Abstract
KIM, Anna: „Die gefrorene Zeit“, Wien 2008
Wieso schreibt eine Koreanerin über den Kosovo?
Sie schreibt noch dazu in Deutsch! In Wien hat sie studiert und kam mit der Vermisstensuche im Kosovo zusammen. Im Buch beschreibt sie einen jungen Mann, dessen ebenfalls noch junge Frau entführt wurde und nicht mehr auftauchte. Wurde sie ermordet? Oder hat sie so viel mitgemacht und wurde vergewaltigt, dass sie sich geniert und ihre Identität verändert hat?
Der Ehemann sucht sie mit Hilfe der Frau, die einige Jahre in der Vermisstensuche im Kosovo gearbeitet hat. Sie kehren gemeinsam zurück und suchen. Ein ehemaliger Kollege von ihr sucht und zeigt auch die Problematik der Fremden hie: „… tagelang nichts anderes tut als bloßhändig Erde aus Löchern zu schaufeln, Nachts heimlich in ein Kopfkissen weint …“ (Seite 125) Er muss dann Berichte schreiben, zu denen er selbst Abstand sucht um es seelisch zu überstehen: „Wie die Untersuchung ergab, wurde die Mehrheit der Gruppe durch Schüsse in Brust und Kopf getötet, manche zu Tode geprügelt. Man vermutet, dass sie auf der Flucht aufgegriffen und hingerichtet wurden.“ (Seite 129)
Die Frau wird gefunden und von den Verwandten begraben. Dabei kommt es wieder zu einem Dialog mit dem Tod: „Nie ist genug Zeit zu lernen, wie man das Leben verlässt.“ (Seite 131)
Letztendlich erschießt sich der Witwer.
Eine zeitgeschichtliche Beschreibung auf hohem literarischem Niveau. Moderne Literatur. Moderne Satzbauten.
„Gegenwart ist nützlich. Vergangenheit hört nie auf zu sein, sie ist ewig unnütz.“ (Seite 33)
„Flucht wäre möglich, wäre wünschenswert gewesen, das einzig Vernünftige in einem Krieg, der nicht deiner ist …“ (Seite 43)
„Nacht für Nacht sterbe ich, aber immer finde ich mich lebend wieder“ (Seite 64)
„Anwesende Abwesende, die Anwesenheit unerträglich dauerhaft, im Grunde besteht das Wesen dieser Existenz aus Anwesenheit trotz Abwesenheit.“ (Seite 113)
Man erfährt aber auch vieles Neues über das Land und deren Bräuche: „… dem Bräutigam als Hochzeitsgeschenk eine in Stroh gewickelte Kugel zu schenken zum Zeichen dafür, dass er seine Ehefrau töten dürfte, falls sie ungehorsam ist.“ (Seite 73/74)
Zum Wachstum des Landes: „Vor dem Krieg gab es dreizehn Häuser, nun sind es mehr als dreihundert“ (Seite 95)
Zur Stadt Prishtina: „Prishtina, Stadt, die keine ist: kein Stadtkern, nur zwei Hauptstraßen, die sich in der Stadtmitte schneiden. Die dominierende Form: Quader. Die dominierende Farbe: braunbeige. Im Überfluss: Sonnenlicht. Schatten muss von den Bewohnern selbst produziert werden, sie sind alle Schattensucher.“ (Seite 108)
Am Zaun des Regierungsgebäudes in Prishtina hängen die Hinterbliebenen die Bilder ihrer Vermissten auf. Kim weiß dazu: „Wäre der Vermisste nach seiner Rückkehr, sollte er sein Zaunfoto entdecken, in seiner Eitelkeit beleidigt, wäre es kein gutes? Würde er dann sagen: Warum habt ihr nicht das Bild genommen, das mich bei Sonnenuntergang zeigt, in einem dunkelgelb gefluteten Zimmer, in einem Licht, das Unzulänglichkeiten kaschiert?“ (Seite 105)
(Prishtina - Hinterbrühl, 22.02.2009)
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