Abstract
MENASSE, Robert: „Die Hauptstadt“, Berlin 2017
Obwohl ich schon viele hundert Bücher rezensiert habe, habe ich Probleme über dieses Buch zu schreiben. Es ist Respekt, der mich daran fast hindert. Ursprünglich dachte ich: Menasse hat schon viel geschrieben, er hat einen guten Namen und jetzt gab man ihm eben den deutschen Buchpreis für sein lebenslanges Schaffen. Aber er bekam den Preis für den (diesen) Roman „Die Hauptstadt“, in dem er die Stadt Brüssel und die Zentrale der Europäischen Union beschreibt.
Wie er an dieses heikle Thema „Europäische Union“ herangeht ist für mich als Leser völlig unerwartet. Es ist ein wirklicher Roman, dem aber sicher viel Vorarbeit und Recherche voranging.
Der Aufbau ist wie ein Strickwerk mit verschieden färbigen Wollfäden. Mehrere Geschichten werden zu einem Roman zusammengeführt:
• Ein ehemaliger Auschwitzhäftling, der seine Brüsseler Wohnung aufgeben muss, weil das Haus abgerissen wird. Er übersiedelt in ein Seniorenheim.
• Eine griechisch-Zypriotische EU-Angestellte, die Karriere machen will und ein Direktor, den sie um Unterstützung bittet.
• Ein polnischer Agent, der als Geheimpolizist für die katholische Kirche arbeitet.
• Ein österreichischer Wirtschaftsprofessor.
• Ein belgischer Polizeikommissar.
• Ein österreichischer Schweinezüchter und sein Bruder, der in der EU in Brüssel arbeitet.
• Ein Schwein, das durch die Straßen von Brüssel läuft.
Die gemeinsame Bühne der handelnden Personen ist die Hauptstadt der Europäischen Union: Brüssel, wenngleich viele Handlungen in einzelne EU-Länder wie Polen verlegt werden.
Im ersten Eindruck meint man „das kann doch nicht zusammenpassen“, aber dann muss man feststellen, dass es ein geniales Konzept ist die Europäische Union den Lesern näher zu bringen. Ich denke etwa im Referat des österreichischen Wirtschaftsprofessors vor einer Arbeitsgruppe in der EU in Brüssel könnten Politiker etwas lernen. Er gibt Vorschläge, wie man das Image der Europäischen Union wieder verbessern könnte und wagt sich so weit vor, dass er die Gründung einer eigenen EU-Hauptstadt vorschlägt. So absurd es klingen mag: es soll in Auschwitz gebaut werden. Er kritisiert es, dass die Europäische Union im heutigen Status eine Vereinigung von Nationalstaaten ist, aber kein vereintes Europa. „Das 20. Jahrhundert hätte die Transformation der Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts in die Menschheitsökonomie des 21. Jahrhunderts sein sollen.“ (Seite 385)
Auch im Detail gibt es viele schöne Sätze und Vergleiche, wie etwa den von Wirtschaftswachstum mit eingewachsenen Zehennägeln. Belgien habe nie „besser funktioniert als in der Zeit ohne Regierung“ (Seite 200).
Menasse teilt die Beamten der EU-Kommission ein in „Idealisten“, „Eitle“ und „Nicht-Idealisten“.
Er zeigt Missstände in einer netten, lesbaren Form auf, ohne ein echter EU-Gegner zu sein. Ein großartiges Buch, das sich noch mehr Preise als den zu Beginn zitierten deutschen Buchpreis verdient.
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