Die Würde ist antastbar

Ferdinand von SCHIRACH: Die Würde ist antastbar. 2023.

Abstract

SCHIRACH, Ferdinand von: „Die Würde ist antastbar“, München 2017
Das deutsche Grundgesetz beginnt mit dem Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Das heißt ein Menschenleben kann man nicht gegen ein anderes einsetzen. Obwohl die derzeitigen Regierungen dieses Grundgesetz aufweichen. Der amerikanische Präsident Obama freute sich, als einer der Terroristen erschossen wurde. Vier Seemänner kamen in Seenot. Um zu überleben, töteten sie den jüngsten unter ihnen und aßen ihn auf. So überlebten sie. Von einem englischen Gericht wurden sie dafür zum Tod verurteilt, wobei der Richter eine Begnadigung empfahl. Nach sechs Wochen kamen sie frei. Kant sagte, der Mensch könne sich seine eigenen moralischen Gesetze geben. Er sei Subjekt und nicht wie die Tiere ein Objekt. Kinder und Behinderte zählte er nicht zu den vernünftigen Menschen. Sie waren nur Objekte. 1985 unterschied der Rechtswissenschaftler Günther Jakobs zwischen Feindstrafrecht und Bürgerstrafrecht. Alle Menschen, die die Gesellschaft verlassen sollen Feinde sein. Sie schaden der Gesellschaft.
Im Kapitel „Weil wir nicht anders können“ zeigt der Autor auf, dass repräsentative Demokratien viele Nachteile haben und kompliziert sind. Randgruppen und Minderheiten bekommen ein starkes Stimmrecht und Aufmerksamkeit. Sie wollen, dass nicht Repräsentanten der Gesellschaft bestimmen, sondern immer alle Menschen. Das findet Schirach nicht umsetzbar. Würde man die Menschen fragen, ob Schokolade gratis sein soll, würde die Mehrheit das verlangen. Meinungsbefragungen zeigen dies ebenfalls. Nicht durchführbare Dinge bekommen eine Mehrheit bei diesen „Abstimmungen“. So könnte eine Gesellschaft nicht geführt werden.
Mit „Du bist, wer du bist“ rechtfertigt er sich für seinen Großvater, der ein überzeugter Nazi war und nach dem Krieg lange im Gefängnis saß. In seiner Schulklasse saßen die Nachkommen von Juden, Nazis und Widerstandskämpfern nebeneinander. Die Buben waren aber einer Ansicht. Sie konnten nichts für ihre Vorfahren.
Im Essay über das Rauchen und dessen Verbot („Reine Menschen, reine Luft“) zeigt der Autor als Jurist die Nachteile von gesetzlichen Einschränkungen auf. Auch Volksentscheide hält er nicht für sinnvoll: „Ich mag Volksentscheide nicht, sie scheinen unserer Demokratie fremd. Es gibt keine Schwarmintelligenz bei politischen Einzelabstimmungen, jedenfalls hat es sie früher nie gegeben. Und die neuen Nichtrauchergesetze offenbaren ein Fehlverständnis von Demokratie: Es geht eben nicht nur darum, dass gemacht wird, was die Mehrheit sagt – es geht auch um Nischen für die Minderheiten.“ (Seite 92)
Im Kapitel „Vergessene Gummistiefel“ geht es um Sicherungsverwahrung und das Recht Menschen wegzusperren, ohne sie verurteilt zu haben. Der Europäische Gerichtshof hat 2009 dagegen gestimmt. Es darf keine Strafe ohne Gesetze geben. Schon in seinem Buch „Das Geständnis“ befasste er sich mit dem Thema des erzwungenen Geständnisses durch Folter. In einem Essay führt er wieder aus, dass festgehaltene Personen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden dürfen. Für Polizisten, die das trotzdem tun verlangt er eine mehrjährige Gefängnisstrafe, Entlassung aus dem Dienst und Streichung der Pension. Im Buch wird ein Beispiel gezeigt, indem der Täter zwar die Tat begangen hat, aber das Geständnis durch Folter erzwungen wurde und daher ungültig sei.
In einem eigenen Kapitel wird dem iPad eine Lobeshymne gewidmet und dass er die Zukunft des Lesens sein wird. Und am Ende erzählt Schirach von seiner Jugend in einem Klosterinternat.
Es ist ein Buch mit Kurzgeschichten, Essays. Verlage publizieren von berühmt gewordenen Dichtern auch literarische „Abfallprodukte“. Aber auch die geben Einblick in die Arbeitsweise und Denkweise des Dichters. So auch dieses Buch. Manches ist nicht so besonders gut, aber anderes sticht wieder durch Brillanz hervor. So das Essay „Verfahren als Strafe“. Darin geht es um die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaften. Es war für mich die beste Geschichte des Buchs. Eigentlich hätte ich sie in dieser, meiner Rezension gleich zu Beginn erwähnen sollen, aber auch der Schluss eines Manuskripts wird so interessiert gelesen, wie der Beginn. Es ist auch ein aktuelles Thema, weil heute oft Personen, gegen die erst ein Verdacht besteht und ein Verfahren eingeleitet wird in den Medien vorverurteilend berichtet wird. Manchmal erfahren die Beschuldigten erst aus den Medien, dass gegen sie ein gerichtliches Verfahren eingeleitet wurde. Schirach meint „Das Verhältnis von Justiz und Presse hat sich verändert. Früher sah man immer nur einen ordentlichen Polizisten und einen älteren Staatsanwalt mit Goldbrille im Fernsehen, beide sagten mit todernstem Gesicht „Weiträumig absperren und lückenlos aufklären“. Das war beruhigend. Heute meinen die Strafverfolger, sie müssen medial präsent sein.“ (Seite 84)
Im Strafrecht gibt es nur eine Partei und die ist der Strafverteidiger. Die Staatsanwaltschaft dagegen muss objektiv sein, ausgleichend und gerecht wie ein Gericht. „Sie ist unparteiisch, sie ermittelt für und gegen den Beschuldigten, nichts anderes ist ihr gesetzlicher Auftrag. Früher wurde sie sogar die „objektivste Behörde der Welt“ genannt.“ (Seite 85) Für das Gesetz ist der Angeklagte unschuldig, bis er rechtskräftig verurteilt ist. Durch frühzeitige Veröffentlichungen werden die Beschuldigten heute oft an den Pranger gestellt. Schon im Mittelalter hat man Menschen an den Pranger gestellt und die Öffentlichkeit konnte sie beschimpfen und bespucken, ABER sie wurden NACH einer Verurteilung geprangert. Heute braucht man oft kein Urteil mehr: eine Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft stellt den Beschuldigten an den Pranger der Öffentlichkeit. Dass die Staatsanwaltschaft neutral agieren muss, ist heute oft in Vergessenheit geraten. Verteidiger und Staatsanwaltschaft stehen sich als Gegner gegenüber. Schirach schließt dieses Essay mit der Erkenntnis, dass „Staatsanwälte und Richter in der Öffentlichkeit nichts zu suchen haben.“ (Seite 88) Allein dieses Essay ist es wert, das vorliegende Buch zu lesen.

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    Im Kapitel „Weil wir nicht anders können“ zeigt der Autor auf, dass repräsentative Demokratien viele Nachteile haben und kompliziert sind. Randgruppen und Minderheiten bekommen ein starkes Stimmrecht und Aufmerksamkeit. Sie wollen, dass nicht Repräsentanten der Gesellschaft bestimmen, sondern immer alle Menschen. Das findet Schirach nicht umsetzbar. Würde man die Menschen fragen, ob Schokolade gratis sein soll, würde die Mehrheit das verlangen. Meinungsbefragungen zeigen dies ebenfalls. Nicht durchführbare Dinge bekommen eine Mehrheit bei diesen „Abstimmungen“. So könnte eine Gesellschaft nicht geführt werden.
    Mit „Du bist, wer du bist“ rechtfertigt er sich für seinen Großvater, der ein überzeugter Nazi war und nach dem Krieg lange im Gefängnis saß. In seiner Schulklasse saßen die Nachkommen von Juden, Nazis und Widerstandskämpfern nebeneinander. Die Buben waren aber einer Ansicht. Sie konnten nichts für ihre Vorfahren.
    Im Essay über das Rauchen und dessen Verbot („Reine Menschen, reine Luft“) zeigt der Autor als Jurist die Nachteile von gesetzlichen Einschränkungen auf. Auch Volksentscheide hält er nicht für sinnvoll: „Ich mag Volksentscheide nicht, sie scheinen unserer Demokratie fremd. Es gibt keine Schwarmintelligenz bei politischen Einzelabstimmungen, jedenfalls hat es sie früher nie gegeben. Und die neuen Nichtrauchergesetze offenbaren ein Fehlverständnis von Demokratie: Es geht eben nicht nur darum, dass gemacht wird, was die Mehrheit sagt – es geht auch um Nischen für die Minderheiten.“ (Seite 92) 
    Im Kapitel „Vergessene Gummistiefel“ geht es um Sicherungsverwahrung und das Recht Menschen wegzusperren, ohne sie verurteilt zu haben. Der Europäische Gerichtshof hat 2009 dagegen gestimmt. Es darf keine Strafe ohne Gesetze geben. Schon in seinem Buch „Das Geständnis“ befasste er sich mit dem Thema des erzwungenen Geständnisses durch Folter. In einem Essay führt er wieder aus, dass festgehaltene Personen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden dürfen. Für Polizisten, die das trotzdem tun verlangt er eine mehrjährige Gefängnisstrafe, Entlassung aus dem Dienst und Streichung der Pension. Im Buch wird ein Beispiel gezeigt, indem der Täter zwar die Tat begangen hat, aber das Geständnis durch Folter erzwungen wurde und daher ungültig sei. 
    In einem eigenen Kapitel wird dem iPad eine Lobeshymne gewidmet und dass er die Zukunft des Lesens sein wird. Und am Ende erzählt Schirach von seiner Jugend in einem Klosterinternat.
    Es ist ein Buch mit Kurzgeschichten, Essays. Verlage publizieren von berühmt gewordenen Dichtern auch literarische „Abfallprodukte“. Aber auch die geben Einblick in die Arbeitsweise und Denkweise des Dichters. So auch dieses Buch. Manches ist nicht so besonders gut, aber anderes sticht wieder durch Brillanz hervor. So das Essay „Verfahren als Strafe“. Darin geht es um die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaften. Es war für mich die beste Geschichte des Buchs. Eigentlich hätte ich sie in dieser, meiner Rezension gleich zu Beginn erwähnen sollen, aber auch der Schluss eines Manuskripts wird so interessiert gelesen, wie der Beginn. Es ist auch ein aktuelles Thema, weil heute oft Personen, gegen die erst ein Verdacht besteht und ein Verfahren eingeleitet wird in den Medien vorverurteilend berichtet wird. Manchmal erfahren die Beschuldigten erst aus den Medien, dass gegen sie ein gerichtliches Verfahren eingeleitet wurde. Schirach meint „Das Verhältnis von Justiz und Presse hat sich verändert. Früher sah man immer nur einen ordentlichen Polizisten und einen älteren Staatsanwalt mit Goldbrille im Fernsehen, beide sagten mit todernstem Gesicht „Weiträumig absperren und lückenlos aufklären“. Das war beruhigend. Heute meinen die Strafverfolger, sie müssen medial präsent sein.“ (Seite 84) 
    Im Strafrecht gibt es nur eine Partei und die ist der Strafverteidiger. Die Staatsanwaltschaft dagegen muss objektiv sein, ausgleichend und gerecht wie ein Gericht. „Sie ist unparteiisch, sie ermittelt für und gegen den Beschuldigten, nichts anderes ist ihr gesetzlicher Auftrag. Früher wurde sie sogar die „objektivste Behörde der Welt“ genannt.“ (Seite 85) Für das Gesetz ist der Angeklagte unschuldig, bis er rechtskräftig verurteilt ist. Durch frühzeitige Veröffentlichungen werden die Beschuldigten heute oft an den Pranger gestellt. Schon im Mittelalter hat man Menschen an den Pranger gestellt und die Öffentlichkeit konnte sie beschimpfen und bespucken, ABER sie wurden NACH einer Verurteilung geprangert. Heute braucht man oft kein Urteil mehr: eine Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft stellt den Beschuldigten an den Pranger der Öffentlichkeit. Dass die Staatsanwaltschaft neutral agieren muss, ist heute oft in Vergessenheit geraten. Verteidiger und Staatsanwaltschaft stehen sich als Gegner gegenüber. Schirach schließt dieses Essay mit der Erkenntnis, dass „Staatsanwälte und Richter in der Öffentlichkeit nichts zu suchen haben.“ (Seite 88) Allein dieses Essay ist es wert, das vorliegende Buch zu lesen.
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