Abstract
ERNAUX, Annie: „Der junge Mann“; Berlin 2023
Als frisch gekürte Nobelpreisträgerin erwartet das Lesevolk neue Bücher von ihr. Ein Druck, den sie mit der Auffrischung einer alten Geschichte nachkam. Die heute 83-jährige erzählt eine Geschichte, die sie mit Mitte 50 mit einem jungen Liebhaber gehabt hatte. Eigentlich ließ sie sich in dieses Verhältnis mit einem jungen Mann, der jünger als ihre eigenen Kinder war ein, um neue Energie zum Schreiben eines Buches zu bekommen. Die Beziehung wurde intensiver, als sich der Liebhaber von seiner gleichaltrigen Freundin trennte. Er wohnte in Rouen und sie übersiedelte jedes Wochenende in seine Wohnung, wo sie hauptsächlich dem gemeinsamen Sex frönten. Sie hatte seinerzeit in Rouen studiert und konnte ihm vieles zeigen und dabei selbst wieder ihre eigenen Jugenderinnerungen auffrischen. Er war für sie „die verkörperte Vergangenheit. Mit ihm durchlief ich alle Alter des Lebens, alle Alter meines Lebens.“ (Seite 21)
Die Art, wie der junge Mann lebte, erinnerte sie auch an die eigene Jugend. Sie kam aus einfachen Verhältnissen und änderte sich erst im Laufe des Lebens zu einem anderen Lebensstil. „Bei meinem Mann hatte ich mich als Proletin gefühlt, bei ihm war ich Bildungsbürgerin.“ (Seite 21) Der Liebhaber kam aus einfachen Verhältnissen und hatte wenig Geld. Er musste genau haushalten. Auch liebte er es nicht zu arbeiten und sie, die inzwischen erfolgreiche Schriftstellerin, finanzierte sein Leben. Sie machten viele Reisen. Es war eine sich ergänzende Partnerschaft: sie erlebte Sex, wie sie ihn in diesem Alter nicht mehr erwartete und er bekam ein finanziertes Dasein. „Man konnte unsere Beziehung als Zweckbeziehung sehen. Er bereitete mir Lust, und dank ihm erlebte ich Dinge, die noch einmal zu erleben ich nie geglaubt hätte. Dass ich ihn auf Reisen einlud und er sich meinetwegen keine Arbeit suchen musste, denn dann hätte er weniger Zeit für mich gehabt, erschien mir ein fairer Handel, ein gutes Geschäft, zumal ich diejenige war, die die Regeln bestimmte.“ (Seite 25)
Bei öffentlichen Auftritten wurden sie von den Menschen „anstößiger als ein homosexuelles Paar“ betrachtet. Sie fand es unfair, dass man einen älteren Mann mit einer jungen Freundin gesellschaftlich akzeptierte, dies aber einer älteren Frau nicht zugestand. Sex war aber doch kein lebensfüllendes Programm und man redete über vergangene Erlebnisse, wobei die Vergangenheit der Frau vor jener des jungen Mannes lag. „Mir war, als würde ich ewig leben und zugleich tot sein.“ (Seite 29)
Die Autorin begann die Beziehung, um einen Kick zum Schreiben eines Romans zu bekommen. Es war die Erzählung einer heimlichen Abtreibung. So wie sie das Ungeborene wegnehmen ließ, löste sie sich vom Liebhaber. „Als wollte ich ihn von mir lösen und abstoßen, so wie ich es gut dreißig Jahre zuvor mit dem Embryo getan hatte.“ (Seite 40) So schloss sich der Kreis: der Freund war weg, hatte seine Dienste getan und das neue Manuskript war fertig geschrieben.
Die vorliegende Geschichte ist aber nur ein schmaler Band mit 40 Seiten, so wie viele der Bücher von Annie Ernaux.
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