Abstract
ERNAUX, Annie: „Die leeren Schränke“, Berlin 2023
Die zentrale Figur der Erzählung ist Denise Lesure. Die Autorin selbst? Alles deutet darauf hin. Als 20-jährige ist sie schwanger und sitzt im Wartezimmer vor einer Abtreibung. Dabei denkt sie über ihre Jugend nach. Sie erzählt, wie sie lebt. Die Mutter hat einen Krämerladen und der Vater eine Kneipe. Sie ist ein Einzelkind. Als die Schulreife kommt schickt man sie in eine Privatschule, eine Klosterschule. Ihre Mitschülerinnen kommen aus reichen und angesehenen Familien. Die Lehrerin verachtet sie, demütigt sie. So auch der Pfarrer. Zur ersten Beichte müssen sie ihre Sünden auf einen Zettel schreiben und im Beichtstuhl vorlesen.
Das Leben in der Schule ist ein anderes als zu Hause. Sie verschafft sich durch schulische Leistungen Anerkennung. Sie schämt sich für ihre primitiven Eltern. Will mehr sein. Sie schafft es nur durch Leistung. Nach Abschluss des Abiturs darf sie studieren. Die Eltern wenden all ihre Ersparnisse für ihre Tochter auf. Die Tochter aber hasst sie, weil sie aus einfachen Verhältnissen kommt. Sie hat Bekanntschaften mit Männern. Von einem wird sie schwanger und sucht eine Engelmacherin, um das Kind abzutreiben. Die Eltern sollen nichts davon wissen. Sie will sich „von der Flaschenbürste einer Engelmacherin ausschrubben lassen, sie erst einmal finden, sie bezahlen. … Es dauert zwei Monate, sie zu finden, in der Stadt ein Haus, in dem Haus ein Zimmer, in dem Zimmer ein Schrank, in dem Schrank eine Tasche, in der Tasche Werkzeuge und Schläuche …“ (Seite 216)
Das Mädchen Denise lebt seit dem Eintritt in die Klosterschule in zwei Welten. Die ein, die der angesehenen Mitschüler und später Studierenden, in der sie gerne leben würde, zu deren Gesellschaft sie sich hingezogen fühlt. Die andere ist ihre Realität. Der Krämerladen und die Kneipe in der Vorstadt mit primitiven und einfachen Menschen – so wie ihre Eltern. „Womöglich hatte es nie ein Gleichgewicht zwischen meinen beiden Welten gegeben. Für eine musste ich mich entscheiden, an einer musste ich mich orientieren, anders geht es nicht.“ (Seite 95) Eigentlich sollte sie den Eltern dankbar sein, dass sie ihre Schulausbildung und das Studium finanzierten, doch sie hasst sie, weil diese Welt ihr Fortkommen behindert.
So wie alle ihre Romane ist auch dieser autobiografisch. Schon als Mädchen beginnt ihre Absonderung vom Elternhaus. Weg vom Arbeiterkind zur Schriftstellerin, ein Selbstfindungsprozess, der schon früh begann.
1973 schrieb sie diesen, ihren Debütroman: „Les armoires vides“, der erst jetzt in deutscher Sprache erschien.
Links
BibTeX (Download)
@book{ERNAUX2023e, title = {Die leeren Schränke}, author = {Annie ERNAUX}, year = {2023}, date = {2023-10-29}, urldate = {2023-10-29}, abstract = {ERNAUX, Annie: „Die leeren Schränke“, Berlin 2023 Die zentrale Figur der Erzählung ist Denise Lesure. Die Autorin selbst? Alles deutet darauf hin. Als 20-jährige ist sie schwanger und sitzt im Wartezimmer vor einer Abtreibung. Dabei denkt sie über ihre Jugend nach. Sie erzählt, wie sie lebt. Die Mutter hat einen Krämerladen und der Vater eine Kneipe. Sie ist ein Einzelkind. Als die Schulreife kommt schickt man sie in eine Privatschule, eine Klosterschule. Ihre Mitschülerinnen kommen aus reichen und angesehenen Familien. Die Lehrerin verachtet sie, demütigt sie. So auch der Pfarrer. Zur ersten Beichte müssen sie ihre Sünden auf einen Zettel schreiben und im Beichtstuhl vorlesen. Das Leben in der Schule ist ein anderes als zu Hause. Sie verschafft sich durch schulische Leistungen Anerkennung. Sie schämt sich für ihre primitiven Eltern. Will mehr sein. Sie schafft es nur durch Leistung. Nach Abschluss des Abiturs darf sie studieren. Die Eltern wenden all ihre Ersparnisse für ihre Tochter auf. Die Tochter aber hasst sie, weil sie aus einfachen Verhältnissen kommt. Sie hat Bekanntschaften mit Männern. Von einem wird sie schwanger und sucht eine Engelmacherin, um das Kind abzutreiben. Die Eltern sollen nichts davon wissen. Sie will sich „von der Flaschenbürste einer Engelmacherin ausschrubben lassen, sie erst einmal finden, sie bezahlen. … Es dauert zwei Monate, sie zu finden, in der Stadt ein Haus, in dem Haus ein Zimmer, in dem Zimmer ein Schrank, in dem Schrank eine Tasche, in der Tasche Werkzeuge und Schläuche …“ (Seite 216) Das Mädchen Denise lebt seit dem Eintritt in die Klosterschule in zwei Welten. Die ein, die der angesehenen Mitschüler und später Studierenden, in der sie gerne leben würde, zu deren Gesellschaft sie sich hingezogen fühlt. Die andere ist ihre Realität. Der Krämerladen und die Kneipe in der Vorstadt mit primitiven und einfachen Menschen – so wie ihre Eltern. „Womöglich hatte es nie ein Gleichgewicht zwischen meinen beiden Welten gegeben. Für eine musste ich mich entscheiden, an einer musste ich mich orientieren, anders geht es nicht.“ (Seite 95) Eigentlich sollte sie den Eltern dankbar sein, dass sie ihre Schulausbildung und das Studium finanzierten, doch sie hasst sie, weil diese Welt ihr Fortkommen behindert. So wie alle ihre Romane ist auch dieser autobiografisch. Schon als Mädchen beginnt ihre Absonderung vom Elternhaus. Weg vom Arbeiterkind zur Schriftstellerin, ein Selbstfindungsprozess, der schon früh begann. 1973 schrieb sie diesen, ihren Debütroman: „Les armoires vides“, der erst jetzt in deutscher Sprache erschien. }, keywords = {Arm und reich, Bürgertum, Proletariat}, pubstate = {published}, tppubtype = {book} }