Die grünen Kinder – Bizarre Geschichten

Olga TOKARCZUK: Die grünen Kinder - Bizarre Geschichten. 2020.

Abstract

TOKARCZUK, Olga: „Die grünen Kinder – Bizarre Geschichten“, Zürich 2020
2019 bekam sie den Literatur-Nobelpreis. 2018 wurde dieses Buch erstmals in polnischer Sprache publiziert. Jetzt gab es auch eine deutsche Übersetzung. Es sind zehn Erzählungen. Die Autorin nennt sie „bizarre Geschichten“. Sie nimmt dabei Bezug auf die ständige Veränderung der Welt. Sowohl auf der Zeitachse, als auch geografisch wird der Leser in ihren Geschichten verführt. Die Geschichte, die dem Buch den Namen „Die grünen Kinder“ gab spielt im 17. Jahrhundert. Ein französischer Gelehrter ist zu Gast beim polnischen König und unternimmt mit diesem Reisen. Auf einer dieser Reisen durch kriegsgeschädigte Gebiete entdecken sie zwei Kinder, die in der Wildnis alleine aufwuchsen. Sie waren grün, wie das Moos des Waldes. Der Franzose verletzte sich und blieb in einem Gutshof mit den Kindern und seinem Diener zurück. Hier konnte er die Kinder untersuchen und studieren.
Ein Passagier in einem Transatlantikflug erzählt der Autorin, wie er die Angst vor einem Gespenst, vor dem er sich als Kind immer gefürchtet hatte, erst im Alter überwinden konnte.
Im Kapitel „Eingemachtes“ wird ein Mann vorgestellt, der noch mit 50 Jahren alleinstehend bei der Mutter wohnt. Sie wollte ihn loshaben „Alle jungen Vögel verlassen irgendwann ihr Nest, das ist der Lauf der Dinge, die Eltern haben sich ihre Erholung verdient. Überall in der Natur ist das so. Warum quälst du mich? Du solltest schon längst deine Sachen gepackt haben, ausgezogen sein und dein eigenes Leben leben.“ (Seite 49) Als die Mutter stirbt ist er auf sich alleine gestellt. Er durchsucht alles, findet aber keine Erbschaft, nur unzählige Einmachgläser. Von denen ernährt er sich weiter. Geht keiner Arbeit nach. Sitzt vor dem Fernseher mit Bier und den Einmachspeisen. Bis zum Ländermatch Polen gegen England, zu dem er marinierte Pilze aß. Das waren seine letzten. Er verstarb. Da er keine Familie hatte organisierten die Freundinnen der verstorbenen Mutter das Begräbnis.
In der Geschichte „Nähte“ geht es um einen Mann, einem Witwer, der alles anders sieht, als es in Realität ist:
• Die Socken haben Nähte von den Socken zum Bund hinauf.
• Briefmarken sind nicht rechteckig, sondern rund.
Das ihm die Zeit immer schneller vergeht erklärt ihm die Nachbarin so: „Das heißt, die Zeit vergeht nicht wirklich schneller, nur hat sich unser Denken abgenutzt, und deshalb begreifen wir die Zeit nicht mehr so wie früher. … Wir sind wie alte Sanduhren, wissen sie mein Lieber? … Da werden die Sandkörner, weil sie so oft schon durchgerieselt sind, ganz rund geschliffen, und dann rinnt der Sand immer schneller durch die Uhr. Alte Sanduhren gehen immer vor. … Genauso ist es mit unserem Nervensystem, es hat sich abgenutzt, es hat sich erschöpft, die Reize laufen hindurch wie durch einen Nudelseiher, deshalb kommt es uns so vor, als würde die Zeit schneller vergehen.“ (Seite 61/62)
Ein Besuch: Vier Frauen, sogenannte Egone, bekommen Besuch. Das Verhalten zwischen den Gastgebern, di e ein dreijähriges Kind haben, und zwei Besuchern wird beschrieben. Was allerdings Egone sind kann auch Google nicht herausfinden.
Unter dem Titel „Eine wahre Geschichte“ berichtet sie von einem Mediziner, der bei einem internationalen Kongress einen Vortrag hielt. Bis zum Galaempfang am Abend ging er in der Stadt spazieren und sah, wie eine Frau stürzte. Als Arzt kam er ihr zu Hilfe. Niemand half ihm. Als die Polizei kam und ihn blutverschmiert sah, nahmen sie ihn fest. Nach Eintreffen der Rettung ließ man ihn kurz los und er lief davon. Wie ein wildes Tier wurde er verfolgt beziehungsweise musste sich verstecken, kam nicht in sein Hotel hinein ….
In der Geschichte („Das Herz“) eines Ehepaares, das jedes Jahr den Winter im Fernen Osten verbringt und dem nordeuropäischen Winter entflieht bekommt der Mann in China ein neues Herz transplantiert. Im Folgejahr fliegen sie wieder nach China und in eine entlegene Gegend. Sie lernen ein Kloster in den Bergen kennen, das ihre Einstellung verändern sollte. Aber nicht wesentlich. Sie wechseln nur von China nach Thailand, um im Frühjahr wieder in die Heimat zurückzukehren.
Unter dem Titel „Transfugium“ wird erzählt, wie sich eine Frau in eine andere Welt transferieren lässt. Feierlich sollte es sein. Die Familie – die Eltern, die Halbschwester und ihre Kinder – kommt. Ein Arzt erklärt es. Eine Sciencefiction Geschichte.
Olga Tokarczuk vermischt gerne mehrere Geschichten in einer Erzählung. So auch im Bericht „Der Berg der Heiligen“. Den Rahmen gibt eine Psychologin, die mit ihren Computerprogrammen und Untersuchungen an Kindern ein Zukunftsszenarium über die Entwicklung der jeweiligen Testperson abgeben kann. „… mit hoher Wahrscheinlichkeit ließ sich vorhersagen, wie sich ein Mensch entwickeln, in welcher Weise sich seine Persönlichkeit ausformen würde.“ (Seite 151) Ein Schweizer Institut engagierte sie, um eine Gruppe Adoptivkinder zu untersuchen. Sie wohnt in einem Nonnenkloster, in dem eine Mumie eines Heiligen ausgestellt ist. Im 17. Jahrhundert hat ein findiger Papst damit begonnen Menschen aus den Katakomben als Heilige in die Welt zu verkaufen. So kam auch eine Mumie des Heiligen Auxentius in dieses Schweizer Kloster. Detailliert wird dieser „Heiligenhandel“ beschrieben.
„Bei „Kalender der menschlichen Feste“ wird über einen Monarchen (?) oder Heiligen(?) berichtet, der stirbt und wieder erwacht. Ein Team von Medizinern betreut ihn. Er ist schon über 300 Jahre alt. Er wurde vor 312 Jahren in der Wüste gefunden. Jährlich wird von seinem Tod und seinem Wiedererwachen im Fernsehen berichtet. Auch gibt es das Gerücht, dass er alle 70 bis 80 Jahre sein Geschlecht ändert. Die Geschichte wird aus der Sicht von Ion, einem Masseur des Heiligen berichtet. Das Land hat seine eigenen Feiertage. In jedem Jahr werden aus dem Volk Auserwählte selektiert, die dann gefeiert und dem Volk vorgestellt werden. Letztlich wird der Heilige gestohlen. Man drapiert eine Puppe und zeigt sie. Im Fernsehen überträgt man seine Erwachung aus dem Vorjahr. Eine Geschichte eines unrealen Landes und doch könnte es in jedem existierenden Land passieren.
Keine Geschichte ist wie die andere. Olga Tokarczuk entführt in unterschiedliche Geschichten – bizarre, wie sie es nennt.

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    Ein Passagier in einem Transatlantikflug erzählt der Autorin, wie er die Angst vor einem Gespenst, vor dem er sich als Kind immer gefürchtet hatte, erst im Alter überwinden konnte.
    Im Kapitel „Eingemachtes“ wird ein Mann vorgestellt, der noch mit 50 Jahren alleinstehend bei der Mutter wohnt. Sie wollte ihn loshaben „Alle jungen Vögel verlassen irgendwann ihr Nest, das ist der Lauf der Dinge, die Eltern haben sich ihre Erholung verdient. Überall in der Natur ist das so. Warum quälst du mich? Du solltest schon längst deine Sachen gepackt haben, ausgezogen sein und dein eigenes Leben leben.“ (Seite 49) Als die Mutter stirbt ist er auf sich alleine gestellt. Er durchsucht alles, findet aber keine Erbschaft, nur unzählige Einmachgläser. Von denen ernährt er sich weiter. Geht keiner Arbeit nach. Sitzt vor dem Fernseher mit Bier und den Einmachspeisen. Bis zum Ländermatch Polen gegen England, zu dem er marinierte Pilze aß. Das waren seine letzten. Er verstarb. Da er keine Familie hatte organisierten die Freundinnen der verstorbenen Mutter das Begräbnis.
    In der Geschichte „Nähte“ geht es um einen Mann, einem Witwer, der alles anders sieht, als es in Realität ist:
    •	Die Socken haben Nähte von den Socken zum Bund hinauf.
    •	Briefmarken sind nicht rechteckig, sondern rund.
    Das ihm die Zeit immer schneller vergeht erklärt ihm die Nachbarin so: „Das heißt, die Zeit vergeht nicht wirklich schneller, nur hat sich unser Denken abgenutzt, und deshalb begreifen wir die Zeit nicht mehr so wie früher. … Wir sind wie alte Sanduhren, wissen sie mein Lieber?  … Da werden die Sandkörner, weil sie so oft schon durchgerieselt sind, ganz rund geschliffen, und dann rinnt der Sand immer schneller durch die Uhr. Alte Sanduhren gehen immer vor. … Genauso ist es mit unserem Nervensystem, es hat sich abgenutzt, es hat sich erschöpft, die Reize laufen hindurch wie durch einen Nudelseiher, deshalb kommt es uns so vor, als würde die Zeit schneller vergehen.“ (Seite 61/62)
    Ein Besuch: Vier Frauen, sogenannte Egone, bekommen Besuch. Das Verhalten zwischen den Gastgebern, di e ein dreijähriges Kind haben, und zwei Besuchern wird beschrieben. Was allerdings Egone sind kann auch Google nicht herausfinden.
    Unter dem Titel „Eine wahre Geschichte“ berichtet sie von einem Mediziner, der bei einem internationalen Kongress einen Vortrag hielt. Bis zum Galaempfang am Abend ging er in der Stadt spazieren und sah, wie eine Frau stürzte. Als Arzt kam er ihr zu Hilfe. Niemand half ihm. Als die Polizei kam und ihn blutverschmiert sah, nahmen sie ihn fest. Nach Eintreffen der Rettung ließ man ihn kurz los und er lief davon. Wie ein wildes Tier wurde er verfolgt beziehungsweise musste sich verstecken, kam nicht in sein Hotel hinein ….
    In der Geschichte („Das Herz“) eines Ehepaares, das jedes Jahr den Winter im Fernen Osten verbringt und dem nordeuropäischen Winter entflieht bekommt der Mann in China ein neues Herz transplantiert. Im Folgejahr fliegen sie wieder nach China und in eine entlegene Gegend. Sie lernen ein Kloster in den Bergen kennen, das ihre Einstellung verändern sollte. Aber nicht wesentlich. Sie wechseln nur von China nach Thailand, um im Frühjahr wieder in die Heimat zurückzukehren.
    Unter dem Titel „Transfugium“ wird erzählt, wie sich eine Frau in eine andere Welt transferieren lässt. Feierlich sollte es sein. Die Familie – die Eltern, die Halbschwester und ihre Kinder – kommt. Ein Arzt erklärt es. Eine Sciencefiction Geschichte.
    Olga Tokarczuk vermischt gerne mehrere Geschichten in einer Erzählung. So auch im Bericht „Der Berg der Heiligen“. Den Rahmen gibt eine Psychologin, die mit ihren Computerprogrammen und Untersuchungen an Kindern ein Zukunftsszenarium über die Entwicklung der jeweiligen Testperson abgeben kann. „… mit hoher Wahrscheinlichkeit ließ sich vorhersagen, wie sich ein Mensch entwickeln, in welcher Weise sich seine Persönlichkeit ausformen würde.“ (Seite 151) Ein Schweizer Institut engagierte sie, um eine Gruppe Adoptivkinder zu untersuchen. Sie wohnt in einem Nonnenkloster, in dem eine Mumie eines Heiligen ausgestellt ist. Im 17. Jahrhundert hat ein findiger Papst damit begonnen Menschen aus den Katakomben als Heilige in die Welt zu verkaufen. So kam auch eine Mumie des Heiligen Auxentius in dieses Schweizer Kloster. Detailliert wird dieser „Heiligenhandel“ beschrieben.
    „Bei „Kalender der menschlichen Feste“ wird über einen Monarchen (?) oder Heiligen(?) berichtet, der stirbt und wieder erwacht. Ein Team von Medizinern betreut ihn. Er ist schon über 300 Jahre alt.  Er wurde vor 312 Jahren in der Wüste gefunden. Jährlich wird von seinem Tod und seinem Wiedererwachen im Fernsehen berichtet. Auch gibt es das Gerücht, dass er alle 70 bis 80 Jahre sein Geschlecht ändert. Die Geschichte wird aus der Sicht von Ion, einem Masseur des Heiligen berichtet. Das Land hat seine eigenen Feiertage. In jedem Jahr werden aus dem Volk Auserwählte selektiert, die dann gefeiert und dem Volk vorgestellt werden. Letztlich wird der Heilige gestohlen. Man drapiert eine Puppe und zeigt sie. Im Fernsehen überträgt man seine Erwachung aus dem Vorjahr. Eine Geschichte eines unrealen Landes und doch könnte es in jedem existierenden Land passieren.
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