Abstract
EVERETT, Daniel: „Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Praha-Indianern am Amazonas“, München 2010
Ein guter Freund hatte mir das Buch schon mehrmals empfohlen. Ich hatte es auf meiner Wunschliste, konnte aber mit dem Titel nicht viel anfangen. Letztlich kaufte und las ich es doch und ich war begeistert. Ein amerikanischer Missionar übersiedelt mit seiner Familie – zwei kleinen Kindern und Frau – zu Indianern am Amazonas. Er versucht deren Sprache zu lernen. Seine Auftraggeber erwarten sich eine Bibelübersetzung in diese Sprache, um auf diese Art die Eingeborenen von ihrer Religion zu überzeugen.
Sieben Jahre hat der Wissenschaftler und Missionar bei den Indianern in einer Hütte in deren Dorf gelebt. Dabei musste er Abschied nehmen von einer westlichen Zivilisation und damit auch viele Risiken eingehen. Etwa, als seine Frau und ein Kind krank wurden. Niemand konnte in der Wildnis helfen. Der nächste Arzt war weit weg. Er versuchte sie mit dem Boot und zu Fuß in die nächste Stadt zu bringen. Fast wären sie dabei gestorben. Mühen, die wir in unserer zivilisierten Welt nicht kennen. Als Leser stellt man sich auch die Frag „Warum macht das ein Mensch, der aus einem gut entwickelten Land kommt?“
Als Linguist war es primär die Sprache, die ihn interessierte. Wobei sein Zugang ein anderer war. Er sah Sprache und Kultur als eine Einheit. Nur wer die Kultur einer Gesellschaft versteht, kann auch deren Sprache verstehen. Das Lachen ist so ein wichtiges Kulturgut. Die Einheimischen lachen über alles, auch wenn es traurig ist. „Sie lachen über ihr eigenes Missgeschick. Wenn ein Unwetter eine Hütte umlegt, lachen die Bewohner selbst darüber lauter als alle anderen. Sie lachen, wenn sie viele Fische gefangen haben. Sie lachen, wenn sie keine Fische gefangen haben. Sie lachen, wenn sie satt sind und sie lachen, wenn sie Hunger haben.“ (Seite 135)
Das große Problem ist es, dass ihre Sprache und ihr Denken nur die Gegenwart kennt. Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft. Sie leben im Jetzt. Nur was sie oder einer von ihnen selbst gesehen hat gilt. Alles Vergangene hat keine Bedeutung. Sie können daher an einen, vor langer Zeit verstorbenen Jesus nicht glauben. Ja, der Linguist findet keine Worte, wie er diese Vergangenheit, die heute keiner mehr selbst gesehen hat, beschreiben soll. „Alle Aussagen der Pirahä sind unmittelbar im Augenblick des Sprechens verankert und nicht zu irgendeinem anderen Zeitpunkt.“ (Seite 200) Sie legen auch keine Lebensmittelvorräte für die Zukunft an. Sie leben nur im Jetzt. In Träumen erscheinen ihnen Geister und Träume und Realität haben denselben Stellenwert. Sie haben keine Zahlen. Als Everett seine Kinder unterrichtete nahm er auch Einheimische in den Unterricht auf. Es war unmöglich ihnen das Zählen zu lernen. In einem Jahr konnten sie immer noch nicht von eins bis zehn zählen. Zahlen und Mengenangaben gibt es in ihrer Kultur nicht.
Die Erzählungen machen auch mit der Weite des Amazonasgebiets vertraut. „Der Amazonas fließt über fast 7000 Kilometer von Peru in den Atlantik. An der Mündung ist er etwa 250 Kilometer breit, und die Insel Marajo in seinem Delta ist etwa so groß wie die Schweiz. Viele indigene Völker leben hier. Eines davon sind die Pirahä. Nur mehr einige hundert Menschen sprechen ihre Sprache. Everett versucht diese zu dokumentieren und für die Nachwelt festzuhalten. Auch für ein Reservat der Pirahä setzt er sich ein.
Der zweite Teil des Buches widmet sich der Sprache. Es ist eine wissenschaftliche Abhandlung, die für Linguisten sicher von Bedeutung ist. Ich als Laie habe sie nur quergelesen.
Nicht die Sprache selbst, sondern die Kultur wurde dem Missionar zum Verhängnis. Sie sagten ihm, er solle seine „Ware anderswo verhökern“. Seine religiöse Botschaft habe für sie keinen Wert. „Es gibt bei den Pirahä kein Gefühl der Sünde und kein Bedürfnis, die Menschheit oder auch nur sich selbst – in Ordnung zu bringen. Im Großen und Ganzen akzeptiert man Dinge so wie sie sind. Vor dem Tod hat man keine Angst. Ihr Glaube ist der Glaube an sich selbst. Es war nicht das erste Mal, dass ich meine religiösen Überzeugungen in Frage gestellt hatte.“ (Seite 396) Nicht er, der Missionar, hat die Einheimischen bekehrt, sondern sie ihn. Er nennt es „Entkehrung“. Er war zwar ein anerkannter Linguist an großen amerikanischen Universitäten geworden, aber er verlor seine Familie und viele seiner Freunde durch diese Umkehr und Abkehr vom Glauben.
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