie von Corinnas Chef (sie arbeitete in einer Pizzeria als Kellnerin). Er küsste sie und schenkte dem Tinder-Paar das Gebrachte. Corinna war nervös. Ihr Gegenüber war ihr intellektuell überlegen. Ein Musiker, ein Musiklehrer aus gutem Haus. Sie eine einfache Frau. So trank sie viel Alkohol, um dieses Minderwertigkeitsgefühl zu überspielen. Das führte zu einer starken Trunkenheit und sie blieb eine Nacht, an die sie sich aber nachher nicht mehr erinnern kann. An diesem Folgetag erschien ein in Plastikgewand geschützter Beamter und teilte den beiden mit, dass der Pizzamann positiv auf Covid19 getestet wurde und sie beide daher 14 Tage in Quarantäne bleiben müssen. Ein Schock. Und darauf baut dieser Roman auf. Diese, so unterschiedlichen Menschen müssen zusammenleben. Irgendwie wird es aber doch eine Freundschaft, auch wenn es nicht zu Sex kam. Ganz im Gegenteil. Corinna berät David, wie er zu einer Kollegin, die er sehr verehrt, Kontakt knüpfen kann. Sie wird im Laufe der 14 Tage die Lieferantin für Essen und Getränke.
Der Autor legt den beiden isolierten Menschen auch gesellschaftspolitische Diskussionen in den Mund. Corinna etwa klassifiziert fünf Typen von Männern. Sie bringt dabei ihre Erfahrung mit Männern ein, wie bindungsfähig sie sind:
• Der Einser ist der Perfekte.
• Der Zweier ist der verkappte Frauenhasser
• Der Dreier ist verheiratet und hat Kinder.
• Der Vierer ist das große Kind.
• Der Fünfer ist der Kumpeltyp.
Viel diskutieren sie über diese Pandemie und ihre Bekämpfung. Einerseits kommen negative Argumente. Andererseits sieht ein Partner auch etwas Positives in der Situation, auch wenn es für die Beiden im Augenblick des Geschehens nicht so ist.
Ungewöhnlich dann der Ausgang, den ich hier aber nicht verrate. Nur so viel: es wird kein kitschiges Happy End.
Auch bei den Namen der Proponenten hat sich René Freund etwas überlegt: Davids Tinder Name ist David19. Kombiniert mit den Anfangsbuchstaben von Corinna und dem zweiten Teil von Davids Namen ergibt dies Co-vid19
FRISCHMUTH, Barbara
Dein Schatten tanzt in der Küche Buch
2021.
@book{FRISCHMUTH2021b,
title = {Dein Schatten tanzt in der Küche},
author = {Barbara FRISCHMUTH},
year = {2021},
date = {2021-08-01},
abstract = { FRISCHMUTH, Barbara: „Dein Schatten tanzt in der Küche“, Erzählungen, Berlin 2021
Bereits in der ersten Geschichte dieses Buches zeigt sich Barbara Frischmuth als große Meisterin der Erzählkunst. Es ist eine Geschichte, die mit dem Buben Adnan beginnt und mit ihm endet.
Darya flüchtet mit ihrem (inoffiziell) Verlobten. Ein Bub – Adnan - testet sein Messer am Schlauchboot, in dem sie flüchten und das Boot sinkt. Dabei stellt sich heraus, dass der Verlobte von Darya nicht schwimmen kann. Darya versucht ihn zu schleppen, scheitert aber und kommt bewusstlos an Land. Sie ist traumatisiert. Trotzdem fasst sie schnell Fuß. Integriert sich. Lernt die deutsche Sprache und bekommt einen Job. Um ihre Familie zu Hause nicht in Schwierigkeiten zu bringen, hält sie keinen Kontakt. Als sie dann Adnan, den Buben, der das Boot zum Sinken brachte, als Schüler bekommt, aktiviert sie wieder ihre arabische Muttersprache. Die Vergangenheit holt sie wieder ein. Sie telefoniert mit der Mutter. Vieles hat sich zu Hause verändert. Der Vater ist gestorben. Darya versucht mit Jemandem darüber zu reden, aber auch ein Freund hat keine Zeit. Sie nimmt Schlafpulver, um zu testen, wem sie abgehen würde. Leider wird sie nur mehr tot gefunden.
Auch in der folgenden Erzählung bewegt sie sich im Thema der Migration. Bei „Enkelhaft“ sucht eine Tochter das Ursprungsland der Mutter auf und hinterlässt ihr das Kind des Freundes zum Babysitten.
In „Kein Engel vor der Tür“ verliert eine mittelmäßige Schauspielerin ihre gesamte Familie. Nahe am Notstand lebend lernt sie im Alter von über 70 Jahren einen ehemaligen Freund und Liebhaber kennen. Die beiden verlieben sich und verbringen bereits die erste Nacht in der Wohnung der Frau. Am Morgen muss sie feststellen, dass der Liebhaber in ihrem Bett gestorben ist.
Das Buch umfasst fünf Geschichten. In der vorletzten – „Die Katze, die im Sprung gefror“ – wird das Leben einer Frau erzählt, wie sie aus der Stadt aufs Land zu einem Bauern zieht. Die Landwirtschaft ist nicht mehr lukrativ und er muss als Nebenerwerbsbauer weitermachen. Für seinen Sohn wird Feld für Feld und Acker für Acker verkauft, um sein Studium und dann seine wissenschaftlichen Expeditionen zu unterstützen. Letztlich wird auch das Haus verkauft und daneben ein kleines, für das alternde Paar, gebaut. Der Mann lebt nur mehr kurze Zeit und die Frau bringt sich allein durchs Leben. Ein Frauenschicksal, das es sicher oft gibt und hier von Barbara Frischmuth auf die literarische Bühne gebracht wird
Die längste Geschichte dieses Buchs ist die letzte: „Die Rötung der Tomate im Winter“. Es geht um das Paar Doris und Ödon. Jeder Person wird ein Kapitel gewidmet und so kommen die Blickwinkel dieser beiden Menschen und ihrem Schicksal zum Vorschein.
Doris verlor im sechsten Monat ihr Kind, das von Ödon stammte. Die Hochzeit war schon angesagt, als Ödon aus einer Dienstreise einen Brief schickte, um mitzuteilen, dass er glaube, sie sei nicht die richtige Frau. Die Hochzeit wurde abgesagt. Doris versuchte wieder Tritt zu fassen. Änderte Jobs und landete in einer Gärtnerei. Auch ihr Vater hatte eine Gärtnerei. In den taubstummen Sohn des Arbeitgebers verliebte sie sich. Ja, sie wurde von ihm schwanger. Als sie gemeinsam mit dem Rad unterwegs waren kam es zu einem Unfall, bei dem sie starb.
Nun die Geschichte von Ödon. Sein Vater war Alleinerzieher. Ein Künstler. Sie flüchteten aus Ungarn und zogen zu einem Onkel in Wien. Er war homosexuell und förderte das Leben des jungen Ödon. In der Schule verliebte er sich in ein junges Mädchen, das mit ihren Eltern aus Lateinamerika zurückkam und – so wie er – schlecht Deutsch sprach. Er studierte später Wirtschaft und verbrachte einen Teil der Studienzeit in England. Bedingt durch seine Sprachkenntnisse fasste er Fuß in einem Immobilienbüro. Das Paar verlor sich. Die Freundin heiratete einen Gärtner. Bei einem Begräbnis trafen sie sich wieder und er wurde eingeladen. Die ehemalige Freundin hatte ein vierjähriges Mädchen. Das Kind wuchs heran und Ödon kümmerte sich immer mehr um sie. Er war 25 Jahre älter. Trotzdem fanden sie zusammen. Und hier treffen sich die beiden Geschichten wieder. Sie wurde von ihm schwanger und verlor das Kind im sechsten Monat. Er sagte die Hochzeit ab, weil er in seinem Geburtsland in eine alte Depression zurückgefallen war und Selbstmord beging, den er aber überlebte. Er will wieder zu seiner Doris. „Bis der Tod uns scheidet!, sagte er mehrmals laut vor sich hin. Vielleicht würde es ihnen sogar gelingen, sich auch vom Tod nicht scheiden zu lassen, sondern ihm in unverbrüchlicher Gemeinsamkeit entgegenzutreten, wenn es so weit war“ (Seite 222) Mit diesem Satz endet das Buch. Ob Ödon da schon wusste, dass „seine“ Doris schon tot war? Für den Leser bleibt es offen.
Barbara Frischmuth ist nicht eine Dichterin mit gutem Namen, die eben weiter Bücher produziert, sondern jedes neue Werk ist ein Meisterwerk. Sie beruft sich nicht auf den Erfolg ihrer Vergangenheit, sie stellt ihn immer wieder neu unter Beweis.
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Bereits in der ersten Geschichte dieses Buches zeigt sich Barbara Frischmuth als große Meisterin der Erzählkunst. Es ist eine Geschichte, die mit dem Buben Adnan beginnt und mit ihm endet.
Darya flüchtet mit ihrem (inoffiziell) Verlobten. Ein Bub – Adnan - testet sein Messer am Schlauchboot, in dem sie flüchten und das Boot sinkt. Dabei stellt sich heraus, dass der Verlobte von Darya nicht schwimmen kann. Darya versucht ihn zu schleppen, scheitert aber und kommt bewusstlos an Land. Sie ist traumatisiert. Trotzdem fasst sie schnell Fuß. Integriert sich. Lernt die deutsche Sprache und bekommt einen Job. Um ihre Familie zu Hause nicht in Schwierigkeiten zu bringen, hält sie keinen Kontakt. Als sie dann Adnan, den Buben, der das Boot zum Sinken brachte, als Schüler bekommt, aktiviert sie wieder ihre arabische Muttersprache. Die Vergangenheit holt sie wieder ein. Sie telefoniert mit der Mutter. Vieles hat sich zu Hause verändert. Der Vater ist gestorben. Darya versucht mit Jemandem darüber zu reden, aber auch ein Freund hat keine Zeit. Sie nimmt Schlafpulver, um zu testen, wem sie abgehen würde. Leider wird sie nur mehr tot gefunden.
Auch in der folgenden Erzählung bewegt sie sich im Thema der Migration. Bei „Enkelhaft“ sucht eine Tochter das Ursprungsland der Mutter auf und hinterlässt ihr das Kind des Freundes zum Babysitten.
In „Kein Engel vor der Tür“ verliert eine mittelmäßige Schauspielerin ihre gesamte Familie. Nahe am Notstand lebend lernt sie im Alter von über 70 Jahren einen ehemaligen Freund und Liebhaber kennen. Die beiden verlieben sich und verbringen bereits die erste Nacht in der Wohnung der Frau. Am Morgen muss sie feststellen, dass der Liebhaber in ihrem Bett gestorben ist.
Das Buch umfasst fünf Geschichten. In der vorletzten – „Die Katze, die im Sprung gefror“ – wird das Leben einer Frau erzählt, wie sie aus der Stadt aufs Land zu einem Bauern zieht. Die Landwirtschaft ist nicht mehr lukrativ und er muss als Nebenerwerbsbauer weitermachen. Für seinen Sohn wird Feld für Feld und Acker für Acker verkauft, um sein Studium und dann seine wissenschaftlichen Expeditionen zu unterstützen. Letztlich wird auch das Haus verkauft und daneben ein kleines, für das alternde Paar, gebaut. Der Mann lebt nur mehr kurze Zeit und die Frau bringt sich allein durchs Leben. Ein Frauenschicksal, das es sicher oft gibt und hier von Barbara Frischmuth auf die literarische Bühne gebracht wird
Die längste Geschichte dieses Buchs ist die letzte: „Die Rötung der Tomate im Winter“. Es geht um das Paar Doris und Ödon. Jeder Person wird ein Kapitel gewidmet und so kommen die Blickwinkel dieser beiden Menschen und ihrem Schicksal zum Vorschein.
Doris verlor im sechsten Monat ihr Kind, das von Ödon stammte. Die Hochzeit war schon angesagt, als Ödon aus einer Dienstreise einen Brief schickte, um mitzuteilen, dass er glaube, sie sei nicht die richtige Frau. Die Hochzeit wurde abgesagt. Doris versuchte wieder Tritt zu fassen. Änderte Jobs und landete in einer Gärtnerei. Auch ihr Vater hatte eine Gärtnerei. In den taubstummen Sohn des Arbeitgebers verliebte sie sich. Ja, sie wurde von ihm schwanger. Als sie gemeinsam mit dem Rad unterwegs waren kam es zu einem Unfall, bei dem sie starb.
Nun die Geschichte von Ödon. Sein Vater war Alleinerzieher. Ein Künstler. Sie flüchteten aus Ungarn und zogen zu einem Onkel in Wien. Er war homosexuell und förderte das Leben des jungen Ödon. In der Schule verliebte er sich in ein junges Mädchen, das mit ihren Eltern aus Lateinamerika zurückkam und – so wie er – schlecht Deutsch sprach. Er studierte später Wirtschaft und verbrachte einen Teil der Studienzeit in England. Bedingt durch seine Sprachkenntnisse fasste er Fuß in einem Immobilienbüro. Das Paar verlor sich. Die Freundin heiratete einen Gärtner. Bei einem Begräbnis trafen sie sich wieder und er wurde eingeladen. Die ehemalige Freundin hatte ein vierjähriges Mädchen. Das Kind wuchs heran und Ödon kümmerte sich immer mehr um sie. Er war 25 Jahre älter. Trotzdem fanden sie zusammen. Und hier treffen sich die beiden Geschichten wieder. Sie wurde von ihm schwanger und verlor das Kind im sechsten Monat. Er sagte die Hochzeit ab, weil er in seinem Geburtsland in eine alte Depression zurückgefallen war und Selbstmord beging, den er aber überlebte. Er will wieder zu seiner Doris. „Bis der Tod uns scheidet!, sagte er mehrmals laut vor sich hin. Vielleicht würde es ihnen sogar gelingen, sich auch vom Tod nicht scheiden zu lassen, sondern ihm in unverbrüchlicher Gemeinsamkeit entgegenzutreten, wenn es so weit war“ (Seite 222) Mit diesem Satz endet das Buch. Ob Ödon da schon wusste, dass „seine“ Doris schon tot war? Für den Leser bleibt es offen.
Barbara Frischmuth ist nicht eine Dichterin mit gutem Namen, die eben weiter Bücher produziert, sondern jedes neue Werk ist ein Meisterwerk. Sie beruft sich nicht auf den Erfolg ihrer Vergangenheit, sie stellt ihn immer wieder neu unter Beweis.
Rauscher, Johann
Drei ungewöhnliche Reisen Buch
2021.
@book{Rauscher2021,
title = {Drei ungewöhnliche Reisen},
author = {Johann Rauscher},
year = {2021},
date = {2021-07-29},
abstract = {RAUSCHER, Johann: „Drei ungewöhnliche Reisen“, Munderfing 2018
Meine Erfahrungen mit dem Thema Tibet und dem Verhältnis zu China sind zwar andere, aber das vorliegende Buch von Johann Rauscher ist gut und interessant geschrieben. Natürlich steckt da auch viel Propaganda dahinter. Sowohl von chinesischer, aber auch von westlicher Seite. Die im Buch vertretenen Standpunkte in Bezug auf Tibet sind typisch westlicher Politik entnommen. Inzwischen hat sich aber viel verändert und Minderheiten wie die Tibeter werden sehr bevorzugt behandelt. Mönche bekommen ein Grundeinkommen vom Staat und Tibeter haben Steuererleichterungen.
Johann Rauscher erzählt hier von einer Reise nach Indien, wo er tibetische Einrichtungen besucht hat und letztlich sogar die Patenschaft für ein Mädchen übernommen hat. Nach 14 Jahren macht er wieder eine Reise und besucht das Patenkind, das an einer Krankenschwesternschule in Südindien studiert. Gemeinsam besuchen sie einen Onkel, der Mönch ist, in einem Kloster. So bekommt der Autor einen Einblick in das Leben der Tibeter in Indien.
Eine gute Sache, wenn man so Entwicklungshilfe leistet und die Gelder direkt ankommen.
Vielleicht kommt das Mädchen mit ihrer guten Ausbildung wieder nach Tibet, der ursprünglichen Heimat zurück.
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Meine Erfahrungen mit dem Thema Tibet und dem Verhältnis zu China sind zwar andere, aber das vorliegende Buch von Johann Rauscher ist gut und interessant geschrieben. Natürlich steckt da auch viel Propaganda dahinter. Sowohl von chinesischer, aber auch von westlicher Seite. Die im Buch vertretenen Standpunkte in Bezug auf Tibet sind typisch westlicher Politik entnommen. Inzwischen hat sich aber viel verändert und Minderheiten wie die Tibeter werden sehr bevorzugt behandelt. Mönche bekommen ein Grundeinkommen vom Staat und Tibeter haben Steuererleichterungen.
Johann Rauscher erzählt hier von einer Reise nach Indien, wo er tibetische Einrichtungen besucht hat und letztlich sogar die Patenschaft für ein Mädchen übernommen hat. Nach 14 Jahren macht er wieder eine Reise und besucht das Patenkind, das an einer Krankenschwesternschule in Südindien studiert. Gemeinsam besuchen sie einen Onkel, der Mönch ist, in einem Kloster. So bekommt der Autor einen Einblick in das Leben der Tibeter in Indien.
Eine gute Sache, wenn man so Entwicklungshilfe leistet und die Gelder direkt ankommen.
Vielleicht kommt das Mädchen mit ihrer guten Ausbildung wieder nach Tibet, der ursprünglichen Heimat zurück.