Abstract
FLASAR, Milena Michiko: „Ich nannte ihn Krawatte“, Berlin 2012
Ich hatte die Autorin beim Literaturfestival „literatur & wein“ im Stift Göttweig gehört und war von ihr sehr angetan. Die Art, wie sie ihre Texte vortrug war großartig. Mit sehr viel Emotionen und Gefühl. Richtig intensiv engagiert. Auch die Texte gefielen mir. Deswegen kaufte ich das erste Buch und war wieder begeistert. Eines der besten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Die Autorin hat eine japanische Mutter und diese Geschichte handelt auch in Japan. Dazu werden einige Wörter, die sie verwendet am Ende des Buches erklärt und übersetzt.
Es geht um einen jungen Mann, der sich in sein Zimmer eingesperrt hat. „Durch das zugestopfte Schlüsselloch konnte ich das, was draußen war, atmen hören und war erleichtert nicht länger meinen eigenen Atem mit hineinmengen zu müssen.“ (Seite 41) Man nennt solche Menschen in Japan Hikikomori. Seine Eltern stellen ihm das Essen vor die versperrte Zimmertür. Er geht erst ins Bad und holt sein Essen, wenn die Eltern weg sind. So lebte er wie ein Einsiedler mehrere Jahre in seinem Zimmer. Die Eltern sind unglücklich. Haben vieles versucht aber letztlich seinen Willen akzeptiert. Den Nachbarn sagten sie, dass der Sohn im Ausland studiere. „Ich aber habe Glück. Man rechnet nicht mit mir. Man schickt mir keinen Sozialarbeiter vor das Zimmer, der stundenlang auf mich einredet.“ (Seite 44) Irgendwann geht er aus seinem Verließ heraus und in einen Park. Ohne mit anderen Menschen Kontakt zu haben. Das macht er jetzt jeden Tag. Im gegenüber sitzt ein älterer Mann auf einer Bank. Er kommt am Morgen und geht am Abend. Mit ihm baut er erste Kommunikation auf. Zuerst nur mit Blicken und später sprechen sie; erzählen sich ihre Geschichten. „So wurde aus unserer minimalsten Bekanntschaft eine minimale Freundschaft“ (Seite 32) Der junge Mann berichtet von den Ursachen, dem Schock, warum er sich vom Leben weggesperrt hat. Als Kind war er mit einem Nachbarmädchen befreundet, das aus einer komischen und armen Familie kam. Sie selbst erzählte Dinge mit viel Phantasie. Sie zerstritten sich und in der Mittelschule saß er plötzlich mit ihr wieder in derselben Klasse. Er ignorierte sie. Sie wurde gemobbt. Zwar war sie eine sehr gute Schülerin, aber arm und stinkend. Die Mitschüler trieben sie in den Tod. Sie stürzte sich aus dem Fenster. Der junge Mann bekam schlechte Gefühle, weil er ihr nicht beigestanden war und dies war der Auslöser, dass er sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte und jeden Kontakt mit der Umwelt verweigerte.
Der ältere Mann – so kam es in den Gesprächen heraus – hatte seinen Job verloren, traute sich das aber zu Hause seiner Frau nicht zu sagen. Jeden Morgen fuhr er in die Stadt und tat so als ginge er ins Büro. Seine Frau gab ihm immer Mittagessen mit, das er dann im Park aß. Er erzählte dem Jüngeren seine Lebensgeschichte. Von seiner Frau und einem behinderten Sohn. Als er im Büro gekündigt wurde, packte er alle seine privaten Sachen in einen Sack und warf den in den Mülleimer. Das brachte ihm Erleichterung.
Irgendwann beschlossen die beiden einsamen Parkbesucher ihr Leben zu ändern und versprachen sich gegenseitig am Abend die Probleme zu lösen. Der junge Mann aß mit den Eltern zu Abend und integrierte sich. Der Ältere wollte seiner Frau gestehen, dass er arbeitslos ist. Der Jüngere erfüllte den Vorsatz, der Ältere kam bei einem Unfall ums Leben. So sagte man es seiner Frau. Der Jüngere ging immer noch in den Park, wusste aber Nichts vom Unfall und wartete auf seinen Freund. Er ging viele Wochen hin. Dann beschloss er zur Adresse des Älteren zu fahren. Dort traf er nur die Frau an und erfuhr vom Tod. Tief betroffen kam er heim.
Einige Jahre später traf der den älteren, tot geglaubten Mann. Sie gingen auf einen Drink und erzählten sich alles. Er sei schwer verletzt gewesen und wohne jetzt alleine.
Der Junge zog die Erkenntnis, dass er selbst seelisch krank war, aber auch seine Eltern, die unter dem Zustand litten. Obwohl der junge Mann wieder ins Leben zurückgekehrt war, zweifelt er. Er fragte seinen älteren Freund „Denkst du, braucht man uns? Ich meine wie uns, die vom Weg abgewichen, sich entzogen haben. Die keinen Anschluss, keine Ausbildung, keine Arbeit, nichts vorzuweisen, nichts gelernt haben außer dieses: Dass es sich lohnt, am Leben zu sein. Er macht mir Angst, der Gedanke, wir könnten jetzt, da wir es gelernt haben, immer noch lernen, nicht gebraucht werden. Immerhin sind wir gezeichnet. Wir haben einen Makel. Was, wenn man uns das nicht verzeiht?“ (Seite 131)
Ein großartiges Buch einer jungen Autorin, von der man hoffentlich noch mehr zum Lesen bekommt und die manchmal in eine andere Kultur entführt.
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